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Übermedikalisierung ist unethisch und oft gefährlich

Mit einem Zitat von Ivan Illich, dem renommierten Philosophen, Schriftsteller und Medizinkritiker: „The medical establishment has become a major threat to health“ startete vor 15 Jahren das British Medical Journal eine Serie mit auch heute noch lesenswerten Artikeln zum Thema: „Too much medicine“ und dem Untertitel: „Almost certainly“ (1). Inzwischen haben sich sowohl in Nordamerika als auch in Europa viele medizinische Fachgesellschaften mit den Problemen der Überversorgung in der Diagnostik und Therapie beschäftigt und Empfehlungen ausgesprochen mit dem Ziel, diese Probleme besser in den Griff zu bekommen. Diese – zumindest teilweise – evidenzbasierten Empfehlungen wurden betitelt wie folgt: „Choosing wisely“ (2), „Too much medicine“ (3), „Smart medicine“ bzw. „Nachhaltige Medizin“ (4) und zuletzt in Deutschland von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin mit „Klug entscheiden“ (5). Der Grundgedanke dieser Initiativen ist die ärztliche Erfahrung, dass in (nicht seltenen) Fällen diagnostische Abklärungen und Behandlungen von Patienten nicht nur entbehrlich sind, sondern sogar schädlich sein können (6).

Diesem wichtigen Thema widmete sich jetzt auch der australische Hausarzt und Professor für Evidenzbasierte Medizin Paul Glasziou in der Hufeland Lecture 2016 beim 50. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in Frankfurt. Sein Vortrag unter dem Titel: „Der Tatsache ins Auge sehen: Wir Ärzte tun zu viel“ wurde kürzlich in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin abgedruckt und beschreibt an Beispielen Haupttypen der Überdiagnostik infolge Übererkennung, Überdefinition und Übermedikalisierung (7). Glasziou beklagt zu Recht, dass heute viel zu viele, für das Leben der Menschen irrelevante Diagnosen gestellt werden (Überdiagnose durch Übererkennung), dass Interventionsschwellen immer weiter in Richtung Krankheit verschoben und dadurch immer mehr Menschen therapiebedürftig werden (Überdefinition) und dass menschliche Normvarianten oder altersbedingte Funktionsstörungen zu Krankheiten gemacht werden (Übermedikalisierung).

Als typisches Beispiel für die Übererkennung wird die Zunahme bestimmter Krebsarten durch formelle oder informelle Screening-Programme genannt. So wurden Schilddrüsen-Krebserkrankungen in Südkorea zwischen 1999-2011 durch die flächendeckende Anwendung von Ultraschall-Vorsorgeuntersuchungen 15mal häufiger diagnostiziert und operiert, und in Deutschland stieg die jährliche Inzidenz von Prostatakrebs zwischen 1998 und 2010 von 40.000 auf rund 65.000. In beiden Fällen habe jedoch die vermehrte „Erkennung“ nicht zu einer Minderung der Mortalität geführt. Entweder, weil die Diagnose unzutreffend war oder harmlose Vorstufen behandelt wurden oder die Patienten einen Schaden von den ergriffenen therapeutischen Maßnahmen hatten. Aber auch viele nicht-onkologische Zufallsdiagnosen führten zu ungerechtfertigten Interventionen. So würden zunehmend häufiger bei laborchemischen Untersuchungen oder bildgebenden Verfahren Diagnosen gestellt, die für die Patienten keine Bedeutung haben, aber bei ihnen Verunsicherung auslösen und zu ungerechtfertigtem Aktionismus führen (serielle Nachuntersuchungen, Operationen). Hier werden als Beispiele genannt asymptomatische zerebrale Anomalien (Gefäßanomalien, Zysten oder Hypophysenveränderungen) und Gelenkdegenerationen (Bandscheibenvorfälle, Abrisse der Rotatorenmanschette oder Meniskusschäden), die im Rahmen von CT oder MRT-Untersuchungen mit anderen Fragestellungen auffallen.

Als Beispiel für Überdefinition wird von Paul Glasziou das Senken der Diabetes-definierenden Nüchternblutzucker-Werte genannt. Das Herabsetzen der Schwelle von 140 auf 126 mg/dl durch die amerikanische Diabetes-Fachgesellschaft im Jahre 2003 führte über Nacht zu Millionen neuen Patienten. Auch die Erschaffung neuer Unterkategorien („Prädiabetes“) erhöhe die Zahl der Menschen, bei denen medizinische Interventionen scheinbar erforderlich werden. Da diese „Prä-Erkrankten“ immer Grenzfälle mit einem deutlich geringeren Risiko seien, schade man diesen Menschen mit einer Therapie oft mehr statt ihnen zu helfen. Auch die Einführung neuer, sensitiverer Testverfahren (z.B. Troponin-Tests) führe fast immer zu einer Ausweitung der behandlungsbedürftigen Population.

Als Beispiele für Übermedikalisierung werden in erster Linie psychiatrische Diagnosen genannt. Während Homosexualität oder die „Trauer um den Verlust eines Ehepartners“ im DSM (Diagnostic and Statistical Manual for Psychiatry) heute selbstverständlich nicht mehr als Krankheit gelten, wurde eine „verminderte sexuelle Appetenz der Frau“ in der 5. Fassung des DSM neu als Krankheit aufgenommen (10; vgl. 11). Als weitere Beispiele für Übermedikalisierung werden die Pathologisierung altersnormaler Prozesse genannt, wie der Verlust an Knochenmasse, gering erniedrigte Testosteron-Spiegel oder geringe Abnahme kognitiver Funktionen (vgl. 12). Diese fragwürdigen Definitionen werden in aller Regel von Experten vorgenommen, die finanzielle Interessenkonflikte haben mit den am Thema aus ökonomischen Gründen interessierten pharmazeutischen Unternehmern bzw. Herstellern von Medizinprodukten.

Übererkennung, Überdefinition und Übermedikalisierung schaden mitunter aber nicht nur den betroffenen Menschen, sondern führen aus Sicht von Paul Glasziou auch zu einer ungerechten Verteilung begrenzter Ressourcen innerhalb des gesamten Gesundheitssystems. Durch die Verschwendung wichtiger Ressourcen (Zeit, Geld, OP- und Geräteleistungen) würden Patienten, die medizinische Leistungen dringend benötigen, beispielweise durch lange Wartezeiten benachteiligt. Die Vermeidung von „Übermedizin“ ist also nicht nur medizinisch sinnvoll (Primum non nocere!), sondern auch ethisch gerechtfertigt, denn sie steht dem übergeordneten Ziel des Gesundheitswesens – eine qualitativ hochstehende und gleichzeitig finanzierbare Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung – entgegen.

Welche Maßnahmen gegen die Übermedizin schlägt Glasziou vor? Vorsorgeuntersuchungen sollten nur dann angeboten und durchgeführt werden, wenn es eindeutige Belege für eine positive Nutzen-Risiko-Relation gibt (vgl. 8). Alle Screening-Programme müssen also sorgsam evaluiert werden. Es muss allen klar sein, dass Screening-Programme nicht per se indiziert sind, sondern teilweise erhebliche unerwünschte Effekte haben. Vorsorgeuntersuchungen müssten auf die relevanten Altersgruppen begrenzt werden und die Intervalle zwischen den Tests sollten zeitlich so weit wie möglich auseinander liegen, um die Wahrscheinlichkeit von Übererkennung zu vermindern. Gremien, die Krankheiten und Schwellenwerte definieren, dürften generell keine Interessenkonflikte mit der involvierten Industrie haben und den Empfehlungen müsse stets eine strenge Analyse von Nutzen und Schaden zu Grunde liegen. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat 2017 deshalb auch klare Empfehlungen für den Umgang mit Interessenkonflikten bei der Ausarbeitung von „Choosing-Wisely-Listen“ erarbeitet (9).

Am Ende seien es aber die Hausärzte, die als „Gatekeeper“ und Koordinatoren medizinischer Leistungen die Patienten vor unnötigen Untersuchungen und Interventionen schützen und für mehr (Verteilungs)Gerechtigkeit im Gesundheitswesen sorgen müssen. Hierzu benötigen diese – neben einer fundierten Ausbildung, einem kritischen Geist und einer Sensibilisierung für die Problematik – Werkzeuge, um Patienten korrekt beraten zu können. Die Empfehlungen in den verschiedenen oben erwähnten Initiativen können hierfür hilfreich sein, denn sie benennen unnötige diagnostische Maßnahmen und Interventionen. Ganz wesentlich ist aber aus unserer Sicht, dass Patienten in alle Entscheidungen zu geplanten und unterlassenen medizinischen Maßnahmen aktiv einbezogen werden im Sinne einer „shared decision“. Dabei sollten die im Gespräch mit Patienten vermittelten Informationen über den Nutzen und die Risiken einer Diagnostik bzw. Behandlung neutral und verständlich sein und auch zwischen einer optimalen und einer maximalen Versorgung unterscheiden (4). Hierin liegt eine vorrangige Aufgabe für die Ärztinnen und Ärzte dieses Jahrhunderts.

Literatur

  1. Moynihan, R., und Smith, R.: BMJ 2002, 324, 859. Link zur Quelle

  2. http://www.choosingwisely.org/clinician-lists/ Link zur Quelle

  3. http://www.bmj.com/too-much-medicine Link zur Quelle

  4. https://www.samw.ch/de/Publikationen/Positionspapiere.html Link zur Quelle

  5. https://www.dgim.de/… Link zur Quelle

  6. Gerber, B.: Schweizerische Ärztezeitung 2014, 95, 1/2. Link zur Quelle

  7. Glasziou, P.: ZfA 2017, 93, 245. Link zur Quelle

  8. Mühlhauser, I.: Unsinn Vorsorgemedizin. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2017.

  9. https://www.samw.ch/de/Publikationen/Empfehlungen.html Link zur Quelle

  10. https://www.appi.org/ Diagnostic_and_Statistical_Manual _of_Mental_Disorders_DSM-5_Fifth_Edition Link zur Quelle

  11. AMB 2016, 50, 20. Link zur Quelle

  12. AMB 2016, 50, 59 Link zur Quelle. AMB 2017, 51, 44. Link zur Quelle