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Medizinische Zweitmeinung

Eine medizinische Zweitmeinung (ZM) kann ein wichtiger Beitrag sein, um die Indikationsstellung zu verbessern und ggf. unnötige Eingriffe bzw. Therapien zu vermeiden. Gleichzeitig kann eine ZM auch als eine Hilfe zur informierten Entscheidung („Shared Decision Making“) angesehen werden, indem der Patient stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen wird (1). Seit 2015 haben gesetzlich Krankenversicherte in Deutschland einen Rechtsanspruch auf eine unabhängige ärztliche ZM. Das vorrangige Ziel dieser Gesetzgebung war, die starken regionalen Unterschiede bei bestimmten operativen Eingriffen zu beseitigen. Im Sozialgesetzbuch heißt es wörtlich: „Versicherte, bei denen die Indikation zu einem planbaren Eingriff gestellt wird, bei dem insbesondere im Hinblick auf die zahlenmäßige Entwicklung seiner Durchführung die Gefahr einer Indikationsausweitung nicht auszuschließen ist, haben Anspruch darauf, eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung bei einem Arzt oder einer Einrichtung nach Absatz 3 einzuholen“ (2). Viele Krankenkassen (KK) bezahlen entsprechend eine medizinische ZM nur bei bestimmten Erkrankungen, besonders bei Eingriffen an Wirbelsäule, Hüfte, Knie oder Schulter sowie bei onkologischen Fragen (Kataloge auf den Webseiten der KK einsehbar).

Ein Teil der KK bietet den Versicherten einen ZM-Service über Online-Portale an, andere vermitteln einen Termin bei kooperierenden Spezialisten (3). Der Zweitgutachter rechnet seine Beratungsleistung mit der KK direkt ab oder mit dem Patienten, der fallweise einen Zuschuss von seiner KK erhält.

Versorgungsforscher vom Institut für Forschung in der operativen Medizin (IFOM) an der Universität Witten/Herdecke und der Medizinischen Hochschule Brandenburg haben sich nun die Daten eines kommerziellen ZM-Portals (Medexo GmbH) angesehen und ausgewertet (4). Die Daten wurden dem IFOM von Medexo GmbH zur Verfügung gestellt, und die Auswertung erfolgte mit finanzieller Unterstützung dieser Firma. Das ZM-Portal bzw. seine Mitarbeiter hatten keinerlei Möglichkeiten, Einfluss auf die Analysen zu nehmen.

Bei diesem ZM-Portal können Patienten aus eigener Initiative, telefonisch oder per E-Mail, eine ZM einholen. Sie schicken ihre Befunde an die Medexo GmbH und erhalten innerhalb einer zugesicherten Bearbeitungszeit nach Aktenlage eine Einschätzung durch einen „unabhängigen“ Experten. Ob und welche Interessenkonflikte diese Experten haben, ist auf der Webseite des Anbieters nicht ersichtlich. Ein direkter Kontakt zwischen Arzt und Patienten findet normalerweise nicht statt. Die Kosten des ZM-Gutachtens belaufen sich für Selbstzahler auf minimal 500 € (4).

Ergebnisse: Der Analyse des IFOM liegen 1.414 „Fälle“ zugrunde. Im Durchschnitt erhielten die Patienten ihre ZM nach 5 Tagen. In den meisten Fällen handelte es sich um orthopädische Fragestellungen (Knie- 37%, Rücken- 27%, Hüft- 11% und Schultererkrankungen 10%). Das mittlere Alter der ratsuchenden Patienten betrug 58 Jahre, 54% waren Männer.

Die Erstempfehlung zur Diagnose bzw. der Therapievorschlag wurde in 35,2% der Fälle bestätigt und in 64,8% nicht bestätigt. Die größten Diskrepanzen zwischen Erst- und Zweitmeinung fanden sich bei Schulter- (81,5%), Knie- (73,8%) und Rückenerkrankungen (68,3%). Bei den übrigen medizinischen Indikationen lag die Diskrepanz unter 50%.

Eine weitere Analyse des IFOM befasste sich mit der Zufriedenheit der Patienten. Dies wurde bei 377 Patienten (26% aller) durch einen Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität (SF-12) nach 1, 3 und 6 Monaten erhoben. Mit der ZM sehr zufrieden waren 44% der Befragten und 44% zufrieden. Dass die ZM ihre Therapieentscheidung unterstützt bzw. sehr unterstützt hat, gaben 64% an, und 59% teilten mit, dass sie sich für den durch die ZM vorgeschlagenen Weg entschieden haben. Nach Erhalt der ZM hatten 40% der Befragten noch eine weitere Meinung eingeholt.

Diskussion: Die Aussagekraft dieser Untersuchung wird durch verschiedene Faktoren wesentlich eingeschränkt. So handelt es sich um eine unkontrollierte Analyse retrospektiver Daten, deren Herkunft zudem problematisch ist. Die Daten wurden durch die Firma selbst erfasst und zur Verfügung gestellt. Die Unabhängigkeit der Experten ist unklar, und sie haben die Erstempfehlung gekannt, was einen Einfluss auf ihr Gutachten gehabt haben könnte.

Um die Qualität sowie den klinischen und ökonomischen Wert einer ZM abschätzen zu können, wäre ein Monitoring der ZM-Portale erforderlich (z.B. Stichprobenkontrollen durch die KK) sowie prospektive kontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten.

Trotzdem sind diese Zahlen beachtenswert, nicht nur, weil es eine der ersten Auswertungen medizinischer ZM in Deutschland ist. Insbesondere bei orthopädischen Eingriffen scheint eine hohe Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitmeinung vorzuliegen. In den USA gibt es schon länger ZM-Programme bestimmter KK (Best Doctors Inc.; 5). Eine Auswertung von 6.791 Fällen dieser Plattform aus den Jahren 2011-2012 ergab, dass die ZM bei 37% zu einer Änderung der Behandlung und bei 14% zu einer Änderung der Diagnose führte (6). Dabei waren deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Disziplinen festzustellen. Die ZM führte unterdurchschnittlich häufig zu einer Therapieänderung bei Fragen aus der Inneren Medizin (16,1%), der allgemeinen Chirurgie (18,6%), und der Augenheilkunde (22,1%), während sie in den Spezialgebieten Thoraxchirurgie (52,1%), Kolon- und Rektumchirurgie (50%) und Geburtshilfe und Gynäkologie (40,9%) überdurchschnittlich häufig zu einer Therapieänderung führte. Orthopädische Fragestellungen lagen im Durchschnitt (34,6% Behandlungsänderung). Die Übereinstimmung zwischen Erst- und Zweitmeinung variierte stark zwischen den Experten und auch die Kenntnis der Erstmeinung hatte einen relevanten Einfluss auf die ZM. Dies weist darauf hin, dass der ZM-Prozess kritisch begleitet werden muss und auch hierfür Standards notwendig sind: Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Experten, Orientierung und Argumentation an Hand der Leitlinien und der lokalen Gegebenheiten.

Fazit: Eine medizinische Zweitmeinung kann ein wichtiger Beitrag sein, eine gesundheitliche Entscheidung mit noch besserer Information zu treffen. Patienten, die eine Zweitmeinung einholen, sind mit diesem Vorgehen großteils zufrieden. Analysen der Ergebnisse von Zweitmeinungsprogrammen ergeben, dass die zweite Meinung bei mindestens einem Drittel der Fälle zu einer Veränderung der Behandlung führt, wobei die Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitmeinung – abhängig von den Fachdisziplinen und den Fragestellungen – stark variiert. Ob ein strukturiertes Zweitmeinungsprogramm über die Zufriedenheit der Patienten hinaus auch die Behandlungs- und Versorgungsqualität verbessert, ist unklar. Diese Frage sollte in kontrollierten Studien weiter untersucht werden.

Literatur

  1. Weyerstraß, J., et al.: Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundhwes. 2018, 133, 46. Link zur Quelle
  2. Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland § 27b SGB V Absatz 1. Link zur Quelle
  3. Ärztliche Zweitmeinung: Was die Krankenkasse zahlt. Link zur Quelle (Zugriff am 14.6.2018).
  4. https://medexo.com/ihre-zweitmeinung/haeufige-fragen/ (Zugriff am 14.6.2018). Link zur Quelle
  5. https://bestdoctors.com/ (Zugriff am 14.6.2018). Link zur Quelle
  6. Meyer, A.N., et al.: Am. J. Med. 2015, 128, 1138. Link zur Quelle