Der Alkoholentzug lässt sich in 3 Phasen unterteilen: Die körperliche Entgiftung, die Postakut- und die chronische Phase (1). Ziel der Akutphase ist es, Komplikationen durch das Alkoholentzugssyndrom (AES) zu vermeiden. Bis zu 35% der alkoholabhängigen Patienten entwickeln innerhalb von 6-24 h nach Weglassen des Alkohols ein AES. Die Symptome reichen von Unwohlsein und psychomotorischer Unruhe über Schwitzen, Tachykardie und Blutdruckanstieg bis hin zu Übelkeit, Erbrechen, vegetativen Entgleisungen, Orientierungsstörungen und Halluzinationen (Delir) sowie generalisierten Krampfanfällen. Der Schweregrad eines AES wird anhand von Symptomskalen wie dem CIWA-AR (Clinical Institute Withdrawal Assessment for Alcohol-Revised Scale) bestimmt. Dabei werden 10 Symptome bewertet. Ein Gesamtscore bis 8 gilt als mildes, 9-15 als moderates und > 15 als schweres AES (2).
Neben klinischer Überwachung und unterstützenden Behandlungsmaßnahmen werden bei der körperlichen Entgiftung auch Arzneimittel angewendet. Mit ihnen sollen die Symptome des AES gemildert und Deliren vorgebeugt werden (vgl. 3). In der mittlerweile abgelaufenen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ werden hierzu in erster Linie Benzodiazepine (z.B. Oxazepam, Empfehlungsgrad A) sowie Clomethiazol (Empfehlungsgrad B) empfohlen, wobei Komorbiditäten und vielfältige Nebenwirkungen und Nachteile dieser Wirkstoffe berücksichtigt werden müssen (1). Auch Antikonvulsiva spielen in der Leitlinie eine Rolle (Empfehlungsgrad 0), in erster Linie zur Prophylaxe epileptischer Anfälle (Empfehlungsgrad B).
Primäres Ziel der nahtlos anzuschließenden Postakutbehandlung ist die Abstinenz, sekundäres Therapieziel ist die Reduktion des Konsums (Empfehlungsgrad A). Rückfälle sind häufig, nach einem Jahr trinken 70-80% erneut (4). Zur Rückfallprophylaxe soll eine „Komplexbehandlung“ erfolgen, die u.a. aus Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe sowie sozialen und beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen besteht (1). Außerdem soll den Betroffenen eine „medikamentöse Unterstützung“ im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden. In der Leitlinie werden der Glutamat-Rezeptor-Inhibitor Acamprostat oder der Opioid-Antagonist Naltrexon genannt (Empfehlungsgrad B). Nach einer Metaanalyse von 122 randomisierten kontrollierten Studien (RCT) aus dem Jahre 2014 ist die Wirksamkeit dieser Arzneimittel hinsichtlich des Behandlungsziels Abstinenz jedoch nur als mäßig einzuschätzen (5). Demnach beträgt die Number Needed to Treat (NNT) zur Verhinderung eines Rückfalls für Acamprosat 12 und für Naltrexon 20. Entsprechend werden beide Arzneimittel hierzulande kaum verordnet. Es wird vermutet, dass stattdessen häufiger Antikonvulsiva, wie Topiramat und Gabapentin oder das Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Derivat Baclofen verschrieben werden (6).
Es gibt Überlegungen, wonach ein andauerndes, subtiles AES für die hohen Rückfallquoten mitverantwortlich ist. Leichte Formen mit Ängstlichkeit, Erregbarkeit, Dysphorie und Konzentrationsstörungen können offenbar über Wochen nach dem Absetzen anhalten. Eine längere medikamentöse Behandlung dieses AES könnte also hilfreich sein, die Rückfallgefahr zu senken.
Das AES soll über Störungen im GABA- und Glutamat-Stoffwechsel des Gehirns unterhalten werden. Gabapentin interagiert mit dem GABA- und Glutamatstoffwechsel und kann – off label – bei der Akutbehandlung leichter und moderater AES-Formen eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 0). Es gibt Hinweise aus mehreren kleineren Studien, dass eine längerfristige Gabe von Gabapentin die Rückfallgefahr senkt und besonders bei Patienten mit einer AES-Vorgeschichte wirksam ist (7).
Nun wurde im JAMA Intern. Med. ein kleines plazebokontrolliertes RCT mit 4-monatiger Gabapentin-Behandlung bei Alkoholikern mit mildem AES veröffentlicht (8). Die Studie wurde in Charleston in South Carolina durchgeführt und durch öffentliche Gelder finanziert. Interessenkonflikte der Autoren mit den Herstellern dieses patentfreien Wirkstoffs sind nicht erkennbar.
Studiendesign: Eingeschlossen wurden Alkoholiker, die 3 Tage abstinent waren (Kontrolle mittels Exhalationstest und Urinanalyse) und ein mildes AES hatten (CIWA-AR-Score < 10). Schwerere Formen waren ausgeschlossen, da diese nicht mit Gabapentin allein behandelt werden sollen. Die Rekrutierung der Studienteilnehmer erfolgte über öffentliche Annoncen. Interessenten mussten mindestens 5 Drinks pro Tag in den vorausgegangenen 90 Tagen konsumiert haben (ein Drink wurde in dieser Studie mit 14 g Alkohol berechnet; 5 Drinks entsprechen etwa 222 ml Schnaps, 1,77 l Bier oder 0,74 l Wein). Ausgeschlossen waren u.a. Patienten mit einer Vorgeschichte mit Alkoholentzugsanfällen, Major Depression oder bipolaren Erkrankungen, einer zusätzlichen Substanzabhängigkeit oder mit Einnahme von weiteren psychoaktiven Arzneimitteln, wobei Antidepressiva erlaubt waren.
Die Teilnehmer erhielten über 16 Wochen entweder Gabapentin in steigender Dosis (Erhaltungsdosis 1200 mg/d) oder Plazebo. Zudem erhielten alle bei den 9 geplanten Visiten eine kurze (15-20 Minuten) „klinische Unterstützung“ durch das medizinische Personal, mit dem Ziel, die Alkoholabstinenz und die Therapieadhärenz zu erhöhen. Eine strukturierte „Komplexintervention“ war im Studienprotokoll nicht vorgesehen. Primärer Studienendpunkt war der Anteil der Teilnehmer ohne Rauschtrinken (Definition: ≥ 4 Drinks/d für Frauen bzw. ≥ 5 Drinks/d für Männer), ermittelt über Selbstauskunft und Bestimmung von CDT-Werten im Blut (kohlenhydratdefizientes Transferrin), einem Marker für starken Alkoholkonsum. Sekundäre Endpunkte waren u.a. der Anteil der Teilnehmer, die völlig abstinent waren und die Verträglichkeit der Gabapentin-Behandlung.
Insgesamt 145 Interessenten wurden gescreent und willigten in die Studie ein. Davon wurden 49 nach der Basisuntersuchung ausgeschlossen, weil sie ihre Einwilligung zurückzogen, die Einschlusskriterien nicht erfüllten oder Ausschlusskriterien hatten. Von den 96 randomisierten Teilnehmern erhielten 50 Plazebo und 46 Verum. Es gingen 4 im Plazebo- und 2 im Gabapentin-Arm in der Nachbeobachtungszeit verloren oder hatten frühe Protokollverletzungen, sodass nur 90 (46/44) in die Intention-to-treat-Analyse eingingen. Das mittlere Alter betrug 49,6 Jahre, 77% waren Männer, 94% hatten weiße Hautfarbe, 70% waren berufstätig. Diese Charakteristika weisen auf einen erheblichen Selektionsbias hin (vermutlich sozial gut abgesicherte, motivierte weiße Männer). Die mittlere Zahl der täglichen Drinks vor dem Entzug betrug 11, was etwa 0,49 l Schnaps, 3,9 l Bier bzw. 1,6 l Wein pro Tag entspricht. Es gaben 82% an, sich regelmäßig in den Rausch zu trinken, und 28% wurden zuvor schon einmal wegen ihrer Alkoholabhängigkeit behandelt. Die Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Randomisierung durchschnittlich 4 Tage abstinent.
Ergebnisse: Im Gabapentin-Arm hatten über 16 Wochen signifikant mehr Teilnehmer keinen neuerlichen Alkoholrausch (21% versus 4%; p = 0,02; NNT: 5,4) oder waren vollständig abstinent (18% vs. 4%; p = 0,04; NNT: 7,2). Eine Analyse der 47 Teilnehmer, die die Studienmedikation durchgehend eingenommen hatten, zeigte einen noch größeren Effekt: hinsichtlich neuerlicher Alkoholexzesse betrug die NNT 2,4 und bezüglich vollständiger Abstinenz 3,9. Weitere Sensitivitätsanalysen zeigten, dass in erster Linie die Teilnehmer mit schwererem AES von der Gabapentin-Behandlung zu profitieren scheinen. Die Verträglichkeit von Gabapentin war etwa gleich wie Plazebo, wobei die Teilnehmerzahl viel zu gering ist, um hier seriöse Aussagen machen zu können (Virusinfekte werden bei 10% beschrieben). Berichtet wurden etwas vermehrt Schwindel, Nervosität und Kopfschmerzen in der Verum-Gruppe.
Kritik: Die Studie hat zu wenige Teilnehmer, und die Nachbeobachtungszeit ist zu kurz, um einen nachhaltigen Nutzen von Gabapentin hinsichtlich der Abstinenz nachzuweisen. Zudem besteht ein bedeutsamer Selektionsbias, was Verallgemeinerungen auf andere häufig vom Alkoholismus betroffene Personengruppen wie Frauen, sozial Benachteiligte oder Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen oder Multisubstanz-Missbrauch nicht erlaubt. Es ist auch keine strukturierte Komplexbehandlung im Hintergrund erfolgt, was die enorm hohe Rückfallquote im Plazebo-Arm erklären könnte (96%). Eine weitere Kritik trifft das geprüfte Arzneimittel. Die Anwendung bei Alkoholkrankheit ist eine weitere von vielen „Off-label“-Anwendungen von Gabapentin (u.a. Fibromyalgie, postoperativer Schmerz, chronischer Juckreiz, Restless legs, „social anxiety disorders“, vasomotorische Symptome in der Menopause, chronischer Husten). Eine Zulassung hat dieses Arzneimittel nur für zwei Indikationen: Epilepsie und neuropathischer Schmerz (diabetische und postherpetische Neuralgie). Trotzdem gehörte es in Deutschland mit 1,8 Mio. Verordnungen im Jahre 2018 zu den 75 am häufigsten verordneten Wirkstoffen (9). Außerdem wird in der Fachinformation von Gabapentin vor Missbrauch und Abhängigkeit gewarnt (10). Wegen seines Abhängigkeitspotentials sollte Gabapentin nur unter engmaschiger Kontrolle seiner therapeutischen Wirksamkeit und Überwachung der Verschreibungen über einen begrenzten Zeitraum eingesetzt werden (11).
Fazit: Rückfälle nach Alkoholentzug sind sehr häufig. Diese kleine Studie legt nahe, dass Gabapentin beim milden Alkoholentzugssyndrom solche Rückfälle vermindert. Die Ergebnisse müssen jedoch in einer größeren Studie mit breiterem Teilnehmerspektrum und längerer Nachbeobachtungsdauer überprüft werden. Die Studie hat mehrere bedeutsame statistische Verzerrungen.
Literatur
- https://www.awmf.org/ uploads/tx_szleitlinien/ 076-001l_S3-Leitlinie_ Alkohol_2016-02-abgelaufen.pdf Link zur Quelle
- Sullivan, J.T., et al.: Br. J. Addict, 1989, 84, 1353. Link zur Quelle
- AMB 1998, 32, 73. Link zur Quelle
- Dousset, C., et al.: Addict. Behav. 2020, 106, epub 10.3.2020. Link zur Quelle
- Jonas, D.E., et al.: JAMA 2014, 311, 1889. Link zur Quelle
- Lohse, M.J., und Müller-Oerlinghausen, B.: Psychopharmaka. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag, Berlin, 2019.
- Myrick, H., et al.: Alcohol Clin. Exp. Res. 2009, 33, 1582. Link zur Quelle
- Anton, R.F., et al.: JAMA Intern. Med. 2020, 180, 1. Link zur Quelle
- Knecht, B., Lohmüller, J., Telschow, C.: Ergänzende statistische Übersicht. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag, Berlin, 2019.
- Fachinformation Gabapentin AbZ 100 mg Hartkapseln, Stand April 2019. Link zur Quelle
- Bonnet, U., und Scherbaum, N.: Fortschr. Neurol. Psychiatr. 2018, 86, 82. Link zur Quelle