Die hohen Preise onkologischer Arzneimittel sind in den letzten Jahren häufig kritisch kommentiert worden – insbesondere deshalb, weil neue Wirkstoffe das Überleben von Tumorpatienten häufig nicht oder nur marginal verlängern und ihre Lebensqualität nicht verbessern (1; vgl. 2). Die Hälfte von 30 neuen onkologischen Arzneimitteln in Deutschland kostet pro Patient jährlich mehr als 100.000 €, wie der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) Josef Hecken bei einem Symposium zu Ehren unseres Mitherausgebers Wolf-Dieter Ludwig darlegte (3). Nur 10 der 30 Mittel führten zu einer Verlängerung des Überlebens um fünf Monate, die übrigen brächten nur zwischen vier Wochen und drei Monaten, teils mit erheblichen Nebenwirkungen. Die pharmazeutischen Unternehmer (pU) begründen die teilweise exorbitanten Kosten unter anderem mit den hohen Ausgaben für die Forschung und Entwicklung (F&E) neuer Wirkstoffe. Laut einer Untersuchung des US-amerikanischen „Tufts Center for the Study of Drug Development“, dessen Etat zu 25% von pU getragen wird, betragen die Investitionen fast 2,7 Mrd. US$ (ca. 2,2 Mrd. €) bis zur Zulassung eines Arzneimittels (4). Nun zeigt eine Untersuchung der Hämato-/Onkologen Vinay Prasad und Sham Mailankody, dass die Kosten für F&E deutlich niedriger sind (5).
Die Wissenschaftler analysierten alle neuen Wirkstoffe, die zwischen Januar 2006 und Dezember 2015 in den USA von der Food and Drug Administration (FDA) für onkologische Indikationen zugelassen worden waren. Ausgewählt wurden 10 pU, die zum Zeitpunkt der Zulassung ihres onkologischen Wirkstoffs keine anderen Arzneimittel in den Markt gebracht hatten. Für diese 10 onkologischen Arzneimittel verwendeten sie die Angaben zu Kosten, die die Unternehmer bei der US-amerikanischen „Securities and Exchange Commission“ (SEC) deklariert hatten, einer Aufsichtsbehörde für die Kontrolle des Wertpapierhandels in den Vereinigten Staaten. Weil die pU zu diesem Zeitpunkt nur ein einziges Arzneimittel entwickelt hatten, konnten die Angaben mit den Kosten für F&E gleichgesetzt werden.
Die Wirkstoffe von 5 der 10 Arzneimittel hatten die pU selbst entwickelt, während die anderen 5 eingekauft worden waren, z.B. von Start-up-Firmen. Die pU benötigten im Median 7,3 Jahre, um ein Arzneimittel zur Zulassung zu bringen (Spanne 6-15 Jahre). Die Hälfte der Arzneimittel hatte einen neuen Wirkmechanismus, bei der anderen Hälfte bestanden keine deutlichen Unterschiede zu bereits eingeführten Präparaten („Me-too-Präparate“).
Die Entwicklungskosten betrugen im Median 648 Mill. US$ (ca. 548 Mill. €; Spanne 157,3-1.950,8 Mill. US$) und damit ungefähr nur ein Viertel des in der Tufts University Center-Studie behaupteten Summe. Die Kosten für Wirkstoffe, deren Entwicklung bis hin zur Marktreife scheiterte, sind in diesem Betrag bereits eingeschlossen. Arzneimittel mit einem selbst entwickelten Wirkstoff und einem neuen Wirkmechanismus waren teurer als Arzneimittel mit eingekauftem Wirkstoff und einem nur leicht veränderten Wirkmechanismus.
Den Investitionen stehen die Einnahmen gegenüber, die sich im Median 4 Jahre nach der Zulassung auf im Median 1.658,4 Mill. US$ beliefen (Spanne 204,1-22.275,0 Mill. US$). Gerechnet wurde vom Zeitpunkt der Zulassung bis Dezember 2016 oder bis das Unternehmen bzw. die Lizenz für den Wirkstoff verkauft wurde − die Einnahmen werden in den folgenden Jahren noch steigen. Für die 10 Arzneimittel insgesamt betrugen die Kosten für F&E 7,2 Mrd. US$, die Einnahmen dagegen insgesamt 67 Mrd. US$. Für 9 der 10 Arzneimittel lagen die Einnahmen deutlich höher als die Investitionen, für vier sogar zehnfach höher. So verdiente beispielsweise der pU mit dem Inhibitor der Bruton-Tyrosinkinase Ibrutinib (Imbruvica®) mehr als 22 Mrd. US$ bei Entwicklungskosten von 328 Mill. US$ (vgl. 6).
Die Autoren weisen auf Einschränkungen ihrer Analyse hin: So war die Zahl der untersuchten Wirkstoffe gering und umfasste nur etwa 15% der im o.g. Zeitraum von der FDA zugelassenen onkologischen Arzneimittel. In anderen Anwendungsgebieten als der Onkologie sei die Entwicklung von Arzneimitteln aus biologischen Gründen (z.B. pathophysiologische Ursachen unklar) möglicherweise schwieriger, z.B. bei Morbus Alzheimer. Darüber hinaus seien die hohen Preise für onkologische Arzneimittel nicht auf alle anderen Fachdisziplinen der Medizin übertragbar.
In einem begleitenden Editorial stellt Merill Goozner Zahlen für ein anderes, sehr teures Arzneimittel dar: Sofosbuvir (Sovaldi®) zur Behandlung der Hepatitis C (7). Der Wirkstoff wurde von einem Start-up-Unternehmen für 315 Mill. US$ entwickelt, teils unterstützt durch öffentliche Gelder. Im Jahr 2011 wurde das Start-up, einschließlich des vielversprechenden Sofosbuvir nach Phase-II-Studien, für 11 Mrd. US$ an den pU Gilead Sciences verkauft, der die Kosten bis zur Marktzulassung aufbringen musste (8). Die gesamten Entwicklungskosten dürften in der Größenordnung liegen, die Prasad und Mailankody für onkologische Arzneimittel berechnet haben. Allein im ersten Quartal 2017 hat Gilead mit Sofosbuvir 2,6 Mrd. US$ eingenommen − mehr als dreimal so viel wie die geschätzten Kosten für F&E.
Fazit: Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass die Entwicklung von onkologischen Arzneimitteln deutlich günstiger ist, als häufig von pharmazeutischen Unternehmern behauptet wird. Die Ergebnisse bestätigen erneut, dass sich die gegenwärtige Preispolitik der pU nicht durch die tatsächlichen Kosten für Forschung und Entwicklung rechtfertigen lässt und dass den Arzneimittelpreisen Grenzen gesetzt werden können, ohne den medizinischen Fortschritt zu gefährden.
Literatur
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AMB 2013, 47, 33. Link zur Quelle
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Cohen, D.: BMJ 2017, 359, j4543. Link zur Quelle
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http://www.sueddeutsche.de/ gesundheit/medizin-krebsmedikamente-milliarden-fuer- wenig-wirkung-1.3661520 Link zur Quelle
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DiMasi, J.A., et al.: J. Health Econ. 2016, 47, 20. Link zur Quelle
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Prasad, V. und Mailankody, S.: JAMA Intern. Med. 2017. Published online September 11. doi:10.1001/jamainternmed.2017.3601. Link zur Quelle
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AMB 2014, 48, 59 Link zur Quelle . AMB 2015, 49, 02 Link zur Quelle . AMB 2015, 49, 68b. Link zur Quelle
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Goozner, M.: JAMA Intern. Med. published online September 11, 2017. doi:10.1001/jamainternmed.2017.4997. Link zur Quelle
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Roy, V., und King, L.: BMJ 2016, 354, i3718. Link zur Quelle