Seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie tauchen neue Virus-Varianten auf, wie Beta (B.1.351), Delta (B.1.617.2) und Omikron (B.1.1.529 [BA.1]) mit seinen Untervarianten (BA.2, BA.2.12.1, BA.4, BA.5). Unter dem Selektionsdruck der zunehmenden Immunität in der Bevölkerung wandelt sich das SARS-CoV-2 in Richtung einer höheren Infektiosität und geringeren Pathogenität. Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts ist die Schutzwirkung der bisherigen Impfstoffe gegen SARS-CoV-2, die auf der Ursprungs- oder Wuhan-Variante basieren, gegenüber den Omikron-Varianten sowohl hinsichtlich Infektion wie auch Transmission geringer [1]. Allerdings waren diese Parameter aus heutiger Sicht nie ein realistisches Ziel der Impfung, sondern dies war allein die Verhinderung schwerer Verläufe von COVID-19 (vgl. [2]).
Im September 2022 hat die EU-Kommission nun drei Booster-mRNA-Impfstoffe zugelassen, die zusätzlich zur mRNA des Spike-Proteins des Ursprungsvirus auch eine zweite mRNA enthalten, nämlich die mRNA des Spike-Proteins der wichtigsten Omikron-Varianten (BA.1. bzw. BA.4/BA.5). Diese angepassten Corona-Impfstoffe werden daher auch als „bivalent“ bezeichnet.
Formal handelt es sich bei Comirnaty® Original/Omicron BA.1, Comirnaty® Original/Omicron BA.4-5 [3] und Spikevax® Bivalent Original/Omicron BA.1 [4] nicht um Neuzulassungen, sondern um genehmigte Variationen der Originalvakzinen. Dies ist auch bei anderen Impfstoffen wie beispielsweise den Influenza-Vakzinen üblich und basiert rechtlich auf der Verordnung (EG) Nr. 1234/2008 der Europäischen Kommission („Änderungsverordnung“). Voraussetzung hierfür ist u.a., dass durch eine anerkannte wissenschaftliche Stelle, z.B. die Weltgesundheitsorganisation (WHO), ein Bedarf für einen angepassten Impfstoff festgestellt wurde und eine positive Nutzen-Risiko-Bewertung durch den Ausschuss für Humanarzneimittel („Committee for Medicinal Products for Human Use“ = CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erfolgt ist [5]. Die pharmazeutischen Unternehmer (pU) müssen in diesem Fall für die Vakzinen nicht eine verbesserte Wirksamkeit nachweisen, sondern nur eine stärkere Immunreaktion gegenüber einer bestimmten Virusvariante. Außerdem müssen vom CHMP die verfügbaren klinischen Daten und die Qualität des Herstellungsprozesses bewertet werden.
Die drei neuen, adaptierten SARS-CoV-2-Vakzinen enthalten die gleichen Inhaltsstoffe und die gleiche Menge mRNA pro Impfdosis wie die bisherigen, jedoch mit einer gemischten mRNA. Sie dürfen nicht zur Grundimmunisierung, sondern nur zur Boosterung verwendet werden (≥ 3. Impfung). Der Abstand zur letzten Impfung muss mindestens 3 Monate betragen. Die angepassten Comirnaty®-Vakzinen enthalten je 15 µg mRNA mit dem Bauplan des Spikeproteins der Ursprungsvariante plus 15 µg mRNA der Omikron-Subvariante BA.1 bzw. BA.4/5 (Struktur-identisch). Die Gesamtmenge an mRNA bleibt also gleich (30 µg). Die angepasste Spikevax®-Vakzine enthält 25 µg mRNA mit dem Bauplan des Spikeproteins des Ursprungsvirus plus 25 µg mRNA der Omikron-Subvariante BA.1. Die adaptierten Comirnaty®-Vakzinen dürfen an Personen ab 12 Jahre verabreicht werden, die adaptierte Spikevax®-Vakzine erst ab 18 Jahre ([3], [4]).
Comirnaty® Original/Omicron BA.1 wurde in der sog. „Studie 4, Substudie E“ an 610 Erwachsenen > 55 Jahre nach Grundimmunisierung mit 3 Dosen Comirnaty® getestet. Die Teilnehmer erhielten im Median 6,3 Monate (Spanne: 4,7-11,5 Monate) nach der 3. Impfung eine 4. Dosis, entweder Comirnaty® oder Comirnaty® Original/Omicron BA.1. Endpunkt der Studie waren die Immunantworten gegenüber dem Originalstamm sowie gegenüber der Omikron-Variante BA.1. Es zeigte sich nach einem Monat ein etwa gleicher Anstieg der neutralisierenden Antikörper gegenüber dem Originalstamm (GMT = „geometric mean titre“ jeweils um 5900), aber eine signifikant stärkere Antikörperreaktion gegenüber BA.1 mit der angepassten Vakzine (GMT: 711 vs. 455). Eine angemessene Immunantwort gegenüber der Omikron-Variante BA.1. (Definition: ≥ 4-facher Anstieg der Antikörpertiter) erreichten 57% mit Comirnaty® und 71,6% mit der angepassten Vakzine.
Was diese Zahlen klinisch bedeuten ist unklar. Studienergebnisse mit Patienten-relevanten Endpunkten wie Infektionsraten oder Krankheitsverläufe liegen noch nicht vor. Die Verträglichkeit beider Vakzinen waren in der Studie 4 etwa gleich; größere Unterschiede zu den bekannten Nebenwirkungen von Comirnaty® (vgl. [6]) sind auf Grund der gleichen Zusammensetzung und Herstellungsprozesse der Vakzinen auch nicht zu erwarten.
Comirnaty® Original/Omicron BA.4-5 wurde zugelassen, obwohl zum Zulassungszeitpunkt nur tierexperimentelle und noch keine klinischen Daten vorlagen. Die Erkenntnisse aus der Studie 4 wurden einfach übernommen, auch in den „European Public Assessment Report“ (EPAR; [4]). Dies ist ungewöhnlich und weicht auch von der bisherigen Politik der EMA ab [7]. Gründe hierfür könnten sein, dass die Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 einer durch BA.1 induzierten Immunantwort entkommen können und dass die US-amerikanische Zulassungsbehörde (FDA) den Impfstoff-Herstellern empfohlen hat, für den Herbst eine BA.4/BA.5-Komponente in ihre Vakzinen zu integrieren [7].
Spikevax® bivalent Original/Omicron BA.1 wird in einer noch laufenden Phase-II/III-Studie getestet, ebenfalls als 4. Impfung bzw. 2. Auffrischungsimpfung bei Personen ab 18 Jahren (mittleres Alter 57 Jahre). In der Studie erhielten 437 Teilnehmer frühestens 3 Monate nach der 3. Impfung (im Median 135 Tage) die adaptierten Vakzinen und 377 Teilnehmer das originale Spikevax®. Studienendpunkte sind Sicherheit, Reaktogenität und Immunogenität. Die Zwischenergebnisse wurden im September im N. Engl. J. Med. publiziert [8]. Bei Personen ohne vorherige Infektion betrugen die GMT der neutralisierenden Antikörper gegen die Omikron BA.1 mit der adaptierten Vakzine 2372 und mit der ursprünglichen Vakzine 1473. Die GMT gegenüber Omikron BA.4/5 betrugen 727,4 bzw. 492,1. Der adaptierte Impfstoff bewirkte auch eine stärkere Antikörperreaktion gegen mehrere andere Varianten von SARS-CoV-2 (Alpha, Beta, Gamma und Delta). Was das klinisch bedeutet, ist ebenfalls noch unklar. Die Impfeffektivität wurde auch in dieser Studie nicht bewertet. Sicherheit und Reaktogenität waren bei beiden Vakzinen gleich. Eine SARS-CoV-2-Infektion trat bei 11 Teilnehmern nach einem Booster mit dem adaptierten Impfstoff auf und bei 9 nach der Originalvakzine.
Nach wie vor ist unklar, ob durch die 4. Impfung der Schutz vor einem schweren Verlauf von COVID-19 überhaupt erhöht werden kann. Es dürften in erster Linie Personen von der 4. Impfung profitieren, deren immunologisches Gedächtnis nach drei Impfungen noch schwach ist, d.h. in erster Linie immunsupprimierte Patienten und ältere Menschen. Wiederholte Boosterimpfungen bei immunkompetenten Personen könnten eine zunehmend ungünstige Nutzen-Risiko-Relation haben, einerseits, weil die Risiken einer Impfung mit mRNA-Vakzinen nach unabhängigen Nachanalysen der zugänglichen Studiendaten möglicherweise doch größer sind, als bislang dargestellt [9] und andererseits, weil Boosterungen eigene Risiken bergen könnten. So wird beispielsweise diskutiert, ob eine starke, durch Impfung erreichte Immunität gegen eine bestimmte Virusvariante das Immunsystem derart „ablenkt“, dass es schlechter gegen andere Varianten reagieren kann [7]. Diese Bedenken teilen auch die österreichischen und deutschen Impfgremien. Eine 4. Impfung soll folgenden Personengruppen empfohlen werden (im Abstand von ≥ 6 Monaten zum vorangegangenen immunologischen Ereignis, d.h. Impfung oder SARS-CoV-2-Infektion; vgl. [10], [6]):
- Personen ≥ 60 Jahre,
- Bewohner in Pflegeeinrichtungen sowie Personen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19,
- Personal in medizinischen Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen, insbesondere solche mit direktem Kontakt zu Patienten bzw. Bewohnern,
- Personen ab 5 Jahren mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 infolge einer Grunderkrankung, insbesondere Immundefizienz.
Die Auffrischimpfungen sollen vorzugsweise mit einem der zugelassenen und verfügbaren Omikron-adaptierten bivalenten mRNA-Impfstoffe erfolgen.