Bereits Im November 2020 hatte die Europäische Kommission (EC) eine Arzneimittelstrategie für Europa vorgelegt, „mit der ein „zukunftssicherer und patientenorientierter Arzneimittelmarkt geschaffen werden sollte, auf dem die pharmazeutische Industrie in der Europäischen Union (EU) innovieren, florieren und weltweit führend bleiben kann“ [1]. Diese Strategie stützte sich auf 4 Säulen:
- Gewährleistung des Zugangs für Patientinnen und Patienten zu erschwinglichen Arzneimitteln und Deckung des unerfüllten medizinischen Bedarfs (beispielsweise in den Bereichen Antibiotikaresistenz und seltene Krankheiten).
- Förderung von Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Nachhaltigkeit der Arzneimittelindustrie in der EU und der Entwicklung hochwertiger, sicherer, wirksamer und umweltfreundlicherer Arzneimittel.
- Verbesserung von Krisenvorsorge und -reaktionsmechanismen, diversifizierte und sichere Lieferketten, Behebung von Arzneimittelengpässen.
- Gewährleistung einer starken Stimme der EU auf der Weltbühne durch die Förderung hoher Qualitäts-, Wirksamkeits- und Sicherheitsstandards.
Ein „Arzneimittel-Ökosystem“ in der EU, das krisenfest und sowohl den heutigen Gegebenheiten als auch den künftigen Herausforderungen gewachsen ist, sollte aus Sicht der EC eine der zentralen Säulen einer starken europäischen Gesundheitsunion im Dienste der Bürgerinnen und Bürger bilden.
Am 26. April 2023 hat die Kommission der Europäischen Union (EU) jetzt eine überfällige Reform des Arzneimittelrechts vorgeschlagen, bei der es sich nach Einschätzung der EC um die erste große Überarbeitung des Arzneimittelrechts seit 2004 handelt [2]. Diese Reform ersetzt die „Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates“ vom 31. März 2004 [3] und hat als Ziel, das Arzneimittelrecht an die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Begründet wurde diese Reform wie folgt [2]: „Die heute in der EU zugelassenen Arzneimittel erreichen Patientinnen und Patienten nicht schnell genug und sind für diese nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen zugänglich. Ungedeckte medizinische Bedarfe, seltene Krankheiten und die Entwicklung neuer antimikrobieller Mittel zur Bewältigung des zunehmenden Problems antimikrobieller Resistenzen – dies alles sind Bereiche, in denen noch viel zu tun ist. Darüber hinaus ist es aufgrund der hohen Preise innovativer Behandlungen nicht einfach, einen zeitnahen und erschwinglichen Zugang dazu zu gewährleisten. Auch Medikamentenengpässe, die schwerwiegende Folgen für Kranke haben können, bereiten zunehmend Sorge.
Damit die EU ihre Attraktivität als Investitionsstandort wahrt und in der Entwicklung von Arzneimitteln weltweit führend bleiben kann, muss sie ihr Regulierungssystem an veränderte Gegebenheiten, wie den digitalen Wandel und neue Technologien zur Arzneimittelverabreichung, anpassen. Soll die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefördert werden, gilt es, den Verwaltungsaufwand zu verringern und die Verfahren zu straffen. Will man die Umweltwirkungen von Arzneimitteln angehen, ist dies mit den Zielen des Grünen Deals und der Ökologisierung der Wirtschaft in Einklang zu bringen“ [2]. Als Hauptziele – unter dem Motto: „Reform of the EU pharmaceutical legislation – Affordable, accessible, and innovative medicines“ – werden mit dieser Reform des EU-Arzneimittelrechts verfolgt [2]:
- Schaffung eines Binnenmarktes für Arzneimittel, damit alle Patientinnen und Patienten in der gesamten EU gleichermaßen zeitnah Zugang zu sicheren, wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln erhalten;
- Erhaltung attraktiver und innovationsfreundlicher rechtlicher Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln in Europa;
- drastische Reduzierung des Verwaltungsaufwands durch beschleunigte Verfahren, sodass die Zulassungszeiten deutlich verkürzt werden und Arzneimittel die Patientinnen und Patienten schneller erreichen;
- Bessere Verfügbarkeit von Arzneimitteln und Sicherstellung der Versorgungssicherheit für Patientinnen und Patienten unabhängig davon, wo sie in der EU leben;
- Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen („antimicrobial resistance“ – AMR) und des Vorkommens von Arzneimitteln in der Umwelt durch das Konzept „Eine Gesundheit“.
- größere ökologische Nachhaltigkeit von Arzneimitteln.
Wichtige Ziele dieser Reform wurden bereits am 2. Februar 2023 an die Presse bzw. Öffentlichkeit geleakt. Die geplanten wesentlichen Änderungen im EU-Arzneimittelrecht wurden inzwischen sowohl von der EC als Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Reform des Arzneimittelrechts als auch in verschiedenen öffentlichen Medien (z.B. im Informationsdienst Politico; siehe unten) Ende April 2023 kommentiert [4], [5].
Die Reform enthält zwei Legislativvorschläge: Eine neue Richtlinie und eine neue Verordnung, die den EU-Rechtsrahmen für alle Arzneimittel (einschließlich der Arzneimittel für seltene Krankheiten und für Kinder) bilden und die früheren Arzneimittelvorschriften vereinfachen und teilweise ersetzen sollen.
Die neue Richtlinie enthält somit alle Vorschriften über die Zulassung, die Überwachung, die Kennzeichnung und den rechtlichen Schutz, das Inverkehrbringen und andere Verfahren für diejenigen Arzneimittel, die auf EU-Ebene bzw. auf nationaler Ebene zugelassen werden [3]. Die Verordnung enthält (zusätzlich zu den Vorschriften der Richtlinie) spezifische Vorschriften für die auf EU-Ebene zugelassenen Arzneimittel (insbesondere für die „innovativsten“ darunter). In ihr werden die Vorschriften für den koordinierten Umgang mit kritischen Engpässen und für die Versorgungssicherheit bei kritischen Arzneimitteln festgelegt. Ferner wird darin die Arbeit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) neu geregelt. Diese Reform enthält auch eine Empfehlung des Rates der EU zu antimikrobiellen Resistenzen (AMR), die wir in der nächsten Ausgabe des ARZNEIMITTELBRIEFs vorstellen und bewerten werden.
Um die Entwicklung „innovativer“ Arzneimittel zu fördern, wurden zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen: Durch vereinfachte Verfahren und eine Umstrukturierung der EMA soll die Zulassung neuer Arzneimittel beschleunigt werden. Eine frühzeitige wissenschaftliche Beratung durch die EMA hat als Ziel, die Qualität der Zulassungsanträge zu verbessern, und kleine und mittlere pharmazeutische Unternehmen (KMU) erhalten auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene wissenschaftliche Unterstützung. Ausgehend von den Erfahrungen mit Impfstoffen gegen COVID-19 werden fortlaufende Überprüfungen (sogenannte „rolling reviews“, also eine unmittelbare Überprüfung von Daten, sobald diese vorliegen) und befristete Notfallzulassungen in gesundheitlichen Notlagen eingeführt.
Die Entwickler „innovativer“ Arzneimittel können bereits Jahre, bevor sie den Zulassungsantrag stellen, Beratung zu ihren produktbezogenen Entscheidungen in Anspruch nehmen. Die Nutzung in der Praxis gewonnener („real-world“) Erkenntnisse und Gesundheitsdaten wird ebenfalls erleichtert. Der Rechtsrahmen wird flexibler ausgestaltet, damit er dem Fortschritt der Wissenschaft, der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz und den modernsten Produkten gerecht wird.
Diese Reform der EU-Verordnung mit teilweise sehr ambitionierten Zielen soll pharmazeutische Unternehmer u.a. durch einen Wechsel von einem System mit pauschalen Anreizen zu einem differenzierten Anreizsystem belohnen, wenn sie wichtige Zielsetzungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit erfüllen, wie etwa: einen gleichen Zugang zu Arzneimitteln in allen Mitgliedstaaten, die Entwicklung von Arzneimitteln, die medizinische Versorgungslücken schließen, die Durchführung von vergleichenden klinischen Prüfungen und die Entwicklung von Arzneimitteln, mit denen auch andere Erkrankungen behandelt werden können. Bei Arzneimitteln für seltene Krankheiten („Orphan Drugs“) wird eine ähnliche Differenzierung in Bezug auf die Marktexklusivität vorgeschlagen und für Generika sowie Biosimilars eine schnellere Verfügbarkeit. Die Transparenz öffentlicher Finanzierung in der Entwicklung neuer Arzneistoffe soll verbessert werden, ebenso wie die Beseitigung der derzeit häufigen Arzneimittelengpässe [2], [5] sowie die Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Geplant ist außerdem, den Rechtsrahmen für beschleunigte Zulassungen zu modernisieren und zu vereinfachen – u.a. durch eine Verkürzung der Zeit, die der EMA für ihre Bewertung (nur noch 180 Tage anstatt 210 Tage) bzw. der EC für ihre Entscheidung über die Zulassung eines neuen Arzneimittels zur Verfügung steht (46 statt bisher 67 Tage; [3]). Die elektronische Antragstellung und Erstellung elektronischer Packungsbeilagen für neue Arzneimittel sollen nur noch 150 Tage beanspruchen [3].
Auf diese Weise soll die durchschnittliche Dauer von derzeit 400 Tagen zwischen Antragstellung auf Zulassung eines neuen Arzneimittels und Zulassung verkürzt werden. Die Bewertung von Arzneimitteln von hohem Interesse für die öffentliche Gesundheit durch die EMA wird mit Unterstützung von sog. Reallaboren während der Entwicklung „innovativer Arzneimittel“ angestrebt. Unter Reallaboren versteht man heute neue institutionalisierte Formen der Forschung in einem gesellschaftlichen Kontext bzw. unter gesellschaftlicher Beteiligung mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Wirkung [6]. Pharmazeutische Unternehmen, die innovative Arzneimittel vermarkten, erhalten eine rechtliche Mindestschutzfrist von 8 Jahren, die sich aus 6 Jahren Datenschutz und 2 Jahren Marktschutz zusammensetzt. Sie können allerdings auch längere rechtliche Schutzfristen von bis zu 12 Jahren erhalten, gegenüber höchstens 11 Jahren heute. Diese zusätzlichen Schutzfristen werden entweder gewährt, wenn ein Unternehmen das Arzneimittel in allen Mitgliedstaaten auf den Markt bringt (+ 2 Jahre), wenn das Arzneimittel eine medizinische Versorgungslücke schließt (+ 6 Monate) oder wenn vergleichende klinische Prüfungen durchgeführt werden (+ 6 Monate). Der Datenschutz kann sogar noch um ein weiteres Jahr verlängert werden, wenn mit dem Arzneimittel auch andere Krankheiten behandelt werden können. Von der zusätzlichen rechtlichen Schutzfrist von 2 Jahren für Arzneimittel, die in allen Mitgliedstaaten auf den Markt gebracht werden, verspricht sich die EC eine Zunahme der Erhältlichkeit von Arzneimitteln um 15%. Dadurch können weitere 67 Mio. Menschen in der EU ein neu auf den Markt gekommenes Arzneimittel erhalten.
Besondere Anreize sollen für Arzneimittel geschaffen werden, die eine große Versorgungslücke bei der Behandlung seltener Krankheiten schließen. Bei Arzneimitteln für seltene Krankheiten (Orphan Arzneimittel) beträgt die Dauer der Marktexklusivität regulär 9 Jahre. Pharmazeutische Unternehmen können zusätzliche Marktexklusivitätsfristen in Anspruch nehmen, wenn diese Arzneistoffe eine bedeutende medizinische Versorgungslücke schließen (+ 1 Jahr), sie das Arzneimittel in allen Mitgliedstaaten auf den Markt bringen oder sie neue therapeutische Indikationen für ein bereits zugelassenes Arzneimittel für seltene Leiden entwickeln (bis zu + 2 Jahre). Die rechtlichen Schutzfristen können sich auf diese Weise auf maximal 13 Jahre addieren, während sie heute noch bei 10 Jahren gedeckelt sind.
Diese Reform des EU-Arzneimittelrechts „für leichter zugängliche, erschwinglichere und innovativere Arzneimittel“ hat – nicht überraschend – ein sehr geteiltes Echo gefunden. Sie wurde u.a. vom Europäischen Verband der Pharmaindustrie („European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations“ = EPFIA; [7]) und den größeren pharmazeutischen Unternehmen (z.B. Novartis, Roche; [8]) scharf kritisiert. So mutmaßte EPFIA beispielsweise, dass diese Reform der Wettbewerbsfähigkeit der Pharmaindustrie sogar schaden würde. Die führenden pharmazeutischen Unternehmen würden schon jetzt über Schwierigkeiten bei der Forschung berichten und die Absicht hegen, solche Aktivitäten in die USA und nach Asien zu verlagern. Die geplanten Regelungen würden Europa nur weniger wettbewerbsfähig machen. Stattdessen müsse der Patentschutz gestärkt werden. Dies gelte auch für den Schutz der Studienergebnisse. Gegenwärtig überholten bereits die USA, China und Japan die EU bei Investitionen in die Biopharmazie.
Demgegenüber begrüßten sowohl der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte („Comité Permanent des Médecins Européens“ = CPME) als auch die europäische Konsumentenschutz-Organisation BEUC („Bureau Européen des Unions de Consommateurs“) das Paket als einen ersten Schritt in die richtige Richtung [9], [10]. Die BEUC-Generalsekretärin Monique Goyens verwies auf die Reduktion des Marktschutzes, die billigere Generika für Patienten einfacher zugänglich mache. Ebenfalls positiv sieht BEUC, dass Firmen künftig Pläne erstellen müssen, um Engpässe bei Medikamenten zu verhindern. Goyens kritisierte außerdem das Verhalten der Pharmaindustrie: «Big Pharma» habe bei der Kommission «wie verrückt» Lobbyarbeit betrieben, weil es seine Profite schützen wollte [10].
Politico©, ein inzwischen von Axel Springer SE23 übernommener Nachrichtendienst zu wichtigen politischen Fragen in Europa und Industrien, wie Energie, Finanzdienstleistungen, Gesundheitsvorsorge oder Technologie, hat diese Reform auch ausführlich kommentiert, dabei Gewinner und Verlierer der jeweiligen Maßnahmen benannt und die von der EC im o.g. Gesetz geplanten Maßnahmen als eine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ bezeichnet [11], [12].
Die Neue Zürcher Zeitung sieht in der Reform u.a. „eine Quadratur des Kreises“, durch die bessere Medikamente gegen eine größere Anzahl von Krankheiten schneller zu mehr Menschen in sämtlichen EU-Staaten gelangen sollten – und dies zu geringeren Preisen und ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller zu gefährden“ [13].