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Vermehrt stationäre Aufnahmen aufgrund von Nebenwirkungen?

Zur Häufigkeit von Krankenhausaufnahmen aufgrund von Arzneimittel-Nebenwirkungen veröffentlichten Munir Pirmohamed und seine Kollegen im Jahr 2004 eine wichtige Studie, die in den folgenden Jahren häufig zitiert wurde ([1] vgl. [2]). Damals stellten die Forscher fest, dass bei 6,5% der Krankenhausaufnahmen (internistische und chirurgische Aufnahmen von Personen > 16 Jahre) Nebenwirkungen vorlagen. 80% (n = 980) der Nebenwirkungen wurden als ursächlich für die Krankenhausbehandlung bewertet und 20% (n = 245) als koinzidentell. Fast 20 Jahre später führte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Pirmohamed die Studie erneut durch [3]. Die Ergebnisse legen nahe, dass Krankenhausaufnahmen aufgrund von Nebenwirkungen sogar zunehmen.

Die prospektive Beobachtungsstudie wurde erneut im Universitätsklinikum in Liverpool in England durchgeführt. Zwei Ärzte prüften die Krankenakten von allen Patienten, die in einem Monat im Jahr 2019 über mehr als 24 Std. internistisch aufgenommen worden waren. Primäre Endpunkte der Untersuchung waren die Prävalenz von Aufnahmen aufgrund von Nebenwirkungen sowie die damit verbundene Sterblichkeit, die Prävalenz und der Zusammenhang der Nebenwirkungen mit Multimorbidität und Multimedikation sowie die geschätzten Kosten für den Träger des Krankenhauses und für England.

Bei 218 von insgesamt 1.187 Aufnahmen in dem Zeitraum fanden sich Nebenwirkungen (18,4%). Bei 145 der 218 Aufnahmen war die Nebenwirkung der primäre Grund (66,5%), bei 51 trug die Nebenwirkung zur Aufnahme bei (23,4%) und bei 22 war sie ein zufälliger Befund, der allein keinen stationären Aufenthalt erforderlich gemacht hätte (10,1%). Insgesamt 196 der 1.187 Aufnahmen (16,5%) waren also durch Nebenwirkungen begründet. Die Patienten mit Nebenwirkung waren im Durchschnitt älter als die Patienten ohne Nebenwirkung (73,2 vs. 66,7 Jahre), sie nahmen mehr Arzneimittel ein (10,5 vs. 7,5; p < 0,01) und hatten mehr Begleiterkrankungen (6,1 vs. 5,2; p < 0,01), insbesondere Leber- und Niereninsuffizienz. Die Nebenwirkungen waren am häufigsten verursacht von Diuretika, inhalativen Glukokortikosteroiden, Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern, Protonenpumpenhemmern, Chemotherapeutika und Antihypertensiva. Möglicherweise oder wahrscheinlich durch Interaktionen verursacht waren 29,4% der Nebenwirkungen. Eine Analyse zu anderen Medikationsfehlern, z.B. Überdosierungen, Nicht- oder Falscheinnahmen, findet sich nicht. Insgesamt 40,4% der Nebenwirkungen wurden als vermeidbar oder möglicherweise vermeidbar eingestuft.

Die Dauer des stationären Aufenthalts der Patienten mit einer Nebenwirkung lag im Durchschnitt bei 6 Tagen. Bei 4 Patienten wurden die Nebenwirkungen als unmittelbare Todesursache eingeschätzt (Sterblichkeitsrate: 0,34%): neutropenische Sepsis nach Chemotherapie (n = 2), intrazerebrale Blutung unter ASS und gastrointestinale Blutung unter Edoxaban. Die Kosten für den Träger des Krankenhauses betrugen 490.716 £. Diese Summe ist etwa gleich hoch wie die Kosten, die dort jährlich für chemotherapeutische Behandlungen aufgewendet werden. Auf ganz England extrapoliert werden die Kosten für die stationäre Behandlung von Nebenwirkungen für das britische Gesundheitssystem auf 2,21 Mrd. £ geschätzt.

Als Ursache für den Anstieg der stationären Aufnahmen aufgrund von Nebenwirkungen in den letzten 20 Jahren diskutieren die Autoren neben demographischen Veränderungen in der Bevölkerung und einem veränderten Verschreibungsverhalten auch verbesserte Kenntnisse zum Nebenwirkungsprofil von Arzneimitteln. So wurde beispielsweise das erhöhte Risiko für Pneumonien unter inhalativen Glukokortikosteroiden bei Patienten mit COPD erst nach der ersten Erhebung im Jahr 2004 erkannt.

Die Verringerung unangemessener Multimedikation sehen die Autoren als wichtiges Ziel an, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Ein aktueller Bericht aus Großbritannien schätzt, dass mindestens 10% der Arzneimittel in der Primärversorgung nicht hätten verordnet werden müssen [4]. Ergänzend sollte erwähnt werden, dass auch der fachgerechte Umgang mit Risikoarzneimitteln (strenge Indikationsstellung, Monitoring) nach wie vor verbesserungsbedürftig ist. Dies zeigen immer wieder publizierte Fallserien zu schweren Komplikationen durch Medikationsfehler, beispielsweise mit Metamizol und Methotrexat [5][6].

In Deutschland zeigte eine systematische Untersuchung mit > 10.000 Patienten an vier Kliniken der Maximalversorgung, dass bei 6,5% ein Verdacht auf eine Nebenwirkung vorlag [7]. Diese Untersuchung bezog sich allerdings auf alle Vorstellungen und nicht nur auf internistische Patienten. Der Anteil verdoppelte sich, wenn ausschließlich behandelte Patienten mit Dokumentation zur Arzneimitteltherapie betrachtet wurden. Nur wenige Patienten mit einer Nebenwirkung (11%) wurden ambulant behandelt. Die aktuell laufende ADRED-Studie (Adverse Drug Reactions in Emergency Departments) soll weitere Daten zu Ursachen, Patienten-Risikofaktoren und potenzieller Vermeidbarkeit von Nebenwirkungen in Deutschland erheben [8].

Fazit

Ergebnisse einer Untersuchung in England deuten darauf hin, dass stationäre Aufnahmen aufgrund von Nebenwirkungen zunehmen. Damit assoziiert sind Multimorbidität und Multimedikation. Ein großer Anteil der Nebenwirkungen wurde als vermeidbar eingeschätzt. Zur optimalen Therapie mit einem Arzneimittels gehört nicht nur die korrekte Indikationsstellung, sondern auch die fachgerechte Anwendung und eine regelmäßige Überprüfung, ob sein Nutzen den Schaden überwiegt sowie gegebenenfalls die Dosisreduktion oder das Absetzen.

Literatur

  1. Pirmohamed, M., et al.: BMJ 2004, 329, 15. (Link zur Quelle)
  2. AMB 2012, 46, 06. AMB 2011, 45, 15. AMB 2008, 42, 90a. AMB 2007, 41, 79. (Link zur Quelle)
  3. Osanlou, R., et al.: BMJ Open 2022, 12, e055551. (Link zur Quelle)
  4. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1019475/good-for-you-good-for-us-good-for-everybody.pdf (Link zur Quelle)
  5. Hoffmann, F., et al.: Basic Clin. Pharmacol. Toxicol. 2020, 126, 116. (Link zur Quelle)
  6. Lim, A.Y.N., et al.: Rheumatology 2005, 44, 1051. (Link zur Quelle)
  7. Schurig, A., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2018, 115, 251. (Link zur Quelle)
  8. ADRED = Adverse Drug Reactions in Emergency Departments: (Link zur Quelle)