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Patienten mit leichter Hypertonie ohne weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren: Zweifel am Nutzen einer medikamentösen Therapie

Die Entscheidung, wann bei einem Patienten eine blutdrucksenkende Arzneimitteltherapie beginnen sollte, ist nicht immer einfach ─ insbesondere bei Patienten, deren Charakteristika nicht gut in klinischen Studien vertreten sind. Dazu gehören Patienten mit einer leichten Hypertonie (RR 140/90-159/99 mm Hg), die keine weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren haben. Randomisierte Studien zum Nutzen einer antihypertensiven Arzneimitteltherapie bei diesen Patienten sind kaum durchführbar, weil kardiovaskuläre Ereignisse bei ihnen selten sind und die Studienpopulation sehr groß sein müsste, um Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten Patienten feststellen zu können. Aufgrund der unsichere Datenlage widersprechen sich die Empfehlungen in aktuellen Leitlinien zur Therapie: Während die Leitlinie amerikanischer Fachgesellschaften empfiehlt, bei allen Patienten mit einem Blutdruck von ≥ 140/90 mm Hg unabhängig vom kardiovaskulären Risiko eine medikamentöse Behandlung zu beginnen, empfiehlt die Leitlinie europäischer Fachgesellschaften bei Patienten mit einem Blutdruck von 140-159/90-99 mm Hg nur bei erhöhtem kardiovaskulärem Risiko einen sofortigen Beginn der Arzneimitteltherapie (vgl. 1, 2). Für die anderen Patienten wird empfohlen, über 3-6 Monate zu versuchen, durch Änderung des Lebensstils eine Senkung des Blutdrucks zu erreichen.

Um die Evidenz zu verbessern, wurde nun in einer großen retrospektiven Kohortenstudie in Großbritannien untersucht, ob Erwachsene mit leichter Hypertonie, die ein geringes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse haben, von einer antihypertensiven Arzneimitteltherapie profitieren (3). Die Untersuchung wurde mit staatlichen Forschungsgeldern durchgeführt.

Für diese Studie wurden Informationen aus einer Datenbank ausgewertet, die anonymisierte Angaben aus elektronischen Patientenakten enthält und für die Bevölkerung in Großbritannien repräsentativ ist. Informationen zu Patienten im Alter von 18-74 Jahren mit unbehandelter, leichter Hypertonie (definiert als drei aufeinander folgende Blutdruckwerte von 140-159/90-99 mm Hg innerhalb von 12 Monaten) wurden über den Zeitraum vom 1.1.1998 bis zum 30.9.2015 extrahiert. Patienten mit einer kardiovaskulären Erkrankung in der Vorgeschichte oder kardiovaskulären Risikofaktoren wurden ausgeschlossen. Als Exposition wurde die Verschreibung von Antihypertensiva definiert. Die Gesamtsterblichkeit wurde als primärer Endpunkt festgelegt; zu den sekundären Endpunkten gehörte Tod oder Hospitalisierung durch kardiovaskuläre Ereignisse wie Myokardinfarkt und Schlaganfall sowie Hospitalisierung aufgrund von Nebenwirkungen der Medikation.

Insgesamt wurden 19.143 Patienten, denen Antihypertensiva verschrieben worden waren, ebenso vielen ähnlichen Patienten ohne Verschreibung zugeordnet. In beiden Gruppen lag das Durchschnittsalter bei ca. 55 Jahren; etwas mehr als die Hälfte waren Frauen. Während der medianen Beobachtungsdauer von 5,8 Jahren starben insgesamt 1.641 Patienten. Die Gesamtsterblichkeit betrug 4,08% in der Gruppe der unbehandelten Patienten und 4,49% in der Gruppe der behandelten Patienten (Hazard Ratio = HR: 1,02; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,88-1,17). Ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer antihypertensiven Behandlung und einem kardiovaskulären Ereignis zeigte sich ebenfalls nicht (HR: 1,09; CI: 0,95-1,25). Eine antihypertensive Therapie war jedoch mit einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen verbunden, einschließlich Hypotonie (Number Needed to Harm nach 10 Jahren = NNH10: 41; CI: 24-93) und Synkope (NNH10: 35; CI: 20-100). Daneben traten vermehrt Elektrolytstörungen (NNH10: 111; CI: 49-687) und akute Nierenschädigung auf (NNH10: 91; CI: 39-14.552).

Bei der Interpretation der Studienergebnisse sollte beachtet werden, dass sich der Nutzen einer antihypertensiven Behandlung möglicherweise erst nach einer längeren Beobachtungsdauer zeigt. Außerdem konnte nicht festgestellt werden, ob die Patienten tatsächlich das Rezept eingelöst und die Arzneimittel eingenommen haben.

Fazit: In einer großen retrospektiven Kohortenstudie zeigte sich bei Patienten mit einer leichten Hypertonie (RR: 140/90-159/99 mm Hg) ohne weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren zwischen antihypertensiv Behandelten und Unbehandelten kein Unterschied in der Gesamtsterblichkeit und bei kardiovaskulären Ereignissen. Es traten bei behandelten Patienten jedoch vermehrt Nebenwirkungen auf. Wie in der Leitlinie europäischer Fachgesellschaften beschrieben, sollte diesen Patienten primär eine Änderung des Lebensstils empfohlen werden, die insbesondere jüngere Patienten möglicherweise auch einer langjährigen Arzneimitteltherapie vorziehen.

Literatur

  1. AMB 2018, 52, 76. Link zur Quelle
  2. Williams, B., et al.: Eur. Heart J. 2018, 39, 3021. Link zur Quelle
  3. Sheppard, J.P., et al.: JAMA Intern. Med. 2018, 178, 1626. Link zur Quelle