Im März 2021 hat die Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB) ein „Konsensus-Statement“ (KS) zur Diagnose und Behandlung der therapieresistenten Depression (TRD) veröffentlicht (1). Die Publikation umfasst 21 Seiten und wird von 3 Psychiatern aus Wien herausgegeben. Das KS erfolgte mit „freundlicher Unterstützung“ von vier Pharmafirmen, deren Produkte in dem Papier auch sehr freundlich behandelt werden. Dazu zählen ein Omega-3-Fettsäure- sowie ein Lavendelöl-Präparat und Esketamin. Im Fachbeirat der Publikation finden sich viele namhafte Vertreter und Vertreterinnen der Psychiatrie aus Österreich und anderen deutschsprachigen Ländern.
Knapp 10% der Publikation sind der Anwendung von Esketamin-Nasenspray bei TRD gewidmet. Esketamin wurde im Dezember 2019 zugelassen, in Kombination mit einem SSRI bzw. SNRI bei erwachsenen Patienten mit therapieresistenter „Major Depression“, die in der aktuellen Episode auf mindestens zwei unterschiedliche Therapien mit Antidepressiva nicht angesprochen haben. Esketamin unterliegt einem „Additional Monitoring“ (Schwarzes Dreieck), d.h. alle Nebenwirkungen sollen gemeldet werden (vgl. 21).
Wir haben das Medikament nach seiner Zulassung in den USA besprochen und resümiert: „Aufgrund beträchtlicher unerwünschter psychotroper Wirkungen und des Suchtpotenzials wurde die Anwendung in den USA an strenge Auflagen gebunden. Der Zulassung liegen verhältnismäßig kleine, nur zum Teil positive Studien zugrunde, deren Methodik und Ergebnisse nicht unumstritten sind. Ketamin und (S)-Ketamin sollten außerhalb der Notfall- und Intensivmedizin äußerst zurückhaltend und nur im Rahmen seriöser klinischer Studien angewendet werden – unabhängig vom Applikationsweg“ (22). Auch viele unabhängige Psychiater sehen das Therapieprinzip kritisch (2-6) und das britische „National Institute for Health and Care Excellence“ (NICE) hat sich gegen die Verwendung von Esketamin in dieser Indikation ausgesprochen (7).
In dem KS dagegen wird Esketamin grundsätzlich positiv bewertet. Das könnte damit zusammenhängen, dass zwei der drei Herausgeber und der gesamte internationale Fachbeirat Interessenkonflikte mit dem Hersteller haben. Es werden hohe Ansprech- und Remissionsraten genannt (77% bzw. 58% nach 48 Wochen). Dabei werden aber die Ergebnisse aus den Plazebogruppen außer Acht gelassen. Tatsächlich fand sich nur in einer der drei plazebokontrollierten Zulassungsstudien ein statistisch signifikanter Rückgang der Depressivität gegenüber Plazebo (2-4). In allen drei Studien betrug der Unterschied zwischen Ketamin und Plazebo im Rückgang der Depressivität lediglich rund 4 Punkte auf der 60 Punkte umfassenden „Montgomery-Åsberg Rating Scale“, einem Fremdbeurteilungsinstrument. Dies entspricht einer bescheidenen Effektstärke von d ≈ 0,3 (2). Zudem muss berücksichtigt werden, dass eine Verblindung bei der Behandlung mit Ketamin aufgrund der typischen Nebenwirkungen (Dissoziation, Übelkeit) kaum möglich ist. Auch war nur bei 10% der Patienten ein rascher, deutlicher und anhaltender Rückgang der Depressivität festzustellen. Die Unterschiede zu Plazebo waren hierbei minimal (4).
Auf die vielfältigen Risiken von Esketamin wird in dem KS nur am Rande eingegangen. Diese seien überwiegend mild und transient. Es fehlt auch der Hinweis, dass es in den Zulassungsstudien 6 Todesfälle in den Esketamin-Gruppen gab, darunter 3 Suizide; in den Plazebo-Gruppen gab es keine Todesfälle. Es wird in dem KS sogar angedeutet, dass Esketamin suizidpräventiv wirken könnte. Tatsächlich gab es in der zum Beleg zitierten Studie im Vergleich zu Plazebo keinen Unterschied in der Reduktion von Suizidalität, und auch der Hersteller schreibt dies in den Produktinformationen.
Ein Kapitel in dem KS widmet sich der „Augmentation antidepressiver Therapie mit Nutraceuticals/Supplementen“. Darin wird ein Lavendelöl-Präparat zur Behandlung von komorbider Angst bei TRD besprochen. Die S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen sieht demgegenüber für Phytopharmaka keinen wissenschaftlichen Nachweis für einen Nutzen (8). Es ist daher auch wenig wahrscheinlich, dass Phytopharmaka bei TRD und komorbider Angst klinisch bedeutsam wirken. In dem KS wird jedoch zu einem Therapieversuch geraten. Die Begründung ist, dass von diesen Mitteln kein Suchtpotenzial und kein Interaktionspotenzial mit einem Antidepressivum bekannt sei und auch keine Beeinträchtigung bei der Lenkung eines Kraftfahrzeugs. Die zum Beleg zitierten Studien wurden jedoch überwiegend gar nicht an Patienten mit einer TRD durchgeführt. Die positive Bewertung verwundert auch deshalb nicht, weil einer der Herausgeber des KS an vielen dieser Studien beteiligt war und Interessenkonflikte mit dem Hersteller des Lavendelöl-Präparats hat.
Auch Omega-3-Fettsäuren werden positiv besprochen. Es sei in mehreren (nicht genannten) Studien gezeigt worden, dass die Kombination mit Antidepressiva einer Monotherapie überlegen ist. In der S3-Leitlinie zur Depression wird diese Behandlungsoption erst gar nicht diskutiert. Omega-3-Fettsäuren finden dort nur bei der postpartalen Depression Erwähnung und zwar mit der Schlussfolgerung, dass derzeit keine ausreichende Evidenz besteht, um hierzu Empfehlungen zu geben (9). Auch eine Cochrane-Analyse ergab, dass die Evidenz für die Wirksamkeit von Omega-3-Fettsäuren nur von niedriger bis sehr niedriger Qualität ist und die Wirksamkeit nicht klinisch bedeutsam sei (10).
Weitere Kritikpunkte sind, dass die Autoren das Serotonin(5-HT)-Transportergen (5-HTTLPR = „Serotonin Transporter Length Polymorphic Region“) als mögliches Gen für (behandlungsresistente) Depression nennen. Dies gilt heute als weitgehend widerlegt (11). Auch die Option eines Wechsels („Switching“) auf andere Antidepressiva, z.B. einen MAO-Hemmer, im Falle eines Nicht-Ansprechens wird als Option genannt. Die S3-Leitlinie der DGPPN (9) kommt dagegen zu dem Schluss, dass in „keiner Studie das Umsetzen der einfachen Fortführung des bislang unwirksamen Antidepressivums signifikant überlegen war und dass aufgrund der schwachen Evidenzlage von langen Aneinanderreihungen immer neuer Antidepressiva abgesehen werden soll“. Auch aktuellere Studien bzw. Meta-Analysen hierzu werden außer Acht gelassen (12). Die Darstellung der Fakten zur Suizidalität bei Behandlung mit Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter ist ebenfalls problematisch. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Einnahme von Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo vermehrt mit Suizidgedanken und Suizidversuchen assoziiert (13-16). Die FDA hat 2004 einen entsprechenden Warnhinweis für ein Suizidrisiko auf den Fachinformationen von SSRI veranlasst. Die Autoren des KS behaupten jedoch, dass es zu keiner „Suizidzunahme“ unter SSRI kommt und stützen sich auf eine Studie aus dem Jahr 2018 (17). Dabei handelt es sich aber um eine Studie mit Erwachsenen, die den Verlauf von Suizidgedanken untersucht hat. Suizidales Verhalten wurde darin gar nicht bewertet. Darüber hinaus ist ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis von Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen mit akuten Depressionen generell anzuzweifeln (18).
Fazit: Ein aktuelles österreichisches Konsensus-Statement zur Behandlung der therapieresistenten Depression hat beträchtliche inhaltliche und formale Mängel. Die Autoren haben erhebliche Interessenskonflikte mit pharmazeutischen Unternehmern, die das Statement freundlich unterstützt haben. Es ist als ein Beispiel anzusehen, wie Leitlinien und Empfehlungen für die Praxis nicht entwickelt werden sollten (19, 20). In der vorliegenden Form eignen sie sich nicht für evidenzbasierte Entscheidungen.
Literatur
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