Metformin (MF) wird seit den positiven Ergebnissen der britischen UKPDS-Studien (1, 2) als orales Antidiabetikum (OAD) der 1. Wahl für die meisten Diabetiker mit Typ 2 empfohlen. Da MF überwiegend unverändert renal ausgeschieden wird und hohe MF-Blutspiegel die Entstehung der seltenen, aber oft letalen Laktatazidose begünstigen, soll MF bei Diabetikern mit Niereninsuffizienz nicht verordnet werden. Die Food and Drug Administration (FDA) der USA hat deshalb bereits 1994 empfohlen, MF bei Diabetikern mit Serum-Kreatinin-Konzentrationen > 133 µmo/l (> 1,5 mg/dl) bei Männern und > 124 µmol/l (> 1,4 mg/dl) bei Frauen nicht einzusetzen. Die gängige Empfehlung lautet – auch in Beipackzetteln von MF-Präparaten: kein MF bei einer GFR von < 60 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche (berechnet nach der Cockcroft-Gault-Formel).
Im Lancet Diabetes Endocrinology erschien jetzt eine Publikation aus Taipeh (Republik Taiwan), in der die Gesamtletalität bei Diabetikern mit hochgradiger Niereninsuffizienz, die entgegen den geltenden Richtlinien in den USA und Europa noch mit MF behandelt worden waren, mit der Letalität von nicht mit MF Behandelten verglichen wurde (3). Die nationale FDA der Republik Taiwan hat nämlich die oben erwähnte Empfehlung der US-FDA erst im Jahr 2009 übernommen, so dass in Taiwan bis 2009 noch Typ-2-Diabetiker mit höhergradiger Niereninsuffizienz mit MF behandelt wurden. Diese Verzögerung wurde auch damit begründet, dass viele Teilnehmer in den UKPDS-Studien niereninsuffizient waren, jedoch die Inzidenz von Laktatazidosen extrem niedrig war (4). Ähnlich niedrig war auch die Inzidenz von Laktatazidosen in einer kürzlich von Inzucchi et al. publizierten Studie (5). Während das Risiko der Einnahme von MF bei leicht eingeschränkterNierenfunktion umstritten ist, ist hierzulande die Verordnung von MF bei Patienten kurz vor der Indikation zur Nierenersatztherapie seit langem obsolet.
In der Kohortenstudie aus Taipeh von Hung et al. (3) wurden niereninsuffiziente Diabetiker mit Kreatininwerten > 530 µmol/l (Niereninsuffizienz etwa Stadium 5) untersucht. Die Autoren benutzten die Taiwan national health insurance data base, um Patienten aufzufinden, die für diese retrospektive Untersuchung zwischen den Jahren 2000-2009 infrage kamen. Nur solche Patienten wurden eingeschlossen, die mit Erythropoietin-Präparaten wegen renaler Anämie behandelt wurden. Diese Therapie wurde in Taiwan nur bei Kreatininwerten > 530 µmol/l von den Krankenkassen bezahlt. Patienten mit Nierenersatztherapie wurden nicht in die Studie eingeschlossen.
Zunächst zeigte es sich, dass die mit MF behandelten Diabetiker mit Niereninsuffizienz im Stadium 5 weniger lange Diabetes und weniger kardiovaskuläre Erkrankungen hatten als die ohne MF behandelten. Von den anfangs erfassten 1.005 MF- und 11.345 Nicht-MF-Patienten wurden am Ende 813 bzw. 2.439 Patienten mittels eines „Propensity Score Matching“ im Verhältnis 1:3 so abgeglichen, dass sich kein Ausgangs-Merkmal signifikant unterschied, wie beispielsweise Alter, Anteil von Frauen/Männern, Komorbiditäten, Typ der Antihypertensiva und Antidiabetika, einschließlich Insulinen.
Dann wurde die Gesamtletalität bei einer medianen Beobachtungszeit von 2,1 Jahren (Bandbreite 0,3-9,8 Jahre) aus der Datenbank ermittelt. Die Letalität betrug 53% in der MF- und 41% in der Nicht-MF-Kohorte (adjustierte Hazard ratio = HR: 1,35; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,2-1,51; p < 0,0001). Es ergab sich darüber hinaus, dass die Letalität bei den mit höheren täglichen Dosen MF behandelten Patienten höher war (HR: 1,10 bei Dosierungen < 500 mg/d; HR: 1,53 bei > 1000 mg/d), also eine Dosisabhängigkeit. Die adjustierte HR für Laktatazidosen war mit 1,30 (CI: 0,88-1,93) bei MF-Benutzern zwar ebenfalls erhöht, jedoch ergab sich keine signifikante Dosisabhängigkeit.
Obwohl die Ergebnisse dieser Studie (erhöhte Letalität bei kontraindizierter Behandlung von fast dialysepflichtigen Diabetikern mit MF) nicht überraschen, lenken sie doch das Interesse auf die Inzidenz von MF-induzierten metabolischen Azidosen bei nicht so ausgeprägter Niereninsuffizienz.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) hat 2013 über vermehrte Meldungen von Laktatazidosen unter Behandlung mit MF berichtet (6, 7). Die Gründe für die Zunahme sind nicht klar, möglicherweise sind sie Folge der häufigeren Verordnung von MF, besonders bei älteren Patienten, bei denen die Nierenfunktion naturgemäß verringert ist.
Im Rahmen eines europäischen Worksharing Verfahrens wurde 2014 aufgrund der Bewertung neuer Daten zur Sicherheit der Anwendung von MF bei Patienten mit Niereninsuffizienz die Grenze für die Kreatinin-Clearance, ab welcher MF kontraindiziert ist, von zuvor < 60 ml/min/1,73 m2 auf < 45 ml/min/1,73 m2 gesenkt. Die maximale Tagesdosis für diese Patienten ist auf 1000 mg beschränkt, gegeben in zwei Einzeldosen. Die Nierenfunktion muss engmaschig (alle 3-6 Monate) kontrolliert und MF sofort abgesetzt werden, wenn die Kreatinin-Clearance unter 45 ml/min/1,73 m2 fällt (vgl. 8, 9). Dies kann allerdings bei bereits deutlich eingeschränkter Nierenfunktion rasch geschehen, z.B. als Folge von Infektionen, Diarrhö, Erbrechen oder Dehydratation sowie bei Beginn einer Therapie mit Antihypertensiva, Diuretika oder nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAID). Der bisherige „Sicherheitsabstand“ wird durch den neuen Grenzwert deutlich kleiner.
In einem Kommentar zur der besprochenen Studie aus Taiwan in der gleichen Ausgabe des Lancet Diabetes Endocrinology empfehlen K. Kalantar-Zadeh und C.M. Rhee aus Los Angeles (10), dem zunehmenden Druck von Endokrinologen und Nephrologen in Richtung einer Liberalisierung der MF-Behandlung bei Diabetikern mit leichter bis moderater Niereninsuffizienz nicht statt zu geben. Sicherheit der Patienten sei das erste Gebot in der klinischen Medizin.
Fazit: Eine Kohortenstudie aus Taiwan ergab, dass die Behandlung von hochgradig niereninsuffizienten Typ-2-Diabetikern mit Metformin mit einer um ca. ein Drittel höheren Gesamtletalität assoziiert ist als ohne Behandlung mit Metformin (unabhängiger Risikofaktor). Bei leichter Niereninsuffizienz und Behandlung mit Metformin ist die gefürchtete Metformin-induzierte Laktatazidose selten. Die bisherige Grenze der Kreatinin-Clearance, ab der Metformin u.a. wegen dieser potenziellen Nebenwirkung als kontraindiziert galt, wurde kürzlich von 60 ml/min/1,73 m2 auf 45 ml/min/1,73 m2 gesenkt, verbunden mit zusätzlichen Empfehlungen zur häufigeren Kontrolle der Nierenfunktion (vgl. 5, 8, 9, 11). Wir sehen diese Lockerung der Kontraindikation von Metformin kritisch (vgl. 10), weil sich eine bereits deutlich eingeschränkte Nierenfunktion, wie sie bei älteren Patienten oft besteht, durch viele Faktoren (s.o.) verschlechtern kann und dann rasch eine Kontraindikation besteht.
Literatur
- UKPDS24 = UK Prospective Diabetes Study 24: Lancet 1998,352, 854 Link zur Quelle . Erratum: Lancet 1998, 352, 1558. AMB 1998, 32,81. Link zur Quelle
- Holman,R.R., et al. (UKPDS 80 = UK Prospective Diabetes Study80): N. Engl. J. Med. 2008, 359, 1577. Link zur Quelle. AMB 2008, 42, 94. Link zur Quelle
- Hung, S.C., et al.: Lancet DiabetesEndocrinology 2015, 17. Juni. Epub ahead of print. Link zur Quelle
- Richy,F.F., et al.: Diabetes Care 2014, 37, 2291. Link zur Quelle
- Inzucchi, S.E.,et al.: JAMA 2014, 312, 2668. Link zur Quelle
- http://www.aerzteblatt.de/archiv/135252/Arzneimittelkommission-der-deutschen-Aerzteschaft-Aus-der-UAW- Datenbank-Zunahme-von-Spontanberichten-ueber-Metformin-assoziierte-Laktatazidosen?src=search Link zur Quelle
- http://www.aerzteblatt.de/archiv/literatur/135252 Link zur Quelle
- http://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/ RI/2015/RI-metformin.html Link zur Quelle
- http://www.aerzteblatt.de/archiv/170523/Moderate-Nierenfunktionsstoerung- bei-Diabetes-Metformin- kann-in-reduzierter-Dosis-gegeben-werden?src=search Link zur Quelle
- Kalantar-Zadeh,K., und Rhee, C.M.: Lancet Diabetes Endocrinol. 2015, 17. Juni. Epub ahead ofprint. Link zur Quelle
- Lipska, K.J., et al.: Diabetes Care2011, 34, 1431. Link zur Quelle