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Evidenzbasierte Vorschläge für erschwingliche Preise von Onkologika

Im Jahr 2020 sind die globalen Ausgaben für Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen um 14,3% auf 164 Mrd. US-Dollar (US$) gestiegen und für das Jahr 2025 wird eine weitere Steigerung auf 269 Mrd. US$ vorausgesagt [1][2]. Untersuchungen in den USA, dem Land mit den höchsten Kosten für die medikamentöse Behandlung von Krebserkrankungen, konnten anhand einer Auswertung von Nutzen und Kosten der Onkologika in den Jahren 2015 bis 2020 verdeutlichen, dass Ausmaß des Nutzens und Preis der Onkologika nur selten korrelieren und sich der Preis für neue Onkologika in erster Linie daran orientiert, was der Markt in den jeweiligen Ländern bereit ist zu zahlen [3][4]. Auch in Deutschland sind Onkologika bereits seit einigen Jahren die mit deutlichem Abstand umsatzstärkste Indikationsgruppe, obwohl sie nur 1,2% der Verordnungen im GKV-Arzneimittelmarkt ausmachen [5]. Begründet werden diese hohen Preise für neue Onkologika meist mit den hohen Kosten für deren Forschung und Entwicklung. Eine Konsequenz der hohen Preise ist, dass diese teuren Arzneistoffe Patienten mit Krebserkrankungen in vielen Ländern Osteuropas nicht zur Verfügung stehen [1][6].

Verschiedene unabhängige Wissenschaftler haben sich deshalb in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt, wie es gelingen kann, finanziell tragbare Preise für Onkologika zu erlangen. Hierfür wurden unterschiedliche Lösungsansätze diskutiert, mit dem Ziel, Einstiegspreise neuer Onkologika stärker am Nutzen des jeweiligen Arzneistoffs auszurichten und dadurch die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems nicht weiter zu gefährden [3][6], [7], [8]). Ausdrücklich hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf die Konsequenzen der langen Patentdauer („geistiges Eigentum“) für „sehr innovative“, hochpreisige, „first-in-class“ Onkologika. Verschiedene Länder in Europa haben deshalb Maßnahmen ergriffen mit dem Ziel, mitunter überhöhte Einstiegspreise z.B. durch Referenzpreise, am Nutzen orientierte Preise (vgl. frühe Nutzenbewertung in Deutschland), Preiskontrollen und Ausschreibungen zu senken.

Angesichts der aktuell jedoch noch unzureichenden empirischen Evidenz für die Wirksamkeit dieser derzeit diskutierten Vorgehensweisen werden weiterhin verschiedene Konzepte diskutiert. Weitgehende Übereinstimmung herrscht jedoch bezüglich der Forderung, dass für das Erreichen erschwinglicher Preise bei neuen Krebsmedikamenten evidenzbasierte Lösungen gefunden werden müssen, die vor allem auch auf eine größere Transparenz des Preises und der Kosten für Forschung und Entwicklung des jeweiligen Arzneistoffs abzielen [9]. Zudem wird künftig angesichts des Patentablaufs zahlreicher kostspieliger Onkologika beim Markteintritt des jeweiligen Generikums bzw. Biosimilars der tatsächliche Nutzen dieser Medikamente zunehmend von Bedeutung sein [6]. Bisher erfolgt allerdings eine Neubewertung des Preises und des Nutzens dieser Onkologika nach Ablauf ihres Patenschutzes viel zu selten, sodass nur selten Auswirkungen auf deren global sehr hohe Therapiekosten erzielt werden können [6].

Eine Arbeitsgruppe von Nora Franzen et al. aus den Niederlanden hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit dem Thema der hohen Therapiekosten von Onkologika beschäftigt und bereits 2020 eine systematische Übersichtsarbeit hierzu veröffentlicht [7]. Ausdrücklich hingewiesen wurde in der Einleitung auf das Ziel dieser Publikation, anhand der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Evidenz wirksame Strategien zu entwickeln, um erschwingliche Preise für neue Onkologika auch in einkommensschwachen Ländern zu erreichen. Insgesamt wurden 4.775 Publikationen zu diesem Thema überprüft und 80 davon ausgewählt, um eine Bestandsaufnahme von 23 Maßnahmen vorzunehmen, die auf eine Preissenkung abzielten. Aufgrund der häufig nicht evidenzbasierten, sondern eher durch individuelle Meinung der Autoren beeinflussten Vorschläge, wurden weitere strukturierte Untersuchungen gefordert, um die wesentlichen Auswirkungen einer Preissenkung – auch hinsichtlich der Verfügbarkeit neuer Onkologika in Europa – adäquat zu berücksichtigen. Diese Arbeitsgruppe hat dann 2021 und 2022 in weiteren Publikationen evidenzbasierte praktische Lösungen vorgeschlagen mit dem Ziel, einerseits künftig erschwingliche Preise für Onkologika zu erreichen und gleichzeitig Bedenken zu beseitigen, dass gezielte Preisnachlässe für einkommensschwache Länder durch größere Preistransparenz verringert würden [9][10]. Priorität sollte definitiv Maßnahmen eingeräumt werden, die eine größere Transparenz hinsichtlich des Preises sowie der Kosten für Forschung und Entwicklung neuer Onkologika ermöglichen. In einer weiteren 2022 publizierten Untersuchung liefert diese Arbeitsgruppe weitere Evidenz dafür, dass die Kombination von größerer Transparenz hinsichtlich des Preises und der Kosten für Forschung und Entwicklung eine wirksame Strategie darstellen, um in der Onkologie effektive Preise für neue Onkologika festzulegen.

Verschiedene Publikationen haben in den letzten Jahren das von der pharmazeutischen Industrie immer wieder vorgebrachte Argument – die ständig steigenden hohen Preise für Onkologika sind erforderlich, um Forschung und Entwicklung neuer Krebsmedikamente zu finanzieren – widerlegt (Übersichten in [3], [4], [5], [11]. Neue Onkologika führen keineswegs immer zu einer Verbesserung der Prognose, insbesondere bei fortgeschrittenen soliden Tumoren, und die inzwischen von pharmazeutischen Unternehmen entwickelten und bei der Zulassung fast stets als innovativ bezeichneten neuen Arzneistoffe weisen nicht selten keinen oder nur einen fragwürdigen Zusatznutzen auf gegenüber den bereits für die jeweiligen Indikationen verfügbaren Onkologika.

Angesichts der Entwicklung neuer, häufig hinsichtlich ihres Zusatznutzens zumindest fraglicher und sehr teurer Arzneistoffe hat sich kürzlich eine Initiative gegründet („Common Sense Oncology“ = CSO; [11]), die sich zum Ziel gesetzt hat, Patienten mit Krebserkrankungen – unabhängig von ihrem Wohnort und dem jeweiligen Gesundheitssystem – den Zugang zu neuen Onkologika zu ermöglichen, vorausgesetzt diese führen zu bedeutsamen Verbesserungen der Prognose ihrer Tumorerkrankung.

Angestrebt wird dies u.a. durch folgende Maßnahmen:

Für die Zulassungsstudien werden grundsätzlich patientenrelevante Endpunkte ausgewählt, um ausreichende Evidenz hinsichtlich der für Patienten tatsächlich bedeutsamen Ergebnisse zu gewährleisten. Randomisierte kontrollierte Studien sind weiterhin der Goldstandard, um die Wirksamkeit neuer Onkologika zu beurteilen. Eine weitere Säule von CSO ist die Interpretation der Evidenz, die allerdings zunehmend kritisches Denken bei Onkologen voraussetzt. Neue und meist kostenintensive medikamentöse Behandlungen, die auf unzureichend geplanten oder mangelhaft berichteten klinischen Studien mit Nachweis eines fragwürdigen oder geringen Nutzens basieren, sollten den Patienten nicht empfohlen werden.

Als Leitsätze wurden von der CSO formuliert:

  1. Der Zugriff auf eine qualitativ hochwertige Behandlung von Krebserkrankungen ist ein wichtiges Menschenrecht – keinem Patienten sollte der Zugriff auf eine wirksame Therapie verwehrt oder dadurch eine finanzielle „Katastrophe“ ausgelöst werden.
  2. Patienten und gesellschaftliche Bedürfnisse sollten die Forschung zu Krebserkrankungen und deren Behandlung lenken.
  3. Die Beteiligung der Patienten und der Öffentlichkeit sind unverzichtbar, wenn Grundsatzentscheidungen getroffen werden.
  4. Patienten dürfen erwarten, dass Empfehlungen zur Behandlung von Krebserkrankungen ihr Überleben oder ihre Lebensqualität bedeutend verbessern.
  5. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Patienten und den sie behandelnden Onkologen sollte auf den Werten der Patienten basieren und begründet sein durch Prinzipien der evidenzbasierten Medizin sowie einer kritischen Bewertung der hierfür verfügbaren Ergebnisse.
  6. Behandlungen der Krebserkrankungen sollten verfügbar sein zu einem fairen Preis im Kontext, in dem sie benötigt werden.
  7. Verteilungsgerechtigkeit bei einer qualitativ hochwertigen Behandlung sollte priorisiert werden ebenso wie tatsächliche Innovation und neue Behandlungsstrategien.
  8. Eine umfassende, patientenzentrierte Behandlung sollte rechtzeitig psychosoziale und palliative Behandlung einbeziehen.

Ziel von CSO ist es auch, die nächste Generation von Onkologen auszubilden und zu unterstützen in der Behandlung von Krebspatienten. Dabei sollen auch globale und regionale Ungerechtigkeiten im Zugang zu bezahlbaren, qualitativ hochwertigen Behandlungen verringert werden. Es wird aus Sicht von CSO sicher einige Zeit vergehen, bis der wesentliche Auftrag („core mission“) dieser Initiative – anstelle von kommerziellen Gewinnen konzentriert sich die Behandlung von Krebserkrankungen auf echte Innovationen und Behandlungsergebnisse, die für Patienten tatsächlich von Bedeutung sind – umgesetzt werden kann.

Literatur

  1. IQVIA 2021: https://www.iqvia.com/-/media/iqvia/pdfs/library/white-papers/iqvia-understanding-net-pharmaceutical-expenditure-dynamics-in-europe.pdf (Link zur Quelle)
  2. Franzen, N. et al.: Cancer Discov. 2022, 12, 299. https://aacrjournals.org/cancerdiscovery/article/12/2/299/678506/Improving-the-Affordability-of-Anticancer (Link zur Quelle)
  3. Ludwig, W.-D., und Vokinger, K.N.: Hochpreisigkeit bei Onkologika. Arzneimittel-Kompass 2021 (Open Access). https://www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/arzneimittel-kompass/2021/ (Link zur Quelle)
  4. Vokinger, K.N.: https://www.iqwig.de/veranstaltungen/hs-2021_vortrag-vokinger.pdf (Zugriff: 6.8.2023). (Link zur Quelle)
  5. Ludwig, W.-D., Ganser, A., Maschmeyer, G.: Hämatologische Neoplasien und solide Tumore. In: Ludwig, W.-D., Mühlbauer, B., Seifert, R. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2022. Springer Verlag Berlin 2023. S. 85.
  6. Godman, B., et al.: Expert Rev. Pharmacoecon. Outcomes Res. 2021, 21, 527. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14737167.2021.1884546 (Link zur Quelle)
  7. Franzen, N., et al.: JAMA Oncol 2020, 6, 909. https://jamanetwork.com/journals/jamaoncology/article-abstract/2763316 (Link zur Quelle)
  8. Vogler, S.: Expert Rev. Pharmacoecon. Outcome Res. 2021, 21, 321. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14737167.2021.1898951 (Link zur Quelle)
  9. Franzen, N., und van Harten, W.: Ansätze zur Begegnung der Hochpreisigkeit. Arzneimittel-Kompass 2021 (Open Access). (Link zur Quelle)
  10. Franzen, N., et al.: Cancer Discov. 2022, 12, 299. (Link zur Quelle)
  11. Booth, C.M., et al.: Lancet Oncol. 2023, 24, 833. (Link zur Quelle)