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Erstbehandlung von Patienten mit fokaler Epilepsie: welches Antiepileptikum?

Zusammenfassung: Bereits 2007 hatte die SANAD-Studie Vorteile des Antiepileptikums Lamotrigin gegenüber der damaligen Referenzsubstanz Carbamazepin gezeigt, sowie auch gegenüber Gabapentin und Topiramat. Die SANAD-II-Studie fand nun, dass Lamotrigin auch im Vergleich mit dem in Deutschland derzeit mit Abstand am häufigsten eingesetzten Antiepileptikum Levetiracetam bei mindestens gleich guter – möglicherweise stärkerer – Wirksamkeit besser verträglich ist. Insbesondere psychische Nebenwirkungen traten unter Lamotrigin seltener auf. Da die Lebensqualität der Patienten mit Epilepsie neben der Anfallskontrolle wesentlich durch die Verträglichkeit der antikonvulsiven Medikation bestimmt wird (18), sollte vorzugsweise Lamotrigin bei der Erstbehandlung fokaler Epilepsien eingesetzt werden. Das Risiko von Herzrhythmusstörungen durch Lamotrigin dürfte vermutlich gering sein, kann aber noch nicht abschließend beurteilt werden. Bei höhergradigen Störungen der kardialen Erregungsleitung sollten Lamotrigin und andere Antiepileptika mit Wirkung auf Natrium-Kanäle eher nicht eingesetzt werden. Levetiracetam sollte der Vorzug gegeben werden, wenn eine sehr rasche Aufdosierung erforderlich ist. Zonisamid, das in Deutschland selten verordnet wird (4), hat keine Vorteile gegenüber anderen Antiepileptika.

Eine Epilepsie kann diagnostiziert werden, wenn mindestens zwei nicht provozierte epileptische Anfälle aufgetreten sind oder wenn nach einem erstmaligen nicht-provozierten Anfall Hinweise auf ein Rezidivrisiko bestehen (z.B. bei einem Hirntumor). Die Unterscheidung zwischen fokalen und generalisierten Epilepsien ist aus prognostischen Gründen, aber auch hinsichtlich der Wahl des am besten geeigneten Antiepileptikums (AE) wichtig. Sie gelingt in der Regel unter Berücksichtigung des Anfallstyps, der Diagnostik mittels EEG und zerebraler Bildgebung sowie der Familienanamnese. Fokalen Epilepsien liegt eine strukturelle Ursache zugrunde, die nicht immer identifizierbar ist; sie haben einen Häufigkeitsgipfel im höheren Lebensalter und machen etwa zwei Drittel der Epilepsien aus. Generalisierte Epilepsien werden auf genetische Ursachen zurückgeführt und treten typischerweise im Kinder- und Jugendalter auf.

Die umsichtige Auswahl des AE ist von großer Bedeutung, da in der Regel eine langfristige Therapie erforderlich ist und somit neben der Wirksamkeit auch die Verträglichkeit eine große Rolle spielt. In den letzten 30 Jahren sind zahlreiche neue AE mit unterschiedlichen Wirkmechanismen verfügbar geworden, sowohl für fokale als auch für generalisierte Epilepsien. Gegenüber den „alten“ AE (z.B. Carbamazepin, Phenytoin, Valproinsäure) haben die neuen AE einige Vorteile: Sie führen nicht bzw. seltener zu Arzneimittelinteraktionen und haben meist ein geringeres Risiko idiosynkratischer Arzneimittelreaktionen (1). Die neuen AE sind jedoch nicht wirksamer als die alten (2, 3) und sind – entgegen verbreiteter Annahme – auch meist nicht besser verträglich (1, 3).

Die Zulassung neuer AE erfolgt initial stets als Zusatztherapie („add-on“), d.h. in der Regel zur Zusatzbehandlung schwer behandelbarer (pharmakoresistenter) Epilepsien. Danach werden von den pharmazeutischen Unternehmern (pU) oft weitere Studien durchgeführt, um auch eine Zulassung als Monotherapie zu erlangen. Inzwischen sind zur Monotherapie fokaler Epilepsien bei Erwachsenen 13 Wirkstoffe zugelassen. Die Auswahl richtet sich vorwiegend nach dem Nebenwirkungsspektrum und dem Interaktionspotenzial, da für eine überlegene Wirksamkeit einzelner Wirkstoffe kaum evidenzbasierte Hinweise vorliegen. Die mit Abstand am häufigsten verordneten AE sind Levetiracetam und Pregabalin, wobei letzteres gar nicht mehr als AE, sondern fast nur noch bei neuropathischen Schmerzen verordnet wird (4). Die meisten Studien zu AE werden von pU finanziert und deshalb u.a. wegen der kurzen Nachbeobachtungsdauer, der Selektion „unkomplizierter“ Patienten und der starren, nicht individualisierten Dosierungen kritisiert (5). Sogenannte pragmatische Studien haben zwar den Nachteil der fehlenden Verblindung, gleichen diesen aber aus durch: 1. einfaches, kostengünstiges Studiendesign mit nur wenigen Ausschlusskriterien; 2. individuelle Dosierungen; 3. lange Studiendauer und große Studiengruppen, die den klinischen Alltag besser abbilden. Darüber hinaus können sie industrieunabhängig finanziert werden.

Gemäß der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie sollte die Erstbehandlung fokaler Epilepsien bevorzugt mit Levetiracetam oder Lamotrigin erfolgen (6, 7). Diese Empfehlung wird weniger mit einer Evidenz aus Studien als mit der Erfahrung von Epileptologen begründet, dass diese beiden AE gut wirksam und am besten verträglich seien. Beide Wirkstoffe sind seit > 20 Jahren in Deutschland als AE zugelassen und inzwischen als Generika verfügbar. Für Lamotrigin besteht seit 2003 zudem die Zulassung zur Phasenprophylaxe depressiver Episoden bei bipolaren Störungen. Levetiracetam hat den Vorteil, dass es sehr rasch aufdosiert werden kann. Beim Status epilepticus (Off-label) kann dies sogar intravenös innerhalb von etwa einer Stunde erfolgen (8). Dagegen muss die Aufdosierung von Lamotrigin sehr langsam, d.h. über Wochen, erfolgen, um das Risiko eines potenziell lebensbedrohlichen allergischen Arzneimittelexanthems, inklusive eines Stevens-Johnson-Syndroms, zu minimieren. Für Lamotrigin spricht, dass eine sehr große pragmatische Vergleichsstudie zur Behandlung fokaler Epilepsien (SANAD) eine bessere Verträglichkeit gegenüber anderen AE (Carbamazepin, Gabapentin, Topiramat) bei mindestens gleich guter Wirksamkeit gezeigt hat (9). Demgegenüber fand eine weitere große pragmatische Studie (10) keinen Vorteil von Levetiracetam gegenüber Carbamazepin hinsichtlich Therapieabbrüchen wegen Nebenwirkungen (NW) oder mangelnder Wirksamkeit. Häufige NW unter Levetiracetam sind Reizbarkeit, Aggression und Depression (11).

Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) warnte 2020 vor dem Einsatz von Lamotrigin bei Patienten mit Herzerkrankungen, da es als Natrium-Kanal-Blocker zu Störungen der ventrikulären Erregungsleitung führen könnte (12). Grundlage dieser Warnung ist eine 2011 veröffentlichte in-vitro-Studie (13) sowie unpublizierte in-vitro-Daten des pU GlaxoSmithKline (14). Die Warnung wurde von internationalen, US-amerikanischen und deutschen Epilepsie-Fachgesellschaften kritisiert, da keine klinischen Daten vorliegen, die für ein kardiales Risiko unter Behandlung mit Lamotrigin sprechen (14, 15). Bei Personen ohne kardiale Erkrankung wurden unter Lamotrigin keine relevanten Veränderungen der kardialen Erregungsleitung beobachtet (14). Bei Patienten mit einer kardialen Erkrankung und solchen über 60 Jahren empfehlen die Fachgesellschaften derzeit, vor Therapiebeginn mit Lamotrigin ein EKG zu erwägen; bei Störungen der kardialen Erregungsleitung sollten die Vor- und Nachteile der Therapie abgewogen werden (14, 15). Inzwischen hat die FDA „Postmarketing“-Studien für 10 weitere AE angeordnet, die als Natrium-Kanal-Blocker wirken (z.B. Carbamazepin, Topiramat), um das Risiko für Herzrhythmusstörungen zu eruieren (16). Der Wirkmechanismus von Levetiracetam ist weitgehend unklar.

Bei der SANAD-II-Studie handelt es sich um eine pragmatische, multizentrische, offene, randomisierte, kontrollierte Studie (Phase IV), die mit öffentlichen Geldern finanziert wurde (17). Ziel war es, die langfristige klinische Wirksamkeit und Kosteneffizienz von drei zur Monotherapie fokaler Epilepsien zugelassenen Antikonvulsiva (Lamotrigin, Levetiracetam, Zonisamid) zu untersuchen. Eingeschlossen wurden Patienten ab dem 5. Lebensjahr mit einer fokalen Epilepsie und mindestens zwei unprovozierten epileptischen Anfällen und einer Indikation zur erstmaligen antikonvulsiven Langzeittherapie. Ausschlusskriterium war eine progressive neurologische Erkrankung (z.B. Hirntumor). Die Randomisierung zu einer Behandlung mit Lamotrigin, Levetiracetam und Zonisamid erfolgte 1:1:1. In allen drei Studienarmen konnte die Dosis individuell angepasst werden. Empfehlungen für eine tägliche Erhaltungsdosis waren bei Teilnehmern ab dem 12. Lebensjahr für Lamotrigin 150 mg, Levetiracetam 1.000 mg und Zonisamid 200 mg; bei Kindern bestanden gewichtsadaptierte Dosisempfehlungen. Die Studiendauer betrug 7,5 Jahre mit einer minimalen Nachverfolgungszeit von 2 Jahren. Die Studie wurde primär zum Nachweis der Nichtunterlegenheit von Levetiracetam und Zonisamid gegenüber Lamotrigin als Referenzsubstanz durchgeführt.

Es wurden 990 Patienten (57% Männer) eingeschlossen, die vor Studieneinschluss im Median 6 Anfälle hatten. Das mittlere Alter betrug 39,3 Jahre und 18% der Studienteilnehmer waren jünger als 18 Jahre. Bei 16% war eine weitere neurologische Störung bekannt. Für Levetiracetam konnte die Nichtunterlegenheit gegenüber Lamotrigin hinsichtlich des primären Endpunkts (Dauer bis zu einer zwölfmonatigen Remission von Anfällen, also die Zeit zwischen der Randomisierung und dem ersten Tag, an dem eine anfallsfreie Periode von 12 Monaten bestand) in der „Intention-to-treat“-Analyse (ITT) nicht nachgewiesen werden (Hazard Ratio = HR: 1,18; 97,5%-Konfidenzintervall = CI: 0,95-1,47). Dagegen war Zonisamid gegenüber Lamotrigin hinsichtlich des primären Endpunkts nicht unterlegen (HR: 1,03; CI: 0,83-1,28). In einer zusätzlichen Per-Protokoll-Analyse zeigte sich eine Überlegenheit von Lamotrigin gegenüber Levetiracetam (HR: 1,32; CI: 1,05-1,66) und Zonisamid (HR: 1,37; CI: 1,08-1,73) hinsichtlich der zwölfmonatigen Remission von Anfällen. Unter Lamotrigin gab es signifikant seltener ein Therapieversagen (Absetzen der Studienmedikation bzw. Hinzufügen eines weiteren AE wegen mangelnder Wirkung oder NW) als unter Levetiracetam (HR: 0,60; CI: 0,46-0,77) und Zonisamid (HR: 0,46; CI: 0,36-0,60). Therapieversagen aufgrund von NW trat unter Levetiracetam häufiger auf als unter Lamotrigin (HR: 0,53; CI: 0,35-0,79), nicht aber wegen unzureichender Anfallskontrolle (HR: 0,76; CI: 0,45-1,01). Auch unter Zonisamid waren NW signifikant häufiger als unter Lamotrigin die Ursache für ein Therapieversagen (HR: 0,37; CI: 0,25-0,55), nicht aber mangelnde Wirksamkeit (HR: 0,76; CI: 0,50-1,15). Bei den NW fiel auf, dass psychische Störungen häufiger unter Levetiracetam (30%) und Zonisamid (23%) auftraten als unter Lamotrigin (13%). Bei Erwachsenen war Lamotrigin mit einer besseren Lebensqualität (Erfassung mittels standardisierter Fragebögen) assoziiert als Levetiracetam und Zonisamid. Die krankheitsbedingten Kosten waren unter Lamotrigin (4.042 £, ca. 4.765 €) niedriger als unter Levetiracetam (5.104 £, ca. 6.017 €) und Zonisamid (5.400 £, ca. 6.365 €).

Literatur

  1. Alsfouk, B.A.A., et al.: JAMA Neurol. 2020, 77, 574. Link zur Quelle
  2. Chen, Z., et al.: JAMA Neurol. 2018, 75, 279. Link zur Quelle
  3. Löscher, W., und Schmidt, D.: Epilepsia 2011, 52, 657. Link zur Quelle
  4. Schwabe, U.: Antiepileptika. In: Schwabe, U., Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
  5. Chadwick, D., und Marson, T.: Epilepsia 2007, 48, 1259. Link zur Quelle
  6. https://dgn.org/wp-content/uploads/2017/04/ 030041_LL_Erster-epileptischer-Anfall_2017.pdf Link zur Quelle
  7. http://www.dgfe.org/cweb2/ cgi-bin-noauth/cache/VAL_BLOB/5038/5038/1355/ Therapieempfehlungen%20Fokale%20Epilepsi Link zur Quelle
  8. https://dgn.org/wp-content/uploads/ 2020/08/030079_LL_Status-epilepticus_2020-1.pdf Link zur Quelle
  9. Marson, A.G., et al. (SANAD = Standard And New Antiepileptic Drugs): Lancet 2007, 369, 1000. Link zur Quelle
  10. Trinka, E., et al. (KOMET = Keppra vs. Older Monotherapy in Epilepsy Trial): J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 2013, 84, 1138. Link zur Quelle
  11. https://www.ema.europa.eu/en/documents/ product-information/ keppra-epar-product-information_de.pdf Link zur Quelle
  12. https://gskpro.com/content/dam/global/hcpportal/ en_US/Prescribing_Information/ Lamictal/pdf/LAMICTAL-PI-MG.PDF Link zur Quelle
  13. Harmer, A.R., et al.: Br. J. Pharmacol. 2011, 164, 260. Link zur Quelle
  14. French, J.A., et al.: Epilepsia Open 2021, 6, 45. Link zur Quelle
  15. http://www.dgfe.org/cweb2/ cgi-bin-noauth/cache/VAL_BLOB/7869/7869/ 1920/Stellungnahme%20Lamotrigin-24032021.pdf Link zur Quelle
  16. https://www.fda.gov/drugs/drug-safety-and-availability/ studies-show-increased-risk-heart- rhythm-problems-seizure-and-mental-health-medicine- lamotrigine Link zur Quelle
  17. Marson, A., et al. (SANAD II = Standard And New Antiepileptic Drugs II): Lancet 2021, 397, 1363. Link zur Quelle
  18. Gilliam, F.: Neurology 2002, 58 (Suppl. 5), S9. Link zur Quelle