DER ARZNEIMITTELBRIEF hatte im September 2021 unter dem Titel „Auffrischungsimpfung gegen COVID-19 für Alle?“ berichtet über die zum damaligen Zeitpunkt vorliegende Evidenz aus klinischen Studien zur Verbesserung der Immunität durch Booster-Impfung gegenüber SARS-CoV-2 und Schutz vor COVID-19, vor allem in Risikogruppen, z.B. ältere Menschen sowie immunsupprimierte Patienten [1]. Trotz der im September 2021 noch unzureichenden Evidenz – u.a. auch hinsichtlich der Dauer der durch die Impfung erzeugten Immunität gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 bzw. Wirksamkeit dieser Impfung gegen die damals bereits aufgetretenen Virusvarianten („variants of concern“ = VOCs) – wurde von der Ständigen Impfkommission (STIKO) eine Auffrischungsimpfung in Deutschland für verschiedene Risikogruppen empfohlen bzw. vom damaligen Gesundheitsminister sogar „Booster-Impfungen für Alle“ erwogen. Auf offene Fragen und die Konsequenzen eines derartigen Vorgehens hatten sowohl Bioethiker als auch Wissenschaftler aus den USA und Großbritannien wiederholt hingewiesen [2] [3]. Von Seiten der „World Health Organisation“ (WHO) wurde deshalb ein Moratorium gefordert, das generelle Auffrischungsimpfungen verhindern sollte, solange die primären Impfungen gegen SARS-CoV-2 nicht weltweit allen Menschen zur Verfügung stehen [4].
Inzwischen hat sich der Kenntnisstand zur Wirksamkeit der Auffrischungsimpfung deutlich verbessert. Dies gilt vor allem für die durchaus unterschiedliche Kinetik der durch verschiedene Vakzine gegen SARS-CoV-2 induzierten humoralen und zellulären Immunität nach zweimaliger Impfung mit dem mRNA-Impfstoff (BNT162b2; Comirnaty®) bzw. einmaliger Impfung mit Ad26.COV2.S (Vaxzevria®; [5]), aber auch für die rasch abnehmende Immunität wenige Monate nach der 2. Impfung mit einem mRNA-Impfstoff bei Risikopatienten sowie für die Immunität nach Infektion mit der Delta-Variante von SARS-CoV-2 [6]. Auch zum Verlauf der Antikörpertiter – sowohl gegen den „Wildtyp“ als auch die inzwischen aufgetretenen VOCs von SARS-CoV-2 – liegen jetzt erste Ergebnisse vor, sowohl im Rahmen der primären Impfung als auch nach Booster-Impfung [6].
In einer Beobachtungsstudie aus Israel zur Wirksamkeit einer 3. Impfung mit Comirnaty®, in der 1.158.269 Personen zwischen Ende Juli 2020 und 23. September 2021 eine 3. Impfung erhalten hatten, wurden 728.321 Personen ausgewählt und mit einer hinsichtlich demographischer und klinischer Merkmale ähnlichen („matching“) Kontrollgruppe ohne 3. Impfung mit ebenfalls 728.321 Personen verglichen [7]. Die Teilnehmer in der Verum-Gruppe hatten eine 3. Impfung mit Comirnaty® mindestens 5 Monate zuvor erhalten und zuvor keine SARS-COV-2-Infektion erlitten. Die Daten aller Teilnehmer lagen den „Clalit Health Services“, Israels größtem Gesundheitsdienstleister, vor. Das mediane Alter der Personen in der Verum- bzw. Kontrollgruppe lag bei 52 Jahren, und 51% der Teilnehmer waren Frauen. Primäre Endpunkte der Studie waren Hospitalisierung, schwerer Verlauf sowie Tod infolge von COVID-19. Die relative Wirksamkeit der Impfung wurde wenigstens 7 Tage nach der 3. Dosis ermittelt. Sie betrug für die Hospitalisierung 93% (231 Ereignisse vs. 29 Ereignisse in der Gruppe der dreifach Geimpften), 92% für einen schweren Verlauf von COVID-19 (157 vs. 17 Ereignisse) und 81% für einen durch COVID-19 verursachten Tod (44 vs. 7 Ereignisse; [7]).
Zwei weitere Beobachtungsstudien aus Israel, deren Ergebnisse am 23. Dezember 2021 im N. Engl. J. Med. publiziert wurden, haben ebenfalls den nach Booster-Impfung mit Comirnaty® nachgewiesenen Schutz vor Infektion mit SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 (Hospitalisierung, schwere Erkrankung, Tod) ausgewertet. In Israel wurde bereits am 30. Juli 2021 vom Gesundheitsministerium eine Booster-Impfung mit Comirnaty® zugelassen aufgrund des Auftretens der B.1.617.2 (Delta)-Variante von SARS-CoV-2, die zu einem Wiederanstieg der mit SARS-CoV-2 infizierten Personen geführt hatte. Auch die Ergebnisse dieser beiden Studien belegen die Wirksamkeit einer 3. Impfung mit einem mRNA-Impfstoff hinsichtlich der Vermeidung schwerer Komplikationen bzw. Tod nach SARS-CoV-2-Infektion.
In der ersten Untersuchung wurden insgesamt 843.208 Mitglieder der „Clalit Health Services“ im Alter von ≥ 50 Jahre ausgewertet, die wenigstens 5 Monate zuvor zweimal mit Comirnaty® geimpft worden waren [8]. Verglichen wurde die Mortalität infolge COVID-19 in der Gruppe nach Booster-Impfung mit der Gruppe der Personen, die keine Booster-Impfung erhalten hatten. Während bei 90% der Teilnehmer (758.118 Personen) mit Booster-Impfung im Laufe der Studiendauer (54 Tage) nur 65 Personen infolge von COVID-19 starben (0,16 von 100.000 Personen/Tag), waren dies in der Gruppe ohne Booster-Impfung 137 Personen (2,98 von 100.000 Personen/Tag). Dieser Vergleich ergab eine hochsignifikante „Hazard ratio“ zugunsten der mit Comirnaty® dreimal geimpften Personen.
Eine zweite, datenbankgestützte Studie wertete insgesamt 4.696.865 Mio. Personen im Alter von ≥ 16 Jahren aus, die vom israelischen Gesundheitsministerium erfasst worden waren, und wenigstens 5 Monate zuvor 2 Dosen von Comirnaty® erhalten hatten [9]. In einer primären Analyse wurde die Rate an bestätigten Infektionen mit SARS-CoV-2, ein schwerer Verlauf von COVID-19 und die Mortalität verglichen zwischen Personen, die eine Booster-Impfung wenigsten 12 Tage zuvor („Booster-Gruppe“) erhalten hatten mit denen ohne Booster-Impfung. Eine sekundäre Analyse verglich darüber hinaus die Rate der zuvor genannten Ereignisse in der „Booster-Gruppe“ mit einer Gruppe, die 3-7 Tage früher die 3. Impfung erhalten hatte (frühe „Postbooster-Gruppe“). Die Rate an bestätigten Infektionen mit SARS-CoV-2 war geringer sowohl beim Vergleich der „Booster-Gruppe“ mit der Gruppe ohne Booster-Impfung (in etwa um den Faktor 10) als auch beim Vergleich der „Booster-Gruppe“ mit der frühen „Postbooster-Gruppe“ (in etwa um den Faktor 4,9-10,8). Auch das Auftreten schwerer Erkrankungen und die Mortalität unterschieden sich in der primären und sekundären Analyse in allen Altersgruppen zugunsten der Personen, die eine Booster-Impfung erhalten hatten. Falls die protektive Wirksamkeit der Booster-Impfung in weiteren Studien auch bei jüngeren Personen nachgewiesen werden kann, hätte dies nach Einschätzung der Autoren auch Konsequenzen für gesundheitspolitische Entscheidungen. So könnten beispielsweise durch Booster-Impfungen die Übertragung von SARS-CoV-2 verringert und dadurch möglicherweise kostspielige Maßnahmen, wie Quarantäne bzw. strenge Befolgung von Verhaltensregeln (z.B. entsprechend der AHA- Formel), vermieden werden.
Die Ergebnisse dieser beiden Beobachtungsstudien im N. Engl. J. Med. zum Stellenwert der Booster-Impfungen werden kommentiert in einem Editorial von M.K. Patel im Namen der „COVID-19 Response International Task Force“ („Centers for Disease Control and Prevention“ = CDC; [10]). Ausdrücklich wird die Bedeutung dieser beiden Beobachtungsstudien gewürdigt, da sie dringend benötigte Evidenz lieferten für die relative Wirksamkeit der Booster-Impfung hinsichtlich Vermeidung von schwerer Krankheit oder Tod infolge von COVID-19. Gleichzeitig wird zu Recht darauf hingewiesen, dass derzeit aufgrund des begrenzten Angebots an Impfstoffen – insbesondere in einkommensschwachen Ländern – der Umfang der Bevölkerung, die eine vollständige initiale Impfung erhalten haben, viel zu niedrig ist: weniger als 10% in 45 Ländern und weniger als 40% in 105 Ländern. Ob dieser Mangel an Impfstoffen im ersten Quartal von 2022 behoben sein wird, bleibt abzuwarten.
Interessant in diesem Zusammenhang sind auch Analysen der CDC in den USA, die verdeutlichen, dass 481 Personen im Alter ≥ 65 Jahre eine Booster-Impfung erhalten müssen, um eine Hospitalisierung zu vermeiden, wohingegen nur 50 Personen in dieser Altersgruppe die beiden initialen Impfungen benötigen, um eine Hospitalisierung zu vermeiden [10]. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen müssen demgegenüber 8.738 Personen eine Booster-Impfung erhalten, um eine Hospitalisierung zu verhindern, jedoch nur 396 Personen die initialen beiden Impfungen gegen SARS-CoV-2 [10]. Diese Zahlen veranschaulichen eindrucksvoll den hohen Stellenwert der primären Impfung(en), die zweifelsfrei weiterhin – und zwar weltweit – höchste Priorität besitzen für die Vermeidung eines schweren Verlaufs von COVID-19 nach Infektion mit SARS-CoV-2 sowie des Sterbens infolge von COVID-19.
Inzwischen liegen auch erste Ergebnisse vor zur Immunogenität und Sicherheit von Booster-Impfungen mit Comirnaty® bei Patienten mit soliden Tumoren, die teilweise geimpft wurden während ihrer Behandlung mit Chemotherapie und/oder Immuntherapie (Checkpoint-Inhibitoren; [11] [12]). Diese Untersuchungen an allerdings relativ kleinen Patientenzahlen (jeweils < 100) bestätigen die rasch abnehmende Immunität etwa innerhalb von 6 Monaten nach 2. Impfung mit Comirnaty® bei immunsupprimierten Patienten, die erfreulicherweise durch Booster-Impfungen – auch bei Infektionen mit VOCs von SARS-CoV-2 (z.B. Delta- bzw. Omikron-Variante) – wieder verstärkt werden konnte. In Israel wurde deshalb bereits eine 3. Impfung (Booster-Impfung) für alle Patienten empfohlen, deren Krebserkrankung medikamentös behandelt wird [11].
Eine vorab publizierte und am 14. Februar 2022 in Cancer Cell erscheinende klinische Studie hat die humorale und zelluläre Immunität bei 363 Patienten mit soliden Tumoren und 82 Patienten mit hämatologischen Neoplasien verglichen, die insgesamt 3 Impfungen erhielten: entweder 2 Dosen der COVID-19-Vakzine ChAdOx1 nCoV-19 (Vaxzevria®) und als 3. Dosis Comirnaty® oder eine dreifache Impfung mit Comirnaty® [12]. Die Titer der neutralisierenden Antikörper waren höher bei Patienten, die zunächst Vaxzevria® und als Booster-Impfung Comirnaty® erhalten hatten als bei Patienten, die dreimal mit Comirnaty® geimpft worden waren. Darüber hinaus zeigte diese klinische Studie, dass durch die 3. Impfung vor allem die T-Zell-Immunität gesteigert wurde und davon in erster Linie Patienten mit hämatologischen Neoplasien profitieren, die häufiger als Patienten mit soliden Tumoren nach 2 Impfungen unzureichende Titer an neutralisierenden Antikörpern haben.
Sehr ähnliche Ergebnisse – in erster Linie Steigerung der zellulären Immunität durch eine 3. Impfung mit einem mRNA-Impfstoff (Comirnaty® oder Spikevax®) – ergab eine kürzlich in Lancet Rheumatology publizierte Studie bei Patienten mit Rheumatoider Arthritis (RA) unter Behandlung mit Rituximab. Falls möglich, sollten deshalb Patienten mit RA vor Beginn einer immunsuppressiven Behandlung mit diesem chimären monoklonalen Antikörper, der an das Antigen CD20 auf B-Lymphozyten bindet und dadurch die humorale Immunität schwächt, geimpft werden [13].
Allgemeine Informationen zur Auffrischungsimpfung (u.a. zu deren Zielen und zur Frage, welchen Personen sie derzeit von der STIKO empfohlen werden) finden sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit [14].