Kalziumantagonisten (KA) zählen nach nationalen und internationalen Leitlinien zu den primären medikamentösen Therapieoptionen bei arterieller Hypertonie (1-3). Sie haben ein günstiges Nebenwirkungsprofil und erfordern keine Überwachung spezieller Laborparameter (4). Wegen der relativ hohen Sicherheit werden sie bei > 65-Jährigen häufig verordnet (4). Zu den wichtigsten Nebenwirkungen zählen Obstipation und Flush und bei 2-25% der Behandelten periphere Ödeme. Sie beruhen auf einer Flüssigkeitsumverteilung im Körper und sind nicht Ausdruck einer generalisierten Flüssigkeitsretention. Inzidenz und Ausmaß sind abhängig von der Dosis, dem KA-Typ und der Therapiedauer. Amlodipin ist von dieser Nebenwirkung zahlenmäßig besonders betroffen, weil es der am häufigsten verordnete KA ist. Arzneimittelinduzierte Ödeme können zum Absetzen des KA zwingen, aber auch zu einer zusätzlichen Verordnung eines Diuretikums führen und somit zu einer „Verschreibungskaskade“ (4-6). Diuretika wirken bei KA-induzierten Ödemen jedoch kaum und können bei Patienten, besonders wenn sie nicht überwässert sind, zu Exsikkose, Stürzen und Elektrolytverschiebungen führen sowie die Nierenfunktion und kognitive Fähigkeiten verschlechtern (5-8). Eine Verordnung von Arzneimitteln zur Besserung von Nebenwirkungen anderer Arzneimittel ist eine besonders problematische Form der Polypharmakotherapie, die Patienten gefährden kann und zu vermeidbaren Kosten führt (9, 10). Zu Ödemen unter Behandlung mit KA gab es bisher nur eine Beobachtungsstudie (11).
In einer kürzlich im JAMA veröffentlichten bevölkerungsbasierten, retrospektiven Kohortenstudie aus Kanada wurden Patienten ≥ 66 Jahre mit arterieller Hypertonie auf die Frage hin untersucht, wie häufig die Neuverordnung eines KA im Verlauf von 90 Tagen zu einer anschließenden Verschreibung eines Schleifendiuretikums (SD) führt (12). Die Daten, die sich auf Neuverordnungen von Antihypertensiva bezogen, wurden den Unterlagen des öffentlichen Gesundheitswesens in der besonders dicht besiedelten Region Ontario über die Jahre 2011-2016 entnommen.
Studiendesign: Es wurden 41.086 Patienten eingeschlossen, denen neu ein KA verordnet worden war: Amlodipin (79,6%), Diltiazem (9,6%), Nifedipin (9,1%), Felodipin (0,9%), Verapamil (0,9%). Zum Vergleich wurden zwei Kontrollgruppen (KG) herangezogen: KG 1 umfasste 66.494 Patienten, die einen ACE-Hemmer (ACEH) oder einen Angiotensin-II-Rezeptorblocker (AT-II-RB) neu verordnet bekommen hatten; in KG 2 waren 231.439 Patienten mit neu verordneten Antihypertensiva anderer Wirkstoffklassen. Eine Verordnung galt als neu, wenn das Antihypertensivum innerhalb des letzten Jahres vor dem Beobachtungszeitraum nicht verschrieben worden war. Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz, fortgeschrittener Niereninsuffizienz oder Vormedikation von Diuretika innerhalb des letzten Jahres wurden von den Analysen ausgeschlossen. Als primärer Studienendpunkt wurde die Neuverordnung eines SD gewählt, in der Regel Furosemid, da es im Gegensatz zu Hydrochlorothiazid keine eigenständige Indikation als Antihypertensivum hat, sondern in diesem speziellen Studiendesign den Bedarf an einem primär diuretisch wirkenden Arzneimittel unterstreicht. Weitere Endpunkte waren die Beendigung der KA-Therapie, stationäre Aufnahme oder Tod. Sekundärer Endpunkt war die Verordnung eines weiteren Diuretikums zusätzlich zu Furosemid, wie Amilorid, Chlortalidon, Hydrochlorothiazid, Indapamid, Triamteren, Eplerenon oder Spironolacton.
Ergebnisse: Die drei Kollektive stimmten in wesentlichen demografischen und klinischen Daten überein. Die Patient(inn)en waren im Mittel 74,5 ± 6,9 Jahre alt, und 56,5% waren Frauen. In der KA-Gruppe waren mehr Patienten mit Niereninsuffizienz: 7,5% vs. 5,3% in KG 1 und 4,4% in KG 2.
Unter Behandlung mit einem KA wurde signifikant häufiger zusätzlich ein SD verordnet: 90 Tage nach der Ersteinnahme eines KA betrug die kumulative Inzidenz für die Verordnung eines SD 1,4% vs. 0,7% in KG 1 und 0,5% in KG 2 (p < 0,001). Das Risiko, unter KA ein SD verschrieben zu bekommen, war im Vergleich zu ACEH und AT-II-RB schon in den ersten 30 Tagen um 60% höher: Hazard Ratio = HR: 1,68; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,38-2,05. Nach 31-60 Tagen stieg die HR auf 2,26 (CI: 1,76-2,92) und nach 61-90 Tagen auf 2,40 (CI: 1,84-3,13). Im Vergleich zu KG 2 (Antihypertensiva anderer Wirkstoffklassen) war die Wahrscheinlichkeit unter KA im ersten Monat bereits mehr als doppelt so hoch, im 3. Monat fast vervierfacht: HR: 2,51 (CI: 2,13-2,96) nach 1-30 Tagen, HR: 2,99 (CI: 2,43-3,69) nach 31-60 Tagen und HR: 3,89 (CI: 3,11-4,87) nach 61-90 Tagen.
Auch andere Diuretika wurden häufiger in der KA-Kohorte verordnet: 4,5% vs. 3,4% in KG1 bzw. 1,0% in KG2 (p < 0,001). Diese Mehrverordnung von Diuretika hielt über einen Beobachtungszeitraum von bis zu einem Jahr an und war dosisabhängig. Nach Sensitivitätsanalysen ging die Verordnung von Amlodipin seltener mit der Neuverordnung eines Diuretikums einher. Die Ergebnisse waren im Übrigen bei beiden Geschlechtern gleich, obwohl Frauen statistisch häufiger von KA-induzierten Beinödemen betroffen sind als Männer (13).
Dass Nebenwirkungen eines Medikaments nicht als solche erkannt werden oder als falsche Reaktion ein weiteres Medikament zur Behandlung der Nebenwirkung verordnet wird, ist ein klinisch relevantes Problem. Solche Verordnungskaskaden müssen nach Möglichkeit vermieden werden. Rational wäre ein Wechsel auf ein anderes Antihypertensivum, oder falls eine mehrfache antihypertensive Therapie erforderlich ist, die Kombination mit einem ACEH oder AT-II-RB. Diese Kombination scheint sowohl Inzidenz als auch Schwere KA-induzierter Ödeme zu reduzieren (14).
Wir haben generelle Aspekte der Polypharmakotherapie und Probleme von Verschreibungskaskaden wiederholt thematisiert und an die Möglichkeiten des „Deprescribing“ appelliert (15). Unsere Einschätzung teilen auch die beiden Autoren eines begleitenden Kommentars (16).
Fazit: In dieser retrospektiven Kohortenstudie hatten Hypertoniker, die mit einem Kalziumantagonisten behandelt wurden, eine um 60% höhere Wahrscheinlichkeit wegen neu aufgetretener peripherer Ödeme zusätzlich ein (Schleifen-)Diuretikum zu erhalten, als Patienten, die ein anderes Antihypertensivum erhalten hatten. Diuretika sind in dieser Situation oft wenig hilfreich und durchaus riskant. Besser wäre es, die gesamte antihypertensive (Kombinations)-Therapie neu zu überdenken.
Literatur
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