Die meisten Kolonkarzinome entwickeln sich aus Polypen, die bei der Koloskopie entdeckt und entfernt werden können. Deshalb wird seit Jahren die Koloskopie in vielen Ländern als Vorsorge zur Reduktion von Darmkrebs und Tod durch Darmkrebs eingesetzt.
In einer Analyse, die die Ergebnisse von drei Studien zusammenfasste, wurde geschätzt, dass das Risiko für die Entstehung eines Kolonkarzinoms 10 bis 12 Jahre nach einer als Vorsorgeuntersuchung durchgeführten Sigmoidoskopie um 25% verringert werden kann [1]. Eine vollständige Koloskopie wird gegenüber einer Sigmoidoskopie als diagnostisch überlegen eingestuft, da hierbei meist der gesamte Dickdarm eingesehen werden kann. Für den tatsächlichen Nutzen der Koloskopie, die als Vorsorgeuntersuchung in den USA und Europa eingeführt ist, gab es aber bisher keine prospektive Studie. Nun wurde eine solche zu dieser Frage publiziert, die vom norwegischen Staat gefördert wurde [2].
Methodik: In diese pragmatische, randomisierte Studie wurden gesunde Frauen und Männer (Verhältnis ca. 1:1) zwischen 55 und 64 Jahren aus Polen, Norwegen, Schweden und den Niederlanden in den Jahren 2009-2014 eingeschlossen. Die Teilnehmer wurden 1:2 randomisiert: Die kleinere Gruppe wurde zu einer einmaligen Vorsorgekoloskopie eingeladen, die andere wurde nicht mittels Koloskopie gescreent, sondern nur nachverfolgt. Der primäre Endpunkt der Studie war das Auftreten eines Kolonkarzinoms bzw. ein damit assoziierter Tod. Der sekundäre Endpunkt war Tod jeglicher Ursache.
Die Effekte in der Gruppe, die zur Vorsorgeuntersuchung eingeladen wurde, wurden am Ende zusätzlich auf alle Teilnehmer dieser Gruppe hochgerechnet, also so, als wären tatsächlich auch alle untersucht worden. Das Risiko, an einem Kolonkarzinom zu erkranken, könnte außerdem bei denen, die einer Koloskopie zugestimmt hatten und denen, die die angebotene Untersuchung abgelehnt hatten (> 55%), theoretisch unterschiedlich gewesen sein. Daher wurde hier ein Logistikmodel auf der Basis von Kovarianten und Risikofaktoren angewendet, um eine per-Protokoll-Auswertung für die gesamte Gruppe zu ermöglichen.
Die Probanden aus den Niederlanden mussten aus der Auswertung herausgenommen werden, da dort die Nachverfolgung durch inzwischen verschärfte EU-Richtlinien zum Datenschutz nicht weiter durchgeführt werden konnte.
Ergebnisse: Die Daten von 84.585 Teilnehmern (ohne Niederlande) konnten ausgewertet werden. Insgesamt wurden 28.220 Teilnehmer zur Koloskopie eingeladen, von denen 11.843 (42%) die Untersuchung auch tatsächlich durchführen ließen (Koloskopie-Gruppe). Hierbei gab es interessante Unterschiede zwischen den Ländern: in Polen nahmen nur 33% die Einladung an, in Norwegen dagegen 61%. In der Gruppe der Nicht-Eingeladenen (Kontroll-Gruppe) konnten 56.365 nachverfolgt werden.
Von den Patienten der Koloskopie-Gruppe hatten insgesamt 15 nach Abtragung von Polypen eine größere Blutung. Im Zeitraum von 30 Tagen nach der Untersuchung gab es keine Darmperforation und keinen durch die Untersuchung bedingten Todesfall.
Während der medianen Nachverfolgungszeit von 10 Jahren wurden 259 Kolonkarzinome in der Gruppe diagnostiziert, die zur Vorsorgeuntersuchung eingeladen worden war. In der Kontroll-Gruppe wurden 622 Kolonkarzinome erfasst. In der “intention-to-screen“-Analyse war das Risiko für das Auftreten eines Kolonkarzinoms nach 10 Jahren 0,98% in der Gruppe, die zur Vorsorgeuntersuchung eingeladen worden war und 1,20% in der Kontroll-Gruppe (Risk Ratio = RR: 0,82; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,70-0,93). Das Risiko für Tod im Zusammenhang mit einem Kolonkarzinom war nach 10 Jahren 0,28% (72 Todesfälle) unter den Teilnehmern, die zur Vorsorgekoloskopie eingeladen worden waren und 0,31% (157 Todesfälle) in der Kontroll-Gruppe (RR: 0,90; CI: 0,64-1,16).
Eine angepasste Analyse der Ergebnisse mit dem Ziel, die Risikoreduktion einzuschätzen für den Fall, dass alle Eingeladenen die Koloskopie hätten durchführen lassen, ergab Folgendes: das Risiko für ein Kolonkarzinom hätte von 1,22% auf 0,84% und das Risiko für Kolonkarzinom-assoziierten Tod von 0,30% auf 0,15% reduziert werden können.
Die Zahl der Personen, die in der hier untersuchten Altersklasse zur Koloskopie eingeladen werden musste, um ein Kolonkarzinom zu verhindern, betrug 455 (CI: 270-1429). Das Risiko für Tod jeglicher Ursache war in beiden Gruppen gleich (11,03% vs. 11,04%; RR: 0,99; CI: 0,96-1,04).
Die Ergebnisse dieser ersten prospektiven Studie sind weniger günstig als die retrospektiver „gepoolter“ Studien. Es wurden durch die Vorsorgekoloskopie keine Todesfälle insgesamt verhindert. Das könnte daran liegen, dass die Nachbeobachtungszeit von ca. 10 Jahren zu kurz ist. Aber auch die Risikoreduktion für die Entstehung eines Kolonkarzinoms war sehr gering. Somit steht ein seit vielen Jahren praktiziertes und empfohlenes Vorgehen auf gar nicht so festen Beinen. Es ist sogar die Frage zu stellen, ob bei Personen im fortgeschrittenen Alter (z.B. > 75 Jahre) nicht das Risiko einer Koloskopie größer ist als ihr Nutzen. Ähnlich kritische Gedanken werden im Editorial zu dieser Studie geäußert [3].
Die Risiko-Nutzen-Abwägung der Koloskopie wird bei Risikopatienten, wie beispielsweise bei solchen mit Kolonkarzinom in der Familienanamnese oder bei Patienten mit Colitis ulcerosa wahrscheinlich deutlicher zugunsten der Koloskopie ausfallen. Bei Patienten mit Familiärer Polyposis, Lynch-Syndrom oder ähnlichen heriditären Präkanzerosen für Kolonkarzinome sind Koloskopien wichtiger Bestandteil des Patienten-Managements. Solche Patienten wurden allerdings von dieser Studie ausgeschlossen.