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Inkretinmimetikum Semaglutid: kurzfristige Gewichtsreduktion bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen [CME]

Wir haben mehrfach über die Glucagon-like-peptide-1-Agonisten (GLP1-A, auch Inkretinmimetika) berichtet, speziell auch über ihre bedeutsamen Effekte auf das Körpergewicht (vgl.[1]). Der GLP1-A Semaglutid (SG) wurde auf Basis der Ergebnisse der STEP-Studien [2] im Juni 2021 in den USA und im Januar 2022 auch in der Europäischen Union (EU) unter dem Namen Wegovy® als „Arzneimittel zur Gewichtsregulierung“ für Erwachsene zugelassen, als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität. Die Patienten müssen einen BMI ≥ 30 kg/m2 (Adipositas) haben oder BMI 27-30 kg/m2 (Übergewicht) und mindestens eine gewichtsbezogene Komorbidität wie Typ-2-Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, obstruktive Schlafapnoe (OSAS) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen [3]. Wegovy® ist in der EU in 5 Dosierungen zugelassen und wird vom pharmazeutischen Unternehmer (pU) Novo Nordisk als Fertigpen mit 0,25-2,4 mg angeboten. Aufgrund von Lieferengpässen ist es in Europa bislang nicht erhältlich.

Da der Wirkstoff SG seit 2018 in der EU bereits als Antidiabetikum unter dem Namen Ozempic® zugelassen ist, wird dieses Präparat hierzulande nun zunehmend und „off-label“ auch zur Behandlung der Adipositas verordnet. Ozempic® wird vom gleichen pU als Fertigpen in 4 Dosierungen (0,25-2 mg) geliefert. Der Zulassungsantrag des pU zur Behandlung der Adipositas unter einem anderen Markennamen ist vermutlich aus Marketinggründen (verlängerter Patentschutz) erfolgt.

In den USA ist in den „sozialen“ Medien mittlerweile ein Hype um SG als vermeintlich einfaches und risikoarmes Mittel zum Abnehmen entstanden, sodass es auch dort mittlerweile Lieferschwierigkeiten gibt [4]. Wir wollen diesen Hype wegen vieler Unklarheiten nicht befeuern, jedoch muss über Ergebnisse einer bemerkenswerten Studie mit SG bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen berichtet werden.

Adipositas bei Kindern ist ein zunehmendes Gesundheitsproblem in nahezu allen Industrie- und Schwellenländern. Besonders in den USA stieg die Prävalenz in den letzten Jahrzehnten dramatisch an. So wurde in den Jahren 1976-1980 bei 6,5% der Grundschulkinder eine Adipositas diagnostiziert und in den Jahren 2015-2018 bereits bei 19,3% [5]. In Deutschland beträgt nach einer Erhebung in 167 Gemeinden die Prävalenz von Übergewicht in der Altersgruppe 3-17 Jahre 15,4% und von Adipositas 5,9% [6]. Da die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit Adipositas auch im Erwachsenenalter fettleibig bleibt, wird zunehmend das Konzept einer (früh-) kindlichen Intervention zur Vorbeugung und Behandlung verfolgt. Dabei wird ein mehrstufiges, multidisziplinär begleitetes Behandlungsschema angewendet, bestehend aus: Diagnostik und Assessment, Aufklärung und Ausbildung zu Ernährung und Bewegung, Zielsetzungen, unterstütztes Training, Kontrollvisiten sowie psychologische Interventionen. Führen diese Maßnahmen nicht zum erhofften Erfolg, werden als Ultima Ratio in den Leitlinien auch Medikamente und/oder die bariatrische Chirurgie empfohlen [7].

Die Ergebnisse der aktuell publizierten Studie STEP TEENS [8] werden möglicherweise dazu führen, dass Medikamente in diesem Stufenschema schon früher eingesetzt werden. Die Studie ist eine randomisierte, plazebokontrollierte Phase-IIIa-Studie. Es wurden an 37 Zentren weltweit insgesamt 201 Personen im Alter zwischen 12-18 Jahren mit Adipositas (BMI ≥ 95. Perzentile) oder mit Übergewicht (BMI ≥ 85. Perzentile) und mindestens einer Komorbidität eingeschlossen (arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, obstruktive Schlafapnoe oder Diabetes mellitus Typ 2). Alle Teilnehmer mussten mindestens eine erfolglose Diät zur Gewichtsabnahme hinter sich haben. Zu den Ausschlusskriterien zählten u.a. Bulimie, frühere bariatrische Operationen, eine Major Depression in den 2 Jahren vor dem Screening, ein Suizidversuch und andere bedeutsame psychiatrische Erkrankungen in der Anamnese.

Studiendesign: Nach dem Screening durchliefen alle Probanden eine 12-wöchige Initiierungsphase mit einer Lebensstil-Intervention. Diese bestand aus Beratungen und Anleitungen zur Ernährung und körperlicher Aktivität, gemäß den örtlichen Standards. Zu den Zielvorgaben zählten beispielsweise eine Stunde Bewegung täglich. Nach der Initialphase wurden die Probanden im Verhältnis 2:1 randomisiert, entweder zu einmal wöchentlichen subkutanen SG- oder zu Plazebo-Injektionen. Die SG-Dosis wurde, beginnend mit 0,25 mg/Woche, über 16 Wochen bis zur Zieldosis (2,4 mg) oder zur maximal tolerierten Dosis gesteigert. Die Behandlung mit der Studienmedikation dauerte insgesamt 68 Wochen; hiernach folgte noch eine 7-wöchige Nachbeobachtungsphase ohne Studienmedikation.

Der primäre Studienendpunkt war die prozentuale Änderung des BMI. Zu den (sekundären) Endpunkten zählten unerwünschte Ereignisse (UAE), der Verlauf verschiedener Laborwerte und Parameter der psychischen Gesundheit.

Die Studie kann nicht als unabhängig angesehen werden. Sie wurde vom pU konzipiert und überwacht. Unter den 10 Autoren sind 3 Mitarbeiter von Novo Nordisk und die übrigen geben Interessenkonflikte mit dem Studiensponsor an.

Ergebnisse: Laut den bereitgestellten Studienunterlagen wurden 229 Kinder und Jugendliche gescreent und 201 randomisiert. Das Durchschnittsalter betrug zu Beginn der Studie 15,4 Jahre, 62% waren Mädchen, und 79% hatten weiße Hautfarbe. Das mittlere Körpergewicht betrug 107,5 kg, der mittlere BMI 37 kg/m2, 13% hatten bereits einen Bluthochdruck und 4% einen Typ-2-Diabetes. Die meisten Ausgangs-Charakteristika waren in den beiden Behandlungsarmen gleich, jedoch waren im SG-Arm das Körpergewicht, der BMI und der Taillenumfang etwas größer.

SG erhielten 134 Probanden und 67 Plazebo. Die Studie beendeten 99% im SG-Arm und 96% im Plazebo-Arm. 87% der Probanden erreichten die SG-Zieldosis. 5% im SG-Arm und 4% im Plazebo-Arm setzten die Studienmedikation wegen UAE (s.u.) vorzeitig ab.

Die mittlere prozentuale Veränderung des BMI gegenüber dem Ausgangswert betrug nach „Intention to treat“ mit SG -16,1% und mit Plazebo +0,6% (Differenz 16,7%; 95%-Konfidenzintervall = CI: -20,3 bis -13,2; p < 0,001). Die absolute Differenz zum Ausgangsgewicht betrug mit SG durchschnittlich -15,3 kg vs. +2,4 kg mit Plazebo. In der SG-Gruppe verloren 73% der Teilnehmer > 5% ihres Ausgangsgewichts, in der Plazebo-Gruppe 18%. Die Gewichtsabnahme verlief exponentiell, d.h. anfänglich sehr steil, und nach etwa 52 Wochen erreichte der Mittelwert einen Nadir bei einem BMI von 32 kg/m2. Die Kinder waren also weiterhin adipös. Bis zum Studienende verlief die Kurve dann flach weiter. Nach Absetzen der Studienmedikation kam es innerhalb der 7 Wochen wieder zu einer signifikanten Gewichtszunahme um ca. 3%. Dies weist darauf hin, dass die Therapie mit SG wahrscheinlich länger erfolgen muss, um den Effekt zu erhalten.

Weitere signifikante Unterschiede zwischen SG und Plazebo waren: Bauchumfang -12,7 cm vs. -0,6 cm; HbA1c-Wert -0,4% vs. -0,1%; systolischer Blutdruck -2,7 mm Hg vs. -0,8 mmHg; diastolischer Blutdruck -1,4 mm Hg vs. -0,8 mm Hg; Triglyzeride -28,4% vs. +2,6%; LDL-Cholesterin -10,2% vs. -3,4%; ALAT -18,3% vs. -4,9%.

Die Lebensqualität wurde mit dem sog „IWQOL-Kids“ erfasst (Impact of Weight on Quality of Life für Kinder). Der Ausgangswert betrug 84 Punkte auf einer Skala von 0-100, wobei ein höherer Score eine bessere Lebensqualität abbildet. Der Gesamtscore besserte sich nach 68 Wochen mit SG um 5,3 und mit Plazebo um 1,0 Punkt (Differenz 4,3; CI: 0,2-8,3). Der Haupteffekt wurde in den beiden Domänen „körperliches Wohlbefinden“ (Differenz 6,6 Punkte) und „körperliche Wertschätzung“ (Differenz 3,9 Punkte) erzielt.

Sicherheit: UAE wurden bei 105/133 Probanden (79%) im SG-Arm und bei 55/67 (82%) im Plazebo-Arm gemeldet. Die Ereignisrate war mit SG jedoch deutlich höher: 435,7 vs. 362,9 UAE pro 100 Personenjahre. Die häufigsten UAE waren Übelkeit, Erbrechen und Durchfall (62% mit SG und 42% mit Plazebo). Mit SG traten diese meist während der Dosiseskalation auf. Sie wurden überwiegend als leicht oder mittelschwer klassifiziert und waren meist von kurzer Dauer (2-3 Tage).

Schwerwiegende UAE wurden bei 11% im SG- und 9% im Plazebo-Arm gemeldet. Fünf Personen (4%) entwickelten mit SG eine akute Gallenblasenerkrankung, von denen alle eine Cholelithiasis und eine Person auch eine Cholezystitis hatte. Im Plazebo-Arm wurde keine Erkrankung der Gallenwege beobachtet. Mit SG (nicht mit Plazebo) wurde ein Anstieg der Amylase- und Lipase im Serum um 20% bzw. um 40% gemessen ohne klinische Zeichen einer Pankreatitis. Die Bedeutung dieser Beobachtung ist noch unklar.

Weitere Effekte von SG auf Laborwerte, die Wachstums- oder Pubertätsentwicklung (Tanner-Stadium) wurden nicht festgestellt. Zwei Screening-Tests zur psychischen Gesundheit (PHQ-925- und C-SSRS26-Scores) zeigten keine Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsgruppen. Psychiatrische Nebenwirkungen wurden im SG-Arm sogar seltener berichtet (7% vs. 15%).

Leider werden keine Informationen gegeben, ob und inwieweit die Lebensstil-Interventionen umgesetzt wurden. Dies hätte mit Hilfe von Fitness-Trackern und einem Ernährungstagebuch gemessen werden können und würde zum Verständnis der Wirkungen von SG beitragen.

Als wichtigste Einschränkung der Studie nennen die Autoren korrekterweise die zu kurze Nachbeobachtungszeit. Derzeit kann wenig über die Nachhaltigkeit der Wirkung von SG gesagt werden. Von Erwachsenen ist einerseits bekannt, dass nach Absetzen von SG das Gewicht wieder zunimmt und andererseits, dass bei einer Weiterbehandlung über 2 Jahre das Gewicht etwa im Bereich des BMI-Nadirs gehalten werden kann [9]. Somit ist die Notwendigkeit einer mehrjährigen Behandlung wahrscheinlich. Das Problem der zu kurzen Nachbeobachtungszeit betrifft daher besonders auch die Sicherheit von SG, gerade bei Heranwachsenden.

Trotz dieser Bedenken wurde Wegovy® nach Angaben des pU in den USA von der FDA bereits wenige Wochen nach Veröffentlichung der STEP-TEENS-Daten nun auch für Kinder und Jugendliche > 12 Jahre zugelassen [10].

Fazit

Das Inkretinmimetikum Semaglutid reduzierte in einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie das Körpergewicht von stark übergewichtigen Jugendlichen deutlich (BMI: -16%). Der Effekt tritt rasch ein und erreicht nach etwa 52 Wochen einen Nadir. Die Kinder blieben jedoch weiter übergewichtig (BMI zu Beginn: 37 kg/m2, bei Studienende: 32 kg/m2), und nach Absetzen von SG stieg das Gewicht auch wieder an, sodass vermutlich eine längere Behandlung erforderlich ist. Die Verträglichkeit von SG ist mäßig: 62% der Kinder und Jugendlichen klagten zumindest vorübergehend über Übelkeit, Erbrechen und Durchfall und 4% entwickelten innerhalb eines Jahres eine akute Erkrankung der Gallenblase. Außerdem kam es zu einem asymptomatischen Anstieg der Amylase und Lipase im Serum. Die Bedeutung dieser Beobachtung ist noch unklar. SG wurde in den USA bereits zur Behandlung der Adipositas ab 12 Jahren zugelassen. Wegen fehlender Erfahrungen in der Langzeitanwendung muss aus unserer Sicht jedoch dringend davor gewarnt werden, SG bei Kindern und Jugendlichen außerhalb von Studien anzuwenden.

Literatur

  1. AMB 2021, 55, 21. (Link zur Quelle)
  2. Wilding, J.P.H., et al. (STEP 1 = Semaglutide Treatment Effect in People with obesity 1): N. Engl. J. Med. 2021, 384, 989. (Link zur Quelle)
  3. EPAR Wegovy®: https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/wegovy-epar-product-information_en.pdf. Zugriff am 5.1.2023. (Link zur Quelle)
  4. AMB 2023, 57, 08DB01. (Link zur Quelle)
  5. Ogden, C.L., et al.: JAMA 2020, 324, 1208. (Link zur Quelle)
  6. Hoebel, J., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2022, 119, 839. (Link zur Quelle)
  7. Styne, D.M., et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2017, 102, 709. (Link zur Quelle)
  8. Weghuber, D., et al. (STEP TEENS = A research study on how well semaglutide works in adolescents with overweight or obesity): N. Engl. J. Med. 2022, 387, 2245. (Link zur Quelle)
  9. Garvey, W.T., et al. (STEP 5 = Two-year research study investigating how well semaglutide works in people suffering from overweight or obesity): Nat. Med. 2022, 28, 2083. (Link zur Quelle)
  10. Pressemitteilung Novo Nordisk vom 24.12.2022: https://www.novonordisk-us.com/content/nncorp/us/en_us/media/news-archive/news-details.html?id=151389. Zugriff am 6.1.2023. (Link zur Quelle)