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„Weißkittel-Effekt“ in der Klinik – ist eine intensivere antihypertensive Behandlung sinnvoll?

Patienten mit arterieller Hypertonie, haben – wie jeder Gesunde mit normalem Blutdruck – in Stresssituationen fast immer einen höheren Blutdruck (RR). Ein Aufenthalt in der Rettungsstelle, eine stationäre Aufnahme, ja sogar allein die Präsenz eines Arztes oder RR-Messgeräts reichen bei manchen Menschen aus, um den Blutdruck zu erhöhen, bekannt als „Weißkittel-Effekt“.

Retrospektive Studien kamen zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte aller stationär behandelten Patienten bei Entlassung eine Veränderung ihrer zuvor bestehenden Hausarzt-Medikation erfahren, im Durchschnitt bei vier bis fünf Medikamenten, darunter auch Antihypertensiva (1, 2).

Eine medikamentöse Senkung erhöhter RR-Werte in der Klinik kann dazu führen, dass Patienten, die in ihre häusliche Umgebung zurückkommen, übertherapiert sind mit möglicherweise negativen Folgen. Die zuvor bestehende ambulante Medikation ist nicht selten das Ergebnis eines langen Prozesses aus Dosisfindung, Verträglichkeitsprüfung und Motivationsarbeit durch den Hausarzt. Mit den Folgen solcher Therapieänderungen durch die Ärzte im Krankenhaus hat sich bisher kaum eine Studie befasst (3).

In einer aktuellen retrospektiven US-amerikanischen Kohortenstudie wurden Patienten ≥ 65 Jahre, die in den Jahren 2011 bis 2013 aus nichtkardialer Ursache stationär aufgenommen worden waren, im Hinblick auf eine veränderte antihypertensive Entlassungsmedikation überprüft (4). Die Frage war, wie häufig eine Intensivierung der RR-senkenden Medikation bei stationär erhöht gemessenen Werten stattfindet und ob bestimmte Komorbiditäten die Entscheidung zur Intensivierung der antihypertensiven Therapie beeinflussen. Alle eingeschlossenen Patienten waren im Therapieprogramm der US Veterans Affairs, d.h. sie wurden sowohl ambulant als auch stationär in derselben Institution behandelt, so dass einheitliche Therapiestandards bestanden und keine Informationen verloren gingen. Patienten mit stationärem Aufenthalt innerhalb der letzten 30 Tage vor Einschluss in die Studie oder solche, die in einer anderen Institution als die der Veterans Affairs behandelt worden waren, wurden ausgeschlossen.

Patienten mit gesicherter arterieller Hypertonie wurden in die Studie einbezogen, wenn sie wegen Pneumonie, Harnwegsinfekt oder venöser Thromboembolie stationär aufgenommen und mit derselben Diagnose auch wieder entlassen worden waren. Kamen bis zur Entlassung neue Diagnosen hinzu, wie z.B. Vorhofflimmern oder andere kardiovaskuläre Erkrankungen, wurden die Patienten ausgeschlossen. Es sollten nur Patienten mit akuten Erkrankungen ausgewertet werden, bei denen ein strenges RR-Regime nicht das primäre Therapieziel war und bei denen die aktuell nötige Therapie wenig Einfluss auf die Höhe des RR hatte.

Primärer Endpunkt war die Erweiterung der Entlassungsmedikation um ein oder mehrere Antihypertensiva im Vergleich zur Hausarzt-Medikation. Es konnten alle Antihypertensiva eingesetzt werden, außer Schleifendiuretika und Alpha-1-Blocker, weil diese häufig auch für andere Indikationen angewendet werden, z.B. als Diuretikum bei Ödemen oder bei Prostatahyperplasie. Als ambulante Dauermedikation galt eine Verschreibung, die einen Bedarf über einen Zeitraum von mindestens 60 Tagen abdeckte. Nach der Entlassung wurde die ambulante Weiterverordnung der zusätzlichen Medikamente innerhalb von 4 Tagen überprüft. Als Dosissteigerung wurde eine Verordnung von einer um mindestens 20% höheren Dosis im Vergleich zur Vormedikation bewertet.

Die Mediane der RR-Werte der letzten drei ambulanten Messungen vor dem stationären Aufenthalt wurden zum Vergleich herangezogen. Dabei galt ein systolischer Wert < 140 mm Hg und ein diastolischer < 90 mm Hg als normal.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 14.915 Patienten (überwiegend Männer) eingeschlossen; diese waren im Median 76 Jahre alt, und die meisten hatten mehrere Komorbiditäten. Die Hälfte der aufgenommenen Patienten hatte als Aufnahmeindikation eine Pneumonie, 38% Harnwegsinfektionen und 10% venöse Thromboembolien. Zum Aufnahmezeitpunkt nahmen die Patienten nur ein Antihypertensivum ein. Von den untersuchten Patienten hatten 65% ambulant einen gut eingestellten (< 140/90 mm Hg), 32% einen hohen (140-179/90-99 mm Hg) und 2% einen sehr hohen Blutdruck (> 180/100 mm Hg). Stationär wurde dann bei 19% ein moderat erhöhter RR (> 160 mm Hg bei ≥ 3 Messungen) und bei 5% ein sehr hoher RR (> 180 mm Hg bei ≥ 3 Messungen) festgestellt. Etwa die Hälfte (47%) der Patienten mit erhöhtem RR in der Klinik hatten ambulant eine gut eingestellte Hypertonie.

Etwa 14% der Patienten wurden mit einer intensivierten antihypertensiven Therapie entlassen. Bei 9% wurde ein zusätzliches Antihypertensivum verordnet und bei 2% mehrere zusätzliche Antihypertensiva; 4% wurden mit einer höheren Dosis von mindestens einem vorbestehenden Antihypertensivum entlassen. Von den Patienten mit intensivierter antihypertensiver Therapie hatten 52% vor dem Klinikaufenthalt einen ambulant gut eingestellten Hochdruck.

Die berechnete Wahrscheinlichkeit für eine Steigerung der Blutdruck-Medikation betrug 40% (95%-Konfidenzintervall = CI: 34-46) bei stark erhöhten RR-Werten in der Klinik, 24% (CI: 21-26%) bei moderat erhöhten und 8% (CI: 7-9%) bei normalen RR-Werten in der Klinik. Die berechneten Wahrscheinlichkeiten waren unabhängig von den betrachteten Komorbiditäten, auch wenn diese ein zusätzliches Risikopotenzial beinhalteten, wie z.B. weitere kardiovaskuläre Erkrankungen. Die Ergebnisse waren nahezu unverändert, wenn Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz von der Analyse ausgeschlossen wurden. Erkrankungen mit schlechter Prognose, wie metastasierte Malignome oder Demenz, hatten keinen Einfluss auf das Verschreibungsverhalten.

Werden in den Kliniken also nur Messwerte behandelt und nicht Patienten in ihrer individuellen Situation? Leitlinien nehmen nicht dezidiert Stellung zur Vorgehensweise bei Patienten, die stationär erhöhte, aber außerklinisch normotensive bzw. bei Hypertonie gut eingestellte Blutdruckwerte haben (5). Patienten sind in der Klinik verständlicherweise subjektiv stärkeren Stressfaktoren ausgesetzt. Der Weißkittel-Effekt ist ein sehr häufiges Phänomen (6); nach einer größeren Statistik ist es besonders ausgeprägt bei Patienten ≥ 70 Jahre und unabhängig vom Geschlecht (7).

Wenn Patienten ambulant schlecht versorgt sind, dürfte von einer stationären Einstellung auf Antihypertensiva ein Vorteil zu erwarten sein. Bei Patienten mit akuten Erkrankungen, besonders bei Älteren, bestehen durch die intensivierte antihypertensive Therapie jedoch zusätzliche Risiken wie Stürze, Verwirrtheit, orthostatische Hypotonie sowie Interaktionen mit Medikamenten, die für die akute Erkrankung eingesetzt werden. Wir haben darüber wiederholt berichtet (8). Die Autoren geben daher die Empfehlung, bei auffälligen RR-Werten zunächst Kontakt mit dem Hausarzt aufzunehmen, um über die Sinnhaftigkeit einer Intensivierung der antihypertensiven Therapie zu diskutieren bzw. diese Entscheidung überhaupt dem Hausarzt zu überlassen. Dieser Meinung schließen wir uns an.

Fazit: In einer retrospektiven Kohortenstudie zeigte sich, dass jeder 7. Patient trotz zuvor guter ambulanter Hypertonie-Einstellung mit einer intensivierten antihypertensiven Therapie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Der Nutzen dieses Vorgehens ist fragwürdig und ist mit relevanten Risiken verbunden (Stürze, Verwirrtheit, orthostatische Hypotonie, Interaktionen). Erst nach Kommunikation mit dem Hausarzt sollte über eine Intensivierung der antihypertensiven Medikation entschieden werden.

Literatur

  1. Unroe, K.T., et al.: Am. J. Geriatr. Pharmacother. 2010, 8, 115. Link zur Quelle
  2. Harris, C.M., et al.: J. Patient Saf. 2013, 9, 150. Link zur Quelle
  3. Kwan, J.L., et al.: Ann. Intern. Med. 2013, 158, 397. Link zur Quelle
  4. Anderson, T.S., et al.: BMJ 2018, 362, k3503. Link zur Quelle
  5. Whelton, P.K., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2018, 71, e127. Link zur Quelle
  6. Franklin, S.S., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2016, 68, 2033. Link zur Quelle
  7. Conen, D., et al.: Hypertension 2014, 64, 1073. Link zur Quelle
  8. AMB 2013, 47, 79. Link zur Quelle