Wie andere HMG-CoA-Reduktase-Hemmer verursacht auch Atorvastatin selten Nebenwirkungen an der Skelettmuskulatur (Myalgie, Myositis oder Myopathie), aus denen sich eine Rhabdomyolyse entwickeln kann (1). Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass ein Großteil der leichteren Muskelbeschwerden unter Statinen, wie beispielsweise Steifigkeit, Schmerzen und Schwäche ohne Erhöhung der Kreatinkinase (CK), durch Nozebo- und unspezifische Effekte hervorgerufen werden (2, 3). Die inadäquate Darstellung der sogenannten Statin-Intoleranz in den Medien trägt dazu bei, dass Patienten die Behandlung mit Statinen ungerechtfertigt abbrechen, und dadurch ihr Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen erhöhen (4).
Eine N = 1-Studie dient dazu, die Behandlung einzelner Patienten zu optimieren (5). Werden die Ergebnisse mehrerer N = 1-Studien kombiniert, kann das Ergebnis auch verwendet werden, um die Wirksamkeit einer Behandlung insgesamt abzuschätzen. Um herauszufinden, ob Beschwerden kausal mit der Anwendung eines Arzneimittels zusammenhängen, erhalten Teilnehmer in N = 1-Studien über verschiedene Behandlungsperioden Plazebo oder das verdächtigte Arzneimittel, wobei die Reihenfolge zufällig festgelegt wird. Dieses Design wurde kürzlich in der SAMSON-Studie mit 60 Patienten zu Nebenwirkungen von Atorvastatin verwendet (3, 6). Aktuell wurde eine größere Studie mit 200 Patienten veröffentlicht, die wegen Muskelbeschwerden eine Therapie mit einem Statin abgebrochen hatten (75,5%) oder dies in Betracht zogen (24,5%; 7). Die Untersuchung wurde vom britischen National Institute for Health Research finanziert. Sie wurde doppelblind in 50 Hausarztpraxen in Großbritannien durchgeführt. Zu den Ausschlusskriterien gehörte u.a. eine Erhöhung der CK auf das Fünffache des Normwerts oder mehr. Im Verlauf der Studie wurden keine weiteren Laboruntersuchungen durchgeführt.
Die Patienten erhielten über ein Jahr in jeweils drei zweimonatlichen Behandlungsperioden Atorvastatin (20 mg/d) oder Plazebo in zufälliger Reihenfolge. In der letzten Woche jeder Behandlungsperiode beurteilten die Patienten ihre Muskelbeschwerden täglich mit einer Visuellen Analogskala (VAS) von 0 (keine Beschwerden) bis 10 (schlimmste Beschwerden). Primärer Endpunkt der Untersuchung waren von den Patienten berichtete Muskelbeschwerden anhand des VAS-Scores, der zwischen den Behandlungsperioden verglichen wurde. Am Ende jeder N = 1-Studie erhielten die Patienten eine Auswertung ihrer individuellen Ergebnisse, ebenso wie ihr Hausarzt, mit dem sie die Ergebnisse diskutieren sollten. Drei Monate nach Ende der letzten Behandlungsperiode wurden die Patienten befragt, ob sie die Therapie mit einem Statin wiederaufnehmen wollten und ob die Studie für diese Entscheidung hilfreich gewesen war.
Die Patienten waren im Durchschnitt 69 Jahre alt, 58% waren Männer und bei 70% bestand eine kardiovaskuläre Vorerkrankung. Das Gesamtcholesterin lag im Median bei 5,3 mmol/l (204 mg/dl). Die Adhärenz der Patienten war während der Atorvastatin- und Plazebo-Perioden ähnlich. Von 151 Patienten lagen Symptom-Scores von mindestens einer Statin- und einer Plazebo-Behandlungsperiode vor. Diese Patienten gaben während der Statin-Perioden im Durchschnitt einen niedrigeren VAS-Score für Muskelbeschwerden an als während der Plazebo-Perioden (1,68 vs. 1,85; mittlere Differenz -0,11; p = 0,40). Die Behandlungsperioden unterschieden sich nicht hinsichtlich sekundärer Endpunkte wie generelle Aktivität, Gemütslage, Gehfähigkeit, Schlaf und Lebensfreude. Von den 113 Patienten, die an der Erhebung zum Ende der Studie teilnahmen, gaben nur 17 (15%) während der Statin-Perioden einen VAS-Score an, der mindestens einen Punkt über dem der Plazebo-Perioden lag. Sie wurden darüber informiert, dass ihre Beschwerden möglicherweise mit der Einnahme des Statins zusammenhängen. Zum Ende der Studie hatten zwei Drittel der Patienten die Therapie mit einem Statin wiederaufgenommen oder planten dies (74/113; 66%). Die meisten Patienten gaben an, dass die Studie für ihre Entscheidung nützlich gewesen sei (99/113; 88%).
Insgesamt brachen 80 Patienten ihre Teilnahme an der Studie ab; davon gaben 32 unerträgliche Muskelbeschwerden als Grund an. Von ihnen befanden sich 13 in einer Plazebo- und 18 in einer Statin-Phase, sowie einer vor Studienbeginn. Als weitere Gründe für den Abbruch der Studie wurden auch andere Beschwerden als Muskelsymptome angegeben sowie klinische Bedenken, die nicht mit der Arzneimittelbehandlung zusammenhingen.
Während der N = 1-Studien wurden insgesamt 13 schwere unerwünschte Ereignisse dokumentiert, von denen keines der Studienmedikation zugerechnet wurde.
Die Aussagekraft der Studie ist dadurch eingeschränkt, dass die Untersuchung auf ein Statin (Atorvastatin) und eine Dosierung (20 mg/d) beschränkt war und dass 80 Patienten die Studie abbrachen. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass die VAS-Scores für Muskelbeschwerden durch die vorhergehende Behandlungsperiode beeinflusst wurden.
In einem Editorial wird darauf hingewiesen, dass die Beschwerden der Patienten real sind. Die Studie habe jedoch zeigen können, dass sie meist nicht durch Statine verursacht werden, sondern beispielsweise mit dem zunehmenden Alter der Betroffenen zusammenhängen (8).
Fazit: Wie in der SAMSON-Studie (3) zeigte sich auch in diesen N = 1-Studien bei Patienten mit Muskelbeschwerden unter Statinen ohne relevante Erhöhung der CK insgesamt kein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Atorvastatin und der Häufigkeit oder Schwere der Symptome im Vergleich zu Plazebo. Die meisten Patienten planten, die Therapie mit einem Statin wiederaufzunehmen. N = 1-Studien können dazu beitragen, den Nozebo-Effekt von Statinen zu überwinden.
Literatur
- Fachinformation Atorvastatin AbZ 10 mg/20 mg/40 mg /80 mg Filmtabletten, Stand März 2019. Link zur Quelle
- AMB 2017, 51, 32. Link zur Quelle
- AMB 2021, 55, 43b. Link zur Quelle
- AMB 2017, 51, 19. Link zur Quelle
- https://www.ebm-netzwerk.de/de/service-ressourcen/ebm-glossar Link zur Quelle
- Wood, F.A., et al.: N. Engl. J. Med. 2020, 383, 2182. Link zur Quelle
- Herrett, E., et al. (STATINWISE = STATIN: Web-based Investigation of Side Effects): BMJ 2021, 372, n135. Link zur Quelle
- Mahase, E.: BMJ 2021, 372, n553. Link zur Quelle