Die Polycythaemia vera (PV), eine klonale Erkrankung der hämatopoetischen Stammzelle, gehört zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN). Als häufigste genetische Veränderung bei der PV wurde eine Punktmutation, V617F, im Januskinase-2(JAK2)-Gen identifiziert, die bei ca. 95% der Patienten mit PV nachgewiesen wird. JAK2 spielt eine wichtige Rolle in der Erythropoese, und die Punktmutation V617F führt zu einer konstitutiven Aktivierung des JAK-STAT-Signalwegs in den hämatopoetischen Zellen. Das klinische Bild wird bestimmt durch eine gesteigerte, von Regulationsmechanismen der Hämatopoese unabhängige Proliferation der Erythropoese, aber auch anderer myeloischer Zellreihen. Die Mutation JAK2V617F ist jedoch weder spezifisch für die PV, noch gibt es gute Evidenz dafür, dass diese Mutation die PV auslöst (1, 2).
Die heute verfügbaren Therapiestrategien werden eingesetzt, um den Krankheitsverlauf der PV günstig zu beeinflussen. Ziel dabei ist vor allem, das deutlich gesteigerte Risiko für potenziell lebensbedrohliche arterielle und venöse thromboembolische Komplikationen zu senken und die Splenomegalie sowie die durch Zytokinfreisetzung bzw. Hyperviskosität ausgelösten Symptome (z.B. Pruritus, Müdigkeit, Schwindel) zu verhindern (1, 3). Darüber hinaus soll durch medikamentöse Therapien der Übergang der PV aus einer chronischen Phase, die mitunter länger als 20 Jahre bestehen kann, in eine progrediente Spätphase verzögert werden. Diese ist gekennzeichnet durch eine sekundäre Myelofibrose (Post-PV-Myelofibrose) oder einen Übergang in eine Myelodysplasie bzw. akute myeloische Leukämie. Die Therapiestrategien umfassen neben Aderlass und niedrig dosierter Azetylsalizylsäure (z.B. ASS 100 mg/d) bei ungenügendem Ansprechen (z.B. Hämatokrit = Hkt ≥ 45%, zunehmende Leuko- und/oder Thrombozytose, Splenomegalie) zytoreduktive Therapien. In Deutschland wird meist Hydroxyurea (Hydroxycarbamid) eingesetzt. In einer retrospektiven Auswertung einer großen Zahl von Patienten mit PV (n = 1.545) wurden anhand einer multivariaten Analyse das Alter (≥ 57 Jahre), die Zahl der Leukozyten ≥ 15 x 109/l und venöse Thrombosen als Risikofaktoren identifiziert, die das Überleben von Patienten mit PV ungünstig beeinflussen (2).
Ruxolitinib (Jakavi®) ist seit August 2012 zugelassen für die Behandlung der Splenomegalie oder anderer krankheitsbezogener Symptome bei erwachsenen Patienten mit primärer Myelofibrose (PMF) oder sekundärer Myelofibrose nach PV oder essentieller Thrombozythämie (vgl. 4). In einer offenen, randomisierten kontrollierten Studie (RCT) der Phase III – gesponsert von Incyte und Novartis – wurden jetzt Wirksamkeit und Sicherheit von Ruxolitinib gegenüber einer „besten verfügbaren Therapie“ (Best Available Therapy = BAT) bei Patienten mit PV untersucht. Die Patienten hatten zuvor auf eine Behandlung mit Hydroxyurea nicht ausreichend angesprochen oder Hydroxyurea musste wegen Nebenwirkungen abgesetzt werden (5). Insgesamt wurden 222 Patienten mit PV und Splenomegalie, die eine Aderlasstherapie zur Kontrolle des Hkt-Werts benötigten, in einem Verhältnis von 1:1 randomisiert. Sie erhielten entweder Ruxolitinib (Anfangsdosis zweimal 10 mg/d) oder nach Entscheidung des behandelnden Arztes eine BAT. Als BAT wurde bei knapp 60% der Patienten Hydroxyurea ausgewählt – meist in einer niedrigeren, suboptimalen Dosis, um Unverträglichkeit infolge von Nebenwirkungen zu vermeiden. Etwa 12% der Patienten erhielten Interferon (IFN-alpha oder pegIFN-alpha), und bei jeweils deutlich weniger als 10% der Patienten wurden Anagrelid, Immunmodulatoren (wie Lenalidomid oder Thalidomid) und Pipobroman eingesetzt, meist Off-Label. Alkylierende Zytostatika, wie Busulfan oder Chlorambucil, waren nicht erlaubt. Die Autoren erklären nicht, weshalb Busulfan, ein bei PV gut wirksames Arzneimittel (1), verboten wurde. Für ein leukämogenes Potenzial von Busulfan existiert keine gute Evidenz, auch nicht für Hydroxyurea (2).
Der kombinierte primäre Endpunkt der Studie war die erfolgreiche Kontrolle des Hkt-Werts (< 45%) und eine Abnahme des Milzvolumens um mindestens 35% in Woche 32 gegenüber dem Ausgangsbefund (Milzvolumen ermittelt mit Kernspin- oder Computertomographie). Die Berücksichtigung der prognostisch irrelevanten Milzgröße im primären Endpunkt, anstatt beispielweise der Leukozytenzahl, wurde in einem Leserbrief zu dieser Studie zu Recht kritisiert (6). Sekundäre Endpunkte umfassten den Anteil an Patienten mit primärem Ansprechen in Woche 32, das auch in Woche 48 noch nachweisbar war, und der Anteil an Patienten, die eine komplette hämatologische Remission (erforderlich: Hkt-Kontrolle, Thrombozyten ≤ 400 x 109/l und Leukozyten < 10 x 109/l) in Woche 32 erreichten. Weitere Endpunkte waren die Dauer des Ansprechens, die Reduktion von Krankheitssymptomen und die Sicherheit der medikamentösen Therapie.
Im Verlauf der Studie wechselten 96 Patienten (85,7%) in oder nach Woche 32 von der jeweiligen BAT zu Ruxolitinib, die meisten Patienten infolge unzureichender Wirksamkeit der verabreichten BAT. Ruxolitinib war der BAT signifikant überlegen sowohl im primären kombinierten Endpunkt (Ruxolitinib 20,9% vs. Standardtherapie 0,9% (p < 0,001) als auch in den sekundären Endpunkten wie Kontrolle des Hkt in Woche 32 (60% vs. 19,6%) und Reduktion des Milzvolumens (28,2% vs. 0,9%). Dementsprechend erfolgten deutlich weniger Aderlässe zwischen den Wochen 8 und 32 bei Patienten mit Ruxolitinib. Knapp 20% der Patienten mit Ruxolitinib vs. 62% der Patienten mit BAT benötigten wenigstens einen Aderlass. Wie bei Patienten mit Myelofibrose (vgl. 4) gibt es auch bei Patienten mit PV bisher keine Hinweise dafür, dass Ruxolitinib das Überleben verlängert oder den Übergang in eine Myelodysplasie oder akute myeloische Leukämie verzögert.
Die im Zusammenhang mit der PV auftretenden Symptome wurden unter anderem ausgewertet mittels des „Myeloproliferative Neoplasm Symptom Assessment Form“ (MPN-SAF)-Tagebuchs, das insgesamt 14 unterschiedliche Symptome erfasst, und anhand des häufig verwendeten Fragebogens zur Erfassung der Lebensqualität in der Onkologie (EORTC QLQ-C30). In Woche 32 fand sich bei 49% der mit Ruxolitinib und nur bei 5% der mit der Standardtherapie behandelten Patienten eine Abnahme um wenigstens 50% im Score des MPN-SAF. Gegenüber den Ausgangsbefunden wurden durch Ruxolitinib besonders günstig beeinflusst: Juckreiz, Nachtschweiß, Schwindel und Sättigungsgefühl bzw. abdominelle Beschwerden infolge Splenomegalie. Thromboembolische Ereignisse traten bis Woche 32 selten auf: unter Ruxolitinib bei einem und unter BAT bei sechs Patienten.
Unerwünschte Ereignisse wurden in dieser Studie nur bis zur Woche 32 ermittelt, da zu diesem Zeitpunkt die meisten Patienten anstelle der BAT Ruxolitinib einnahmen. Insgesamt waren bis Woche 32 schwere oder lebensbedrohliche unerwünschte Ereignisse (Grad 3 oder 4) – bewertet entsprechend den „Common Terminology Criteria for Adverse Events v3.0“ – in beiden Therapiearmen selten. Herpes Zoster Infektionen mit milder Symptomatik (Grad 1 oder 2) traten bei sieben der mit Ruxolitinib behandelten Patienten und bei keinem Patienten mit BAT auf. Insgesamt war auch die Rate an Infektionen unter Ruxolitinib (42%) gegenüber Standardtherapie (37%) häufiger; schwere Infektionen (Grad 3 oder 4) waren jedoch in beiden Gruppen mit 3,6% bzw. 2,7% selten. Das erhöhte Risiko für infektiöse Komplikationen ist auch bei Patienten mit Myelofibrose unter Therapie mit Ruxolitinib zu beobachten (vgl. 3) und sollte in zukünftigen klinischen Studien nach längerer Einnahme dieses JAK1/JAK2-Inhibitors gründlich analysiert werden. Verantwortlich hierfür sind vermutlich die inzwischen bekannten – und beispielsweise zur experimentellen Behandlung der akuten Graft-versus-Host-Erkrankung genutzten – immunsuppressiven bzw. antiinflammatorischen Wirkungen von Ruxolitinib (7). Sie werden erklärt vor allem durch eine Beeinträchtigung der Signaltransduktion über verschiedene Zytokinrezeptoren infolge Hemmung des JAK/STAT-Signalwegs durch Ruxolitinib (7). Anämie und Thrombozytopenie traten unter Ruxolitinib und Neutropenie häufiger unter BAT auf, meist jedoch nur mit Grad 1 oder 2. Vier Patienten unter Ruxolitinib und zwei Patienten unter BAT entwickelten Hautkrebs (Basalzellkarzinom oder Plattenepithelkarzinom).
Aufgrund der Ergebnisse der referierten Phase-III-Studie ist Ruxolitinib seit 2015 für die Behandlung von Erwachsenen mit PV zugelassen, die resistent oder intolerant gegenüber Hydroxyurea sind.
Fazit: In einer offenen, randomisierten kontrollierten Studie wurde bei vorbehandelten Patienten mit Polyzythaemia vera (PV) der JAK1/JAK2-Inhibitor Ruxolitinib verglichen mit einer vom behandelnden Arzt ausgewählten „besten verfügbaren Therapie“ (BAT). Ruxolitinib führte zu einer signifikant besseren Kontrolle des Hämatokrit-Werts, zur Abnahme der Milzgröße und Reduktion der Aderlässe sowie subjektiv beeinträchtigender Symptome, wie Juckreiz, Nachtschweiß und abdominelle Beschwerden. Die bei längerer Einnahme von Ruxolitinib auftretenden Nebenwirkungen, insbesondere das Risiko infektiöser Komplikationen, müssen künftig gründlich untersucht werden. Für die primäre Therapie von Patienten mit PV gelten weiterhin Hydroxyurea oder bei Unverträglichkeit Interferone bzw. Busulfan als Standardtherapie – beide Wirkstoffe in Deutschland allerdings im Off-Label-Use (1). Das in Anzeigen und in einer aktuellen Beilage für das Deutsche Ärzteblatt („THERAPIE aktuell“) von Novartis verbreitete Motto – „Mit Jakavi zurück ins Leben!“ bzw. „Zielgerichtete Behandlung mit Ruxolitinib“ – erscheint uns unbegründet und auch unseriös.
Literatur
- Vannucchi,A.M.: Blood 2014, 124, 3212. Link zur Quelle
- Tefferi,A., et al.: Leukemia 2013, 27, 1874. Link zur Quelle
- AMB1997, 31, 07 Link zur Quelle . AMB 2002, 36, 60a Link zur Quelle . AMB 2004, 38, 38. Link zur Quelle
- AMB2012, 46, 93 Link zur Quelle . AMB 2013, 47, 30b Link zur Quelle . AMB 2015, 49, 15b. Link zur Quelle
- Vannucchi,A.M., et al. (RESPONSE = Randomized study of efficacy and safety in polycythemia verawith JAK inhibitor INC424 versus best supportive care): N. Engl. J. Med. 2015, 372,426. Link zur Quelle
- Hasselbalch,H.C., und Bjørn, M.E.: N. Engl. J. Med. 2015, 372, 1670. Link zur Quelle
- Holtan,S.G., et al.: Blood 2014, 124, 363. Link zur Quelle