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Umstrittene Zulassung von Aducanumab zur Behandlung des Morbus Alzheimer in den USA

Zusammenfassung: Grundlage der beschleunigten Zulassung der US-amerikanische Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) für Aducanumab (Aduhelm®) zur Behandlung des Morbus Alzheimer ist die Wirkung auf einen Surrogatparameter: In klinischen Studien wurde unter Aducanumab durchgängig eine Reduktion der Beta-Amyloid-Ablagerungen in der Bildgebung beobachtet. Dagegen wurde ein statistisch signifikantes Ergebnis zum primären Endpunkt, der Verlangsamung der Progression der Demenz unter Aducanumab im Vergleich zu Plazebo, nur in einer von zwei Phase-III-Studien erreicht, bei zudem höchstens grenzwertiger klinischer Relevanz des Unterschieds. Diesem sehr unsicheren klinischen Nutzen von Aducanumab stehen aufwändige Begleituntersuchungen und das Risiko für bedeutsame neurologische Nebenwirkungen gegenüber. Die pharmazeutischen Unternehmer (pU) haben nun auch bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) einen Antrag für eine Zulassung gestellt (17); eine Entscheidung darüber wird bis Ende des Jahres erwartet. Wir hoffen, dass sich die EMA bei ihrer Entscheidung mehr an den vorliegenden Daten und den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin orientiert als die FDA. Aus unserer Sicht gehört das Konzept, Amyloid-Plaques mit Hilfe monoklonaler Antikörper zu entfernen, als Therapieprinzip bei der Alzheimer-Demenz weiterhin auf den Prüfstand. Patienten mit Morbus Alzheimer und ihre Familien benötigen Vieles, aber keine trügerischen Hoffnungen (19).

In Deutschland sind schätzungsweise 1,5 Mio. Menschen an Demenz erkrankt, davon 50-70% an Morbus Alzheimer (MA; 1, 2). MA ist eine neurodegenerative Erkrankung, die zu einem irreversiblen Verlust von Nervenzellen und Synapsen führt. Histopathologisch charakteristisch ist die Akkumulation extrazellulärer Amyloid-Plaques (aus Amyloid Beta-Protein) und intrazellulärer Alzheimer-Fibrillen (aus Tau-Protein) im Gehirn. Verschiedene genetische Veränderungen und Risikofaktoren sind mit der Entwicklung eines MA assoziiert, die genaue Pathogenese ist jedoch unklar. Zu den Arzneimitteln, die zur Behandlung des MA eingesetzt werden, gehören Cholinesterasehemmer, Memantin und Extrakte aus den Blättern des Ginkgo-Baums (2). Diese Arzneimittel sind jedoch von fraglicher Wirksamkeit und haben teils relevante Nebenwirkungen (vgl. 18). Erstmals seit dem Jahr 2003 hat nun die FDA ein neues Arzneimittel gegen MA zugelassen – allerdings gegen die Empfehlung einer externen Beratungskommission (3).

Aducanumab (Aduhelm®) ist ein rekombinanter monoklonaler Antikörper gegen aggregierte Formen von Amyloid Beta (4, vgl. 5). Durch die Bindung soll ein Abbau der Amyloid-Plaques im Gehirn angeregt werden. Das Arzneimittel wird einmal pro Monat als intravenöse Infusion über eine Stunde verabreicht. Untersucht wurde die Wirksamkeit von Aducanumab bei Patienten mit einer frühen Alzheimer-Demenz in zwei doppelblinden, randomisierten, plazebokontrollierten Phase-III-Studien mit jeweils hoch (bis 10 mg/kg Körpergewicht = KG) und niedrig (bis 6 mg/kg KG) dosiertem Aducanumab (EMERGE mit 1.638 Patienten und ENGAGE mit 1.647 Patienten; 6, 7). In dem identischen Prüfprotokoll der beiden Studien war als primärer Endpunkt definiert die Veränderung im Vergleich zur Baseline im Score der „Clinical Dementia Rating Scale-Sum of Boxes“ (= CDR-SB), der von 0 bis 18 reicht, wobei höhere Punktzahlen eine schlechtere Kognition und Einschränkungen der Funktionsfähigkeit im Alltag bedeuten. Die Aufteilung in zwei Phase-III-Studien ist inhaltlich schwer nachvollziehbar und dürfte in erster Linie taktische Gründe gehabt haben: zwei Studien sind in der wissenschaftlichen Argumentation überzeugender und für einen Zulassungsantrag wichtig.

Den Phase-III-Studien vorangegangen war eine Phase-Ib-Studie zur Dosisfindung (PRIME; 8). Die Studien wurden im März 2019 vorzeitig abgebrochen, nachdem eine vorab geplante, sogenannte Futility-Analyse der Phase-III-Studien eine Wirkungslosigkeit von Aducanumab gezeigt hatte, basierend auf Daten von 1.748 Patienten zum 26. Dezember 2018 (9). Damit schien die Entwicklung von Aducanumab gescheitert, wie zuvor von anderen Antikörpern mit ähnlichem Ansatz (vgl. 5). Die bis dahin eingeschlossenen Patienten hatten jedoch die Möglichkeit, die Behandlung über den ursprünglich geplanten Behandlungszeitraum von 18 Monaten fortzusetzen. Dies nutzten 2.066 der insgesamt 3.285 Studienpatienten.

Im Oktober 2019 gaben die pU Biogen und Eisai bekannt, dass eine Analyse eines größeren Datensatzes zu einem späteren Zeitpunkt die Ergebnisse der Futility-Analyse widerlegt und gezeigt habe, dass die EMERGE-Studie ihren primären Endpunkt erreiche (10). Die pU planten deswegen, bei der FDA eine Zulassung für Aducanumab zur Behandlung des MA zu beantragen. Die nicht geplante, post-hoc durchgeführte Analyse zeigte, dass es bei Patienten mit einer hohen Dosis Aducanumab zu einer statistisch signifikanten Reduktion der klinischen Verschlechterung gekommen war (22% gegenüber Plazebo; p = 0,01). In der Gruppe mit niedriger Dosierung von Aducanumab waren die Unterschiede zu Plazebo statistisch nicht signifikant. Die ENGAGE-Studie erreichte den primären Endpunkt nicht; laut pU deutete eine explorative Analyse jedoch darauf hin, dass eine Untergruppe von Personen, die hohe Dosen Aducanumab erhalten hatten, sich ebenfalls langsamer klinisch verschlechterten.

Wie jetzt bekannt wurde, war dieser überraschenden Wendung Anfang Mai 2019 ein inoffizielles Treffen zwischen Billy Dunn, Leiter der Abteilung für Neurologie der FDA, und Alfred Sandrock, Leiter der Forschungsabteilung von Biogen, vorausgegangen, das Aducanumab in den folgenden zwei Jahren eine Unterstützung innerhalb der FDA sicherte (20). Nach dem Treffen wurde bei Biogen das „Projekt Onyx“ initiiert mit dem Ziel, das Arzneimittel wieder aufleben zu lassen und bei der FDA grünes Licht für eine Zulassung zu erhalten. Ursprünglich hieß das Projekt Phönix nach dem mythischen Vogel, der aus seiner Asche wieder neu ersteht; Juristen von Biogen verhinderten das.

Im November 2020 traf sich die Beratungskommission der FDA, die sich bei einer Enthaltung mit 10 von 11 Stimmen gegen eine Zulassung von Aducanumab aussprach (11). Mitglieder der Kommission begründen das u.a. damit, dass die relative Risikoreduktion von 22% im CDR-SB-Score einer absoluten Risikoreduktion von 0,39 Punkten entspricht; als klinisch relevant gelten jedoch erst Unterschiede von 1-2 Punkten (12). Außerdem verweisen sie auf mögliche Nebenwirkungen des Arzneimittels. So wird in der Fachinformation der FDA vor Amyloid-bedingten Bildgebungsanomalien („Amyloid-related Imaging Abnormality“ = ARIA) gewarnt, die sich als Hirnödem („ARIA Edema“ = ARIA-E) und als Ablagerungen von Hämosiderin (ARIA-H) einschließlich Mikroblutungen manifestieren können (4). Die Ödeme können zu Kopfschmerzen, Verwirrung, Schwindel, Sehstörungen oder Übelkeit führen. Außerdem wird in der Fachinformation vor Überempfindlichkeitsreaktionen wie Angioödem und Urtikaria gewarnt. Als häufigste Nebenwirkungen werden aufgeführt ARIA-E, das bei 35% der Patienten unter Aducanumab vs. 3% der Patienten unter Plazebo auftrat, sowie Kopfschmerzen, ARIA-H und Stürze. Es wird empfohlen, vor Beginn der Behandlung, sowie vor der 7. und 12. Infusion eine Magnetresonanztomographie (MRT) durchzuführen und außerdem bei klinischen Beschwerden. Solche Vorgaben dürften bei vielen Alzheimer-Patienten nur schwer umzusetzen sein.

Am 6. Juni 2021 hat die FDA Aducanumab, entgegen dem eindeutigen Votum ihres Beratergremiums, eine beschleunigte Zulassung zur Behandlung des MA erteilt (3). Die FDA begründet ihre Entscheidung damit, dass in allen drei Studien Aducanumab Amyloid-Plaques als Surrogat-Parameter in der zerebralen Bildgebung zeit- und dosisabhängig reduzierte. Im Kontrollarm unter Plazebo blieben die Plaques unverändert. Obwohl in den Studien nur Patienten mit frühen Stadien des MA eingeschlossen wurden, wurde Aducanumab für alle Patienten mit MA zugelassen. Die beschleunigte Zulassung verpflichtet die pU zur Durchführung weiterer Studien, um den klinischen Nutzen zu belegen. Allerdings erklärte der Geschäftsführer von Biogen Michel Vounatsos nur wenige Stunden nach der Zulassung in einem Interview, dass die pU bis zu neun Jahre Zeit hätten, um hierzu endgültige Ergebnisse zu liefern (13).

Die Jahrestherapiekosten für Aducanumab betragen pro Patient 56.000 US-$ (ca. 46.000 €). In dem Interview weist der Geschäftsführer auch daraufhin, dass die pU sich lediglich verpflichtet hätten, den Preis für das Arzneimittel in den nächsten vier Jahren nicht zu erhöhen. Die Aussichten auf hohe Einnahmen ließen nicht nur den Aktienkurs von Biogen um bis zu 50% nach oben springen, auch andere pU mit ähnlichen Arzneimitteln in der Pipeline erfuhren kräftige Gewinne (14).

Aus Protest über die Entscheidung der FDA sind drei Mitglieder des Beratungs-Komitees zurückgetreten, darunter der renommierte Pharmakologe Aaron Kesselheim von der Harvard Universität (15). Er twittert, dass die beschleunigte Zulassung nicht als Backup dienen sollte, falls die Daten von klinischen Studien nicht gut genug sind für eine reguläre Zulassung (16). Joel S. Perlmutter, ebenfalls als Mitglied des Beratungs-Komitees zurückgetreten, befürchtet, dass die Zulassung von Aducanumab die Forschung in eine therapeutische Sackgasse lenkt und weg von Ansätzen, die tatsächlich funktionieren könnten (21). Die Verbraucherschutzorganisation „Public citizen“ fordert wegen der „rücksichtslosen Entscheidung“ zu Aducanumab den Rücktritt von drei verantwortlichen Mitarbeitern bei der FDA (22).

Literatur

  1. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/ 246021/umfrage/praevalenzrate-von-demenzerkrankungen -in-deutschland-nach-alter -und-geschlecht/ Link zur Quelle
  2. https://www.awmf.org/uploads/tx_ szleitlinien/038-013l_S3-Demenzen-2016-07.pdf Link zur Quelle
  3. https://www.fda.gov/drugs/news-events-human- drugs/fdas-decision-approve-new-treatment-alzheimers-disease Link zur Quelle
  4. https://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2021/761178s000lbl.pdf Link zur Quelle
  5. AMB 2016, 50, 76. Link zur Quelle
  6. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02484547; Studie 302, EMERGE. Link zur Quelle
  7. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02477800; Studie 301, ENGAGE. Link zur Quelle
  8. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01677572; PRIME. Link zur Quelle
  9. https://investors.biogen.com/news-releases/ news-release-details/biogen-and-eisai- discontinue-phase-3-engage-and-emerge-trials Link zur Quelle
  10. https://investors.biogen.com/news-releases/ news-release-details/biogen-plans -regulatory-filing-aducanumab- alzheimers-disease Link zur Quelle
  11. https://www.fda.gov/media/145690/download Link zur Quelle
  12. Alexander, G.C., et al.: JAMA 2021, 325, 1717. Link zur Quelle
  13. https://www.cnbc.com/2021/06/07 /first-on-cnbc-cnbc-transcript-biogen -ceo-michel-vounatsos-speaks-with- cnbcs-power-lunch-today.html Link zur Quelle
  14. Grundlehner, W.: Neue Zürcher Zeitung 10.6.2021. Link zur Quelle
  15. Mahase, E.: BMJ 2021, 373, n1503. Link zur Quelle
  16. Kesselheim, A.: Link zur Quelle
  17. https://www.ema.europa.eu/en/ medicines/medicines-human-use-under-evaluation Link zur Quelle
  18. AMB 2010, 44, 52 Link zur Quelle . AMB 2009, 43, 14 Link zur Quelle . AMB 2008, 42, 12 Link zur Quelle . AMB 2004, 38, 76 Link zur Quelle . AMB 2001, 35, 87b. Link zur Quelle
  19. Walsh, S., et al.: BMJ 2021, 374, n1682. Link zur Quelle
  20. Feuerstein, A., et al.: Link zur Quelle
  21. Perlmutter, J.S.: Science 2021, 372, 1371. Link zur Quelle
  22. https://www.citizen.org/wp-content/ uploads/2590.pdf?eType= EmailBlastContent&eId=477a11fd-6092-405d-89a4-1779c1c180e1 Link zur Quelle