Einleitung: Der Off-Label-Use (OLU) von Arzneimitteln, seit langer Zeit in verschiedenen Fachgebieten der Medizin praktiziert, ist ein wichtiges, vielschichtiges Problem mit rechtlicher Unsicherheit für Ärzte und Patienten, nicht eindeutig abschätzbaren Risiken und erheblichen sozioökonomischen Auswirkungen (1-4). Für den Arzt bedeutet der OLU einen schwierigen Spagat zwischen Arzneimittel-, Sozial-, Haftungs- und Berufsrecht. Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) im Jahre 2002, aber auch zahlreiche Leistungsverweigerungen bzw. Regressforderungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an Vertragsärzte (vorwiegend Onkologen) und Berichte über schwerwiegende, vereinzelt auch tödlich verlaufene unerwünschte Ereignisse infolge OLU von Arzneimitteln haben zu intensiven, häufig kontroversen Diskussionen dieses Themas in der Öffentlichkeit geführt (5). Ärzte, Patienten, GKV, pharmazeutische Unternehmer, Juristen und Gesundheitspolitiker haben sich an diesen Diskussionen beteiligt, z.T. sehr unterschiedliche Positionen vertreten und Vorschläge für die aus ihrem Blickwinkel geeigneten Lösungsansätze unterbreitet. Die Interessenvielfalt dieser Gruppen macht es notwendig, dass mehr Transparenz über die medizinischen, juristischen, aber auch ökonomischen Dimensionen des OLU hergestellt wird.
Umfragen bei allen Kassenärztlichen Vereinigungen verdeutlichen, dass auch im Jahr 2007 OLU ein Prüfthema war und Anträge der Krankenkassen auf Feststellung eines sonstigen Schadens wegen OLU weiterhin gestellt werden (J. Bausch, persönliche Mitteilung). Die Analyse der Wirkstoffe, die häufig im Zusammenhang mit Prüfanträgen genannt werden, zeigt ein recht homogenes Bild. Anträge auf Feststellung eines sonstigen Schadens wurden insbesondere für i.v. verabreichte Immunglobuline, Stimulanzien bei Kleinkindern und Erwachsenen, Botulinumtoxin, aber auch für kostenintensive Wirkstoffe wie Parathormon oder Hemmstoffe des Tumor-Nekrose-Faktors alfa gestellt. Demgegenüber wurden Prüfanträge nur selten bei Generika gestellt, obwohl sie häufig weniger breit zugelassen sind als das entsprechende Originalpräparat. Nach Etablierung der unten genannten Expertengruppe „Off-Label” im Jahr 2003 wurden niedergelassene Hämatologen/internistische Onkologen nur noch selten mit Regressforderungen der GKV konfrontiert. Inzwischen werden jedoch von einzelnen Krankenkassen wieder vermehrt Regressanträge bei OLU von Arzneimitteln in der Onkologie gestellt.
Definitionen:Unter OLU versteht man die Nutzung von Arzneimitteln außerhalb des in der Zulassung beantragten und von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden geprüften und genehmigten Gebrauchs. Der OLU, auch als zulassungsfremde oder zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln bezeichnet, bezieht sich nicht nur auf den Einsatz eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikation(en) oder Altersgruppen, sondern berücksichtigt alle weiteren, in der Zulassung definierten Parameter (z.B. Dosierung, Dosierungsintervall, Darreichungsform, Behandlungsdauer und Begleiterkrankungen). Eine detaillierte Darstellung der unterschiedlichen Facetten, sowohl aus ärztlicher als auch aus juristischer Sicht, findet sich in kürzlich publizierten Übersichtsarbeiten bzw. Editorials (1-6). Vom OLU begrifflich abzugrenzen ist der Unlicensed-Use und der Compassionate-Use. Unter Unlicensed-Use versteht man die Anwendung eines (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels, das der Zulassungspflicht unterliegt. Sozial- und zivilrechtliche Regelungen des Unlicensed-Use ähneln denen des OLU (s.u.). Zum Unlicensed-Use zählen der Einzelimport von Arzneimitteln (§ 73 Abs. 3 AMG), die nicht in, aber außerhalb von Deutschland zugelassen sind, und die Verordnung von Arzneimitteln bei schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne therapeutische Alternative im Rahmen eines „Expanded Access Program” (EAP). Das EAP erfolgt zwischen Einreichung eines Zulassungsantrags und Zulassung und gilt als Sonderfall einer klinischen Prüfung. Der Compassionate-Use (Gebrauch aus Mitleid) wurde aufgrund der EG-Verordnung Nr. 726/2004 auch in nationales Recht in die 14. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) aufgenommen. Danach können nicht zugelassene Arzneimittel aus humanen Erwägungen Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer zu Invalidität führenden chronischen oder schweren Erkrankung leiden oder deren Krankheit als lebensbedrohend gilt und die mit einem genehmigten Arzneimittel nicht zufrieden stellend behandelt werden können. Voraussetzung ist, dass das betreffende Arzneimittel entweder Gegenstand eines Antrags auf Erteilung einer Genehmigung für das in Verkehrbringen nach Artikel 6 der EG-Verordnung oder Gegenstand einer noch nicht abgeschlossenen klinischen Prüfung ist (6, 8).
Häufigkeit: Die Angaben zur Häufigkeit des OLU in den verschiedenen Fachgebieten der Medizin variieren sehr stark. Nur für die Pädiatrie liegen in Deutschland repräsentative Untersuchungen vor (9, 10). Eine aktuelle Auswertung, basierend auf Routinedaten einer gesetzlichen Krankenkasse (Gmünder Ersatzkasse), bestätigt den hohen Anteil in der Pädiatrie (10). Bei Neugeborenen bzw. Säuglingen war der Anteil zulassungskonform verordneter Wirkstoffe mit 20-40% besonders niedrig. Andere Autoren gehen davon aus, dass über 50% der in Europa zur Behandlung von Kindern verwendeten Arzneimittel nicht für diese zugelassen sind oder anders als in der Zulassung vorgesehen verwendet werden (11, 12). Auf Kinderintensivstationen sind es sogar 90% (11). In der Pädiatrie handelt es sich jedoch um eine spezielle Problematik, die nicht mit dem zulassungsfremden Einsatz von Arzneimitteln bei Erwachsenen verglichen werden kann. Wichtige Gründe hierfür sind das aus Sicht des pharmazeutischen Herstellers eher geringe Marktpotenzial pädiatrischer Indikationen sowie die hohen Anforderungen an Planung und Durchführung klinischer Studien an nicht oder nur beschränkt einwilligungsfähigen Minderjährigen. Ziel der am 26.1.2007 in Kraft getretenen EU-Verordnung über Kinderarzneimittel (1901/2006/EG) ist es deshalb, dass bei der Zulassung von neuen Arzneimitteln bei Erwachsenen verpflichtend ein pädiatrischer Entwicklungsplan vor der (möglichen) Anwendung des beantragten Arzneimittels bei Kindern und Jugendlichen vorgelegt wird. Neben der Verpflichtung zu mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung von speziell für Kinder angepasste Arzneimittel soll durch eine Zunahme pädiatrischer Studien eine solide Datenbasis geschaffen und die Zugänglichkeit von Arzneimitteln zur Verwendung bei Kindern und Jugendlichen erheblich gesteigert werden (11, 12). Verglichen mit den Untersuchungen in der Pädiatrie sind die Daten zur Häufigkeit des OLU bei Erwachsenen sehr spärlich. Schätzungen aus dem Bereich der Onkologie besagen, dass in Deutschland bei mehr als 50% der Tumorpatienten im Rahmen der Regelversorgung ein OLU erfolgt (3). Eine repräsentative Untersuchung aus den USA von 160 ambulant häufig verschriebenen Arzneimitteln ergab, dass bei etwa 21% dieser Verordnungen ein OLU vorlag, für den in etwa 73% der Fälle keine überzeugenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur therapeutischen Wirksamkeit vorhanden waren (13). Wirkstoffklassen, die besonders häufig Off-Label verordnet wurden, waren Antipsychotika, Antikonvulsiva, Antibiotika und Biopharmazeutika.
Rechtliche Grundlagen und Erscheinungsformen: Die Qualität des Produkts Arzneimittel und der Arzneimitteltherapie werden in Deutschland durch das AMG und für den Bereich der GKV durch das Sozialgesetzbuch V (SGB V) gewährleistet. Zweck des AMG ist es, im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der zugelassenen Arzneimittel zu sorgen. Der Zulassung von Arzneimitteln gehen präklinische Untersuchungen und klinische Prüfungen der Phase I bis III voraus. Die Pharmakovigilanz, d.h. das Analysieren und Abwehren von Arzneimittelrisiken, erfolgt im Rahmen der Zulassungsstudien, insbesondere aber durch systematische Erfassung und Auswertung von Verdachtsfällen unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) sowie kontrollierte bzw. nicht-interventionelle Studien zur Arzneimittelsicherheit nach Zulassung („postmarketing surveillance”). Sozialrechtliche Leistungsvoraussetzungen orientieren sich an den gesetzlichen Verpflichtungen des SGB V, die den Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des verordneten Arzneimittels fordern. Danach muss jeder vertragsärztlich tätige Arzt seine Patienten entsprechend dem Stand des medizinischen Wissens (§§ 2, 70, 72 SGB V) unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 92 SGB V), des medizinischen Fortschrittes und unter Würdigung des Gedankens humaner Krankenbehandlung behandeln. Arzneimittelrechtlich ist die Zulassung Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels. Berufs- und haftungsrechtlich dagegen darf oder muss sogar der Arzt, Arzneimittel auch jenseits der Zulassung einsetzen, wenn begründete Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung besteht und zugelassene wirksame und sichere Arzneimittel nicht zur Verfügung stehen (14). Die Berufsausübungsfreiheit des Arztes deckt somit den Einsatz eines verkehrsfähigen Arzneimittels außerhalb seiner Zulassung im individuellen oder systematischen Heilversuch. Der OLU ist weder nach dem AMG noch nach ärztlichem Berufsrecht verboten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass GKV-rechtlich die zulassungskonforme Anwendung von Arzneimitteln in der Regel zum Leistungsumfang gehört, während der OLU nur unter engen Voraussetzungen – z.B. nach positiver Bewertung durch Expertengruppen am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und Aufnahme in die Arzneimittel-Richtlinie (AMR) – Leistungsgegenstand der GKV ist (6).
In der Rechtsprechung des BSG wurde der OLU erstmals im so genannten SKAT-Urteil („Schwellkörper-Autoinjektionstherapie”) vom 30.9.1999 ausführlich erörtert. Das BSG ist in diesem Urteil zu dem Ergebnis gelangt, dass die GKV für Arzneimittel nur im Rahmen der Zulassung des Arzneimittels einzustehen hat. Jeder OLU in der GKV sei unzulässig und löse keine Leistungspflicht der GKV aus (6, 14). Erst in der Grundsatzentscheidung vom 19.3.2002 hat sich das BSG mit den medizinischen, aber auch juristischen Konsequenzen des OLU intensiver beschäftigt. Der Kläger war an Multipler Sklerose (MS) mit primär chronisch-progredienter Verlaufsform erkrankt und wurde mit i.v. Gaben von Sandoglobulin® behandelt. Das Immunglobulin war und ist zur Behandlung dieser Verlaufsform der MS jedoch nicht zugelassen. In den Leitsätzen zum BSG-Urteil vom 19.3.2002 wurde erneut die Vorgreiflichkeit der arzneimittelrechtlichen Zulassung für die Anwendung eines Arzneimittels im Rahmen der GKV betont und gleichzeitig Voraussetzungen festgelegt, unter denen der OLU zu Lasten der GKV zulässig sei (4, 6, 14). Diese sind, dass
· es sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung handelt, bei der
· keine andere Therapie verfügbar ist und
· aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Letzteres setzt voraus, dass Forschungsergebnisse (z.B. Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III oder außerhalb des Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels) vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.
Im konkreten Fall waren diese Voraussetzungen nicht erfüllt, und eine Off-Label Verordnung von i.v. Immunglobulinen bei chronisch-progredienter Verlaufsform der MS zu Lasten der GKV wurde ausgeschlossen.
Diese ständige Rechtsprechung des BSG ist durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, so genannter Nikolausbeschluss) vom 6.12.2005 für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankungen bei fehlenden schulmedizinischen Alternativen im Bereich des individuellen Heilversuchs für Behandlungen mit nicht ganz fern liegenden Aussichten auf Erfolg tendenziell erweitert worden (7).
Drei Formen des OLU: Heute werden drei Erscheinungsformen des OLU unterschieden (6), die auch rechtlich unterschiedlichen Anforderungen zu genügen haben: 1. im individuellen Heilversuch, 2. als Standard und 3. im Rahmen einer klinischen Prüfung. Beim so genannten individuellen Heilversuch wird ein Arzneimittel, für das es noch keine nationale Zulassung gibt oder die Zulassung nicht für die in Frage stehende Indikation erteilt wurde, im Einzelfall bei Patienten mit schweren, lebensbedrohlichen oder seltenen Erkrankungen, die nicht (mehr) anderweitig zu therapieren sind, angewandt. Zum Standard des ärztlichen Handelns im Rahmen des individuellen Heilversuchs zählen u.a. das Fehlen oder die Erfolglosigkeit von Alternativen, die wissenschaftliche Plausibilität des Therapieansatzes und sowohl eine allgemeine als auch individuelle positive Nutzen-Risiko-Abwägung der in Aussicht genommenen Behandlung. Ein OLU im Rahmen des individuellen Heilversuches unterliegt den strengen Sorgfaltsanforderungen des Arzthaftungsrechts. Dabei beziehen sich die Informationspflichten des Arztes gegenüber dem Patienten auf die umfassende Sicherungs- und Selbstbestimmungsaufklärung. Zweck der Sicherungsaufklärung ist es, den Patienten an der Therapieentscheidung sowie anschließenden Behandlung zu beteiligen und vor Gefahren (z.B. UAW) zu schützen. Die Selbstbestimmungsaufklärung umfasst die Verlaufs- und Risikoaufklärung. Sie soll über den Verlauf der Erkrankung sowie die typischen bzw. spezifischen Risiken der Behandlung informieren und dient dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Patienten (6, 8). Es muss aber auch darüber aufgeklärt werden, dass beim OLU möglicherweise unbekannte Risiken auftreten, dass das Arzneimittel in dieser Indikation noch nicht zugelassen ist und möglicherweise auch darüber, dass eine Gefährdungshaftung des pharmazeutischen Unternehmers ausscheidet (6). Die Einverständniserklärung des Patienten sollte grundsätzlich schriftlich vorliegen. Ist der OLU als gesicherter medizinischer Standard akzeptiert, gelten die üblichen Anforderungen an die Risikoaufklärung vor Arzneimittelgabe (15), die im Vergleich zur Heilversuchsaufklärung weniger streng sind. Für den OLU im Rahmen des systematischen Heilversuches sind die Verpflichtungen zur (prüf-)ärztlichen Aufklärung bei klinischen Arzneimittelprüfungen im AMG (§ 40 bzw. § 41) geregelt. Auch die Dokumentationsanforderungen beim OLU im Rahmen des individuellen Heilversuchs sind gesteigert. Die Dokumentationspflicht umfasst u.a. das Arzneimittel bzw. seinen Wirkstoff, die Dosierung und das Auftreten unerwünschter Wirkungen. Auch Therapieplan und der Verlauf des individuellen Heilversuchs sind ausführlich in der Patientenakte zu dokumentieren.
Medizinischer Standard, Zulassung und Evidenz am Beispiel Bevacizumab versus Ranibizumab: Für die Behandlung von exsudativer (feuchter) altersbedingter Makuladegeneration (AMD) sind derzeit zwei VEGF(Vascular Endothelial Growth Factor)-Hemmstoffe, der monoklonale Antikörper Ranibizumab (Lucentis®) bzw. das wie ein Antikörper wirkende Oligonukleotid Pegaptanib (Macugen®), von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMEA) zugelassen. Bis zum Frühjahr 2007 hatte sich nach Auskunft des Bundes Deutscher Ophthalmochirurgen, der Retinologischen Gesellschaft, der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft und des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands, begründet auf ärztlicher Erfahrung in der Behandlung der AMD, die medikamentöse Therapie im Kern auf die intravitreale Verabreichung von Bevacizumab (Avastin®) konzentriert. Avastin® ist für die Therapie fortgeschrittener Krebserkrankungen, nicht jedoch der AMD zugelassen (16). Mit der Zulassung von Ranibizumab im Frühjahr 2007 gab es erstmals ein in dieser Indikation zugelassenes und Erfolg versprechendes Arzneimittel. Die Zulassung von Ranibizumab beruhte auf randomisierten kontrollierten Studien gegen Plazebo bzw. Pegaptinib (17). Der breite OLU von Bevacizumab wird nach Zulassung von Ranibizumab intensiv diskutiert, wobei Pro- und Kontra-Argumente, ausführlich dargestellt in einem 2007 erschienenen „Health Technology Assessment” Bericht (18), vorgebracht werden. International wird derzeit der offizielle Umgang mit dem OLU von Bevacizumab sehr unterschiedlich gehandhabt (18).
Rechtlich sind die Zulassung des Arzneimittels und der Standard der ärztlichen Arzneimittelbehandlung auseinander zu halten. Die Zulassung entscheidet über die Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels. Der Standard bestimmt die gute ärztliche Behandlung einer Erkrankung (auch mit einem Arzneimittel). Über den Standard entscheidet die ärztliche Profession (Akzeptanz) auf der Basis des verfügbaren Wissens. Die Zulassung alleine beeinflusst den Standard nicht. Dies soll im Folgenden am Beispiel Ranibizumab versus Bevacizumab verdeutlicht werden. Als Standard wird eine Behandlung definiert, die wissenschaftlicher Erkenntnis und/oder ärztlicher Erfahrung entspricht sowie professionell akzeptiert ist (19). Je hochwertiger die Evidenz (20) für die Erkenntnis oder/und Erfahrung ist, desto geringer ist der professionelle Bewertungsanteil im Hinblick auf die indikationsbezogene Behandlungsempfehlung („Akzeptanz”) und umgekehrt. Die Evidenz-basierte Medizin (EbM) als Methode legt nicht fest, welcher Qualitätsrang in der Hierarchie der Evidenzen erreicht sein muss, um von einem Standard zu sprechen (21). Es kann also durchaus sein, dass wir als Basis für eine Empfehlung einmal Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien haben und ein andermal „nur” ärztliche Erfahrung aus Fallbeobachtungen. In beiden Fällen kann die konsentierte Empfehlung als Standard anzusehen sein. Natürlich ist dies im ersteren Falle wahrscheinlicher als im letzteren.
Da zwischen Avastin® und Lucentis® keine vergleichende Prüfung vorliegt, wird man die Qualitätsränge der Erkenntnisse bei beiden Arzneimitteln vergleichend bewerten und wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen müssen, dass auf der Wirksamkeitsebene die Waage zugunsten Ranibizumab (17), auf der Risikoebene zugunsten von Bevacizumab ausschlägt, weil dort der Umfang der Erkenntnisse, unter anderem wegen der häufigeren Anwendung, größer ist als bei Ranibizumab (22). In einer solchen Situation kann man vielleicht von einem Evidenzgleichgewicht sprechen, weil für den Wirksamkeits- und den Risikonachweis unterschiedliche Qualitätsanforderungen gelten müssen. Dies ist eine Auswirkung des Vorsorgeprinzips, das im Arzneimittelrecht ebenso gilt wie im Arztrecht und im Arzthaftungsrecht bei Behandlungen mit Arzneimitteln (21).
Auf der Akzeptanzebene hat man einen Vorsprung für Bevacizumab durch die Voten der Fachgesellschaften, die durch das Hinzutreten von Ranibizumab auch wegen der vergleichenden Evidenzbeurteilung nicht überholt sind. Insofern kann man bestenfalls von einer Umbruchsituation sprechen, in der sich Lucentis® anschickt, in den Kreis der Standardmedikation aufgenommen zu werden, nicht aber die „alte” Standardmedikation verdrängt.
Es ist selbstverständlich, dass diese Aussage den gegenwärtigen Stand der Entwicklung auf der Erkenntnis- und der Bewertungs-(Empfehlungs-)ebene wiedergibt, der sich durch Erkenntnisgewinn ändern kann. Insofern ist der randomisierte kontrollierte Vergleich zwischen den beiden Behandlungen außerordentlich wünschenswert und notwendig, weil er einerseits den Standard bestätigen, aber andererseits auch einen neuen Standard begründen kann. Eine verlässliche Aussage zum Behandlungsstandard der AMD auf der Basis hochwertiger Evidenz wird erst am Ende der verschiedenen, in England, den USA, Österreich und Deutschland laufenden Vergleichsstudien möglich sein (18).
Medizinische Gründe für OLU: Hierzu zählen insbesondere die Dynamik des medizinischen Fortschritts und die strengen regulatorischen Anforderungen an die Wirksamkeits- und Sicherheitsprüfungen in der Arzneimittelzulassung, die nicht selten zu sehr eng definierten, mitunter auch schwer verständlichen Anwendungsgebieten führen. Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie sind Regelungsdefizite im Sozial- und Arzneimittelrecht dafür verantwortlich, dass Patienten mit chronischen Erkrankungen oder Krebserkrankungen unverzichtbare und wirksame Therapien vorenthalten werden (23). Kritisiert wird von Seiten der pharmazeutischen Industrie, dass für die GKV bei der Bewertung des OLU von neuen, häufig sehr teuren Arzneimitteln ökonomische vor medizinisch-therapeutischen Aspekten rangieren. Verschwiegen wird dabei das häufig mangelnde Interesse der pharmazeutischen Industrie, rechtzeitig Indikationsausweitungen bei bereits recht profitablen Wirkstoffen zu beantragen, und der zunehmende Verordnungsdruck von (pseudo-)innovativen Arzneimitteln, die hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Prüfungen noch nicht ausreichend untersucht sind (1, 4, 24). Die von der pharmazeutischen Industrie inzwischen verfolgten Strategien, wie z.B. die Entwicklung und Zulassung neuer Wirkstoffe für seltene Indikationen und rasche Indikations- und Marktausweitung nach Zulassung der Wirkstoffe, zutreffend unter dem Slogan „Nichebuster” anstelle „Blockbuster” beschrieben (25), werden zu einer weiteren Zunahme des OLU führen. Zu den weiteren Gründen zählen ein persönliches Forschungsinteresse von Ärzten, neue, als innovativ angepriesene Arzneimittel frühzeitig zu verordnen, aber auch der dem Arzt nicht immer bekannte Zulassungsstatus des Arzneimittels.
Risiken des OLU: Unbestritten ist heute, dass der nicht-systematische OLU häufig auf ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, dabei arzneigesetzliche Zulassungsverfahren umgangen, Risiken in der Verordnung neuer Arzneimittel nicht ausreichend beachtet und damit Arzneimittel- und Patientensicherheit gefährdet werden. Insbesondere das Auftreten schwerer UAW mit den in der Pädiatrie und Onkologie Off-Label verwendeten Arzneimitteln ist ein wichtiges und bisher unzureichend beachtetes Problem (13, 26, 27, 28). Da Zulassungsstudien aufgrund der begrenzten Patientenzahl und häufig nur kurzer Beobachtungsdauer nicht in der Lage sind, seltene, aber möglicherweise schwere UAW zu entdecken, wurde in den USA 1998 eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe etabliert (RADAR = Research on Adverse Drug events And Reports), die systematisch schwerwiegende und vorher unbekannte UAW im Rahmen von „postmarketing surveillance”-Programmen auswertete (27) und Informationen über diese UAW durch Publikation in medizinischen Zeitschriften sowie „Dear-Doctor-Letters” verbreitete (26). Diese Untersuchungen ergaben, dass schwere, vorher unbekannte UAW häufig im Zusammenhang mit OLU auftreten, zu dem keine gesicherten wissenschaftlichen Kenntnisse aus kontrollierten klinischen Studien vorliegen. Eine stärkere Beachtung der Pharmakovigilanz ist deshalb beim OLU von besonderer Bedeutung, da derzeit in Deutschland UAW von Ärzten nicht konsequent gemeldet und dementsprechend auch nicht systematisch erfasst werden. Daher führen derartige UAW zu keiner Änderung der Gebrauchsinformation für Ärzte (Fachinformation) bzw. für Patienten (Packungsbeilage), und es erfolgen in der Regel auch keine entsprechenden Warnhinweise.
Sozialrechtliche Lösungsansätze: Ausgelöst durch das Grundsatzurteil des BSG vom 19.3.2002 und zahlreiche Regressanträge gegenüber Vertragsärzten, besonders in der Onkologie, in bis zu 6-stelligen Eurobeträgen wurde vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung im September 2002 eine Expertengruppe „Off-Label” am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einberufen, die fachliche Stellungnahmen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den OLU von zugelassenen Arzneimitteln in der Onkologie erarbeiten sollte. Grundverständnis der Expertengruppe war, dass es Krankheitsbilder gibt, bei denen ein OLU aufgrund des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes medizinisch notwendig und therapeutisch zweckmäßig sein kann. Neben einem ausführlichen Methodenpapier, das als Grundlage für die Abgabe der wissenschaftlichen Aufbereitungen dienen sollte, wurden von dieser ersten Expertengruppe „Off-Label” insgesamt fünf Aufbereitungen erarbeitet und an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) weitergeleitet (29, 30). Diese wissenschaftliche Aufbereitungen haben inzwischen dazu geführt, dass vier onkologische Wirkstoffe als zulässiger OLU in den neuen Abschnitt H der Arzneimittel-Richtlinien (AMR) über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Anlage 9 A) übernommen und zwei onkologische Wirkstoffe als nicht verordnungsfähig (Anlage 9 B) bewertet wurden (31). Gleichzeitig wurden von der Expertengruppe Vorgaben zur Meldung der UAW, insbesondere unter Angabe der Off-Label-Indikation, sowie eine detaillierte Verlaufsdokumentation der für den OLU in der Onkologie zugelassenen Arzneimittel in der Anlage 9 A erarbeitet. Diese auf wissenschaftlich fundierten Aufbereitungen basierenden Beschlüsse des G-BA im Rahmen der AMR tragen zur Rationalisierung der Arzneimitteltherapie bei und sind verbindliche Regelungen hinsichtlich der Off-Label-Verordnung von Arzneimitteln. Sie gelten jedoch nur für Vertragsärzte. Krankenhäuser, in denen Arzneimittel heute ebenfalls sehr häufig Off-Label verordnet werden, bleiben unberücksichtigt.
Die durch Errichtungserlass des BMGS begründete Arbeit der Expertengruppe „Off-Label” wurde mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) zum 1.4.2004 in das SGB V übernommen (29). Im § 35b Abs. 3 des SGB V wurden Expertengruppen gesetzlich verankert und ihre Tätigkeit im Hinblick auf den G-BA präzisiert. Aufgrund dieser Änderungen im Sozialrecht wurde die Tätigkeit der ersten Expertengruppe „Off-Label” am 31.8.2005 beendet und insgesamt drei Expertengruppen für die Fachgebiete Onkologie, HIV/AIDS und Neurologie/Psychiatrie neu berufen. Selbstverständlich kann durch diese Expertengruppen nur ein kleiner Teil des derzeit in Deutschland praktizierten OLU wissenschaftlich bewertet werden. Von Seiten des BMGS wurde jedoch erwartet, dass die Expertengruppen zu besonders häufigen und/oder besonders wichtigen Off-Label-Anwendungen Aussagen treffen, um mit dem Bewertungsverfahren Maßstäbe zu setzen und Entscheidungen über die GKV-Erstattung im G-BA vorzubereiten. Die oben genannten Expertengruppen haben in einer konstituierenden Sitzung am 16.1.2006 ihre Arbeit aufgenommen und bearbeiten derzeit etwa 40 Aufträge, die vom G-BA an sie vergeben wurden. Konkrete Arbeitsergebnisse im Sinne von Bewertungen bzw. wissenschaftlichen Aufbereitungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis hinsichtlich Off-Label eingesetzter Arzneimittel in den genannten Fachgebieten liegen jedoch noch nicht vor. Neben der Fortsetzung der hoffentlich bald produktiven Arbeit dieser Expertengruppen bedarf es deshalb weiterer strategischer Lösungen, um die Off-Label-Problematik zu entschärfen und gleichzeitig eine optimale, neue wissenschaftliche Erkenntnisse rasch umsetzende Arzneimitteltherapie für Patienten mit schweren oder seltenen Erkrankungen zu garantieren.
Durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 1.04.2007 haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für den OLU weiter verändert. Mit Einführung des § 35c SGB V wurde eine zulassungüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln in klinischen Studien als zulässiger, von der GKV zu tragender OLU eingeführt. Voraussetzung für diese Art des OLU ist, dass eine therapierelevante Verbesserung der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung im Vergleich zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten zu erwarten ist und damit verbundene Mehrkosten in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten medizinischen Zusatznutzen stehen. Der G-BA ist 10 Wochen vor Beginn der Arzneimittelverordnung gemäß § 35c SGB V zu informieren und kann innerhalb von 8 Wochen nach Eingang widersprechen, wenn die zuvor genannten Voraussetzungen nicht vorliegen.
Resümee und Perspektive: OLU wird auch in Zukunft in verschiedenen medizinischen Fachgebieten, insbesondere bei seltenen und schweren Erkrankungen, unvermeidbar sein, da der Zulassungsstatus eines Arzneimittels nicht immer dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens entspricht und medikamentöse Standard- bzw. Alternativbehandlungen fehlen oder beim individuellen Patienten erfolglos waren. Eine generelle Lösung des Problems wird durch gesetzliche Vorgaben (z.B. AMG, SGB V) in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. Urteile der Sozialgerichte, durch die in den vergangenen Jahren Klärung hinsichtlich der Leistungspflicht der Krankenkassen bei OLU herbeigeführt wurde, insbesondere das Grundsatzurteil des BSG vom 19.3.2002, und die Arbeit der beim BfArM eingerichteten Expertengruppen sollten auch in der Zukunft als Orientierungsrahmen für Entscheidungen zur Off-Label-Verordnung von Arzneimitteln herangezogen werden.
Ziel der derzeit diskutierten Maßnahmen zur Lösung des Problems OLU sollte sein, die Grauzone des OLU zwischen einerseits Verbesserung der qualitätsgesicherten Versorgung entsprechend dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens und andererseits individueller Therapieentscheidung ohne wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit zu beseitigen. Die von einigen medizinischen Fachgesellschaften in der öffentlichen Debatte über den OLU vorgeschlagenen Lösungsansätze, insbesondere für die Behandlung von Tumorpatienten, wie „indikationsspezifische Positivlisten” und „kontrollierter OLU” sind hierfür jedoch nicht geeignet (3, 32). Der Einsatz von Arzneimitteln aufgrund ihrer Empfehlung in Positivlisten, deren methodische Grundlagen und wissenschaftliche Begründung häufig nicht transparent sind, sowie ein „kontrollierter OLU” außerhalb klinischer Prüfungen bzw. nicht-interventioneller Studien (z.B. Register) ergeben keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Einzelfall hinaus und erlauben auch nicht, unerwünschte Wirkungen der Off-Label eingesetzten Arzneimittel systematisch zu erfassen.
Bei der Diskussion der vielschichtigen Problematik des OLU müssen auch derzeitige Strategien in der Arzneimittelentwicklung durch die pharmazeutische Industrie („Nichebuster anstatt Blockbuster”) beachtet werden (25). Sie werden ebenso wie die auf europäischer Ebene diskutierte Freigabe der Informationen von Patienten über verschreibungspflichtige Arzneimittel durch die pharmazeutische Industrie (33) sowie die weitere Verkürzung der Zulassungsverfahren und somit Verlagerung der Pharmakovigilanz in die Phase nach Marktzulassung (34) eher zu einer weiteren Zunahme als zu einer Eindämmung des OLU führen.
Für eine an den tatsächlichen Bedürfnissen der Patienten orientierte Lösung des Problems wird von großer Bedeutung sein, dass die bereits heute existierenden Instrumente zum systematischen Gewinn medizinischer Erkenntnisse besser genutzt werden. Zu diesen Instrumenten zählen z.B. Therapieoptimierungsstudien und eine Stärkung der unabhängigen Versorgungsforschung, um nach der Zulassung anhand kontrollierter klinischer Studien bzw. Register wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit von Off-Label eingesetzten Arzneimitteln systematisch gewinnen zu können. Darüber hinaus müssen die pharmazeutischen Unternehmer an ihre Pflicht erinnert werden, bei Vorliegen entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit ihrer Arzneimittel rasch eine Zulassungserweiterung zu beantragen. Dabei können sie die in dem Zulassungsverfahren inzwischen zur Verfügung stehenden großen Gestaltungsräume und Anreizsysteme nutzen, wie z.B. beschleunigte Verfahren für die Zulassung von Arzneimitteln bzw. vorläufige, unter Auflagen erteilte Genehmigungen für Arzneimittel zur Behandlung von Patienten mit schweren oder seltenen Erkrankungen. Letztlich werden auch klare Vorgaben der nationalen bzw. europäischen Zulassungsbehörden erforderlich sein, um Nutzen und Schäden der Off-Label eingesetzten Arzneimittel systematisch und quantitativ zu erfassen sowie Ärzte und Patienten über diese Ergebnisse zu informieren und Marketingstrategien mit dem Ziel der Ausweitung des OLU wirksam zu unterbinden.
(Ein Teil dieser Arbeit wurde bereits veröffentlicht in: Berliner Ärzte 2008, Nr. 7, 14.)
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