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Alkoholentzugssyndrom. Prävention von schweren Symptomen, Delirium tremens und Krampfanfällen

Alkoholismus ist weltweit auch ein großes medizinisches Problem, das erhebliche Kosten verursacht. In Deutschland wird die Zahl alkoholkranker Menschen auf ca. 3 Millionen geschätzt; 5-15% entwickeln bei Alkoholabstinenz schwere Entzugssymptome, die von persönlicher Disposition, Trinkdauer, Trinkmenge und Alkoholgehalt der konsumierten Getränke abhängig sind (6, 9).

Pathophysiologie: Die pathophysiologischen Mechanismen des Alkoholentzugs sind nicht vollständig erklärt (1, 6, 9). Alkohol wirkt in geringen Mengen zentral anregend, in größeren Mengen dämpfend. Nahezu alle Transmittersysteme des ZNS werden beeinflußt. Bei Abstinenz kommt es durch Wegfall der dämpfenden Wirkungen des Alkohols zum Überwiegen exzitatorischer Mechanismen (2, 4, 6). Folgende Systeme sind daran beteiligt:
1. GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist der wichtigste hemmende Transmitter; dessen Wirkung durch Alkohol verstärkt wird. Kompensatorisch nehmen die GABA-Rezeptoren ab.
2. Glutamat gilt als wichtigster aktivierender Transmitter, der durch Alkohol gehemmt wird. Kompensatorisch sind die Glutamat-Rezeptoren vermehrt. Glutamat soll an der Auslösung von Krämpfen beteiligt sein.
3. Dopamin-Rezeptoren nehmen unter Alkohol ab und steigen bei Abstinenz wieder an. Es wird vermutet, daß dieser Mechanismus bei der Auslösung von Halluzinationen eine Rolle spielt.
4. Zur Überaktivität des Sympathikus mit vegetativen Erscheinungen kommt es durch Abnahme inhibitorischer á2-Rezeptoren.
5. Die Abnahme von Azetylcholin-Rezeptoren soll zu kognitiven Defiziten führen.
6. Kindling, ein neurophysiologisches Phänomen, beschreibt eine Sensibilisierung des ZNS, bei der wiederholte unterschwellige Reize zu Nachentladungen im Gehirn führen. Die Schwelle für Nachentladungen wird zunehmend geringer; dadurch können Entzugssymptome und Krampfanfälle begünstigt werden. Möglicherweise werden auch Persönlichkeitsveränderungen in Gang gesetzt.

Symptome: Nach Entwicklung einer alkoholinduzierten Toleranz kann jede Abnahme der Alkoholkonzentration gewollt oder ungewollt, z.B. wegen akuter Krankheit, Krankenhausaufnahme oder durch relative nächtliche Abstinenz, zum Auftreten von Entzugserscheinungen führen. Die Symptome sind unterschiedlich und unterschiedlich schwer; sie werden klinisch beurteilt (1). Es gibt viele Stadieneinteilungen der Entzugssymptomatik, jedoch keine mit genereller Akzeptanz. Dadurch ergeben sich auch Probleme beim Vergleich von Studien. Es ist darüber hinaus nicht allgemein verbindlich möglich, den Therapieerfolg zu messen. Im allgemeinen unterscheidet man leichte und schwere Entzugssymptome:

Leichte bis mittelschwere Entzugssymptome. Dies sind Unwohlsein, Schwäche, psychomotorische Unruhe, Tremor, Erhöhung der Herz- und Atemfrequenz, der Temperatur und des Blutdrucks, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Alpträume, Ängstlichkeit, Dysphorie, Euphorie.

Schwere Symptome bzw Delir. Dazu gehören starke vegetative Entgleisung, Orientierungsstörungen, Halluzinationen, starke Agitation, generalisierte Krampfanfälle.

Pharmakotherapie: Zur Behandlung der Entzugserscheinungen werden je nach Art und Ausmaß mehrere, sehr unterschiedliche Medikamente eingesetzt. Die Ziele der Therapie sind (6, 9):
1. Dämpfung der psychomotorischen Unruhe
2. Dämpfung der vegetativen Symptome
3. Anheben der Krampfschwelle
4. antipsychotische Wirkung.

Die verwendeten Medikamente sollten möglichst alle Zielsymptome günstig beeinflussen. Ist dies nicht möglich, sind Kombinationen erforderlich (1-4, 6, 9). Im folgenden werden die in Frage kommenden Pharmaka kurz charakterisiert:

Clomethiazol (Distraneurin): breites Wirkungsspektrum; sedierend durch Verstärkung der GABA-Wirkung, sehr gut antikonvulsiv, antiadrenerg, gering antipsychotisch wirksam; gut mit Neuroleptika kombinierbar; durch die kurze Halbwertszeit (3 h) gut steuerbar; geringe therapeutische Breite; Suchtpotential. Nebenwirkungen: starke Bronchialsekretion, Hypersalivation, Erbrechen, Atemdepression. Wird in Deutschland beim einfachen Entzug häufig, beim schweren fast obligat eingesetzt. Dosierung: oral initial 2-4 Kaps. (384-768 mg), weiter 2 Kaps. alle 2 h; maximale Tagesdosis 24 Kps. Bei i.v. Gabe: 40-100 ml (320-800 mg) als Bolus, danach weiter 30-120 ml/h; nur unter intensiv-medizinischer Überwachung, rasche Umstellung auf orale Gabe anstreben.

Benzodiazepine: Verstärkung der GABA-Wirkung; sehr gut antikonvulsiv, mäßig antiadrenerg, anxiolytisch wirksam; keine antipsychotische Wirkung; große therapeutische Breite; eingeschränkt steuerbar (Kumulation); Suchtpotential. Dosierung: Diazepam (Valium u.v.a.) 10 mg, Chlordiazepoxid (Multum, Radepur) 25-50 mg, Dikaliumclorazepat (Tranxilium) 25-50 mg ca. alle 4-6 h.

Hochpotente Neuroleptika: Haloperidol (Haldol u.v.a.): Hemmung von Dopamin; gute antipsychotische Wirkung; kein antiadrenerger Effekt; senkt die Krampfschwelle; gut steuerbar; große therapeutische Breite; kein Suchtpotential. Nebenwirkungen: extrapyramidale Symptome. Dosierung: parenteral maximal 60 mg, oral maximal 100 mg.

Clonidin (Paracefan u.a.): zentrale Dämpfung durch á2-Agonismus; sehr gut antiadrenerg, nicht antipsychotisch und nicht antikonvulsiv wirksam; gut steuerbar; große therapeutische Breite; kein Suchtpotential. Nebenwirkungen: ausgeprägte Bradykardie und Hypotension möglich; Rebound-Symptome bei schnellem Absetzen; bei hohen Dosen selten Pseudoobstruktionsileus des Kolons (Ogilvie-Syndrom) möglich (7). Dosierung: oral 3mal 0,300 mg. Bei i.v. Gabe 0,150 mg als Bolus, dann weiter 0,03-0,225 mg/h.

Carbamazepin (Tegretal u.v.a.): bei leichteren Symptomen einsetzbar; bei ausgeprägtem Delir unzureichende Wirkung; kein Suchtpotential. Nebenwirkungen: Schwindel, Ataxie, Tremor; manchmal schon im oberen therapeutischen Bereich; potentiell lebertoxisch; selten aplastische Anämie; teratogen. Dosierung: 600-1200 mg/d.

Andere Medikamente: Alkohol ist als obsolet anzusehen. Betarezeptoren-Blocker haben eine geringere Wirkung als Clonidin. Kalzium-Antagonisten (Nimodipin = Nimotop) und Piracetam (Normabrain u.v.a.) als GABA-Derivat konnten sich bisher nicht durchsetzen (9).

Es stellt sich die Frage, mit welchem Medikament und bei welchem Schweregrad der Entzugssymptome ein Patient behandelt werden soll, besonders vor dem Hintergrund, daß einige Medikamente Sucht erzeugen können. In einem Review-Artikel der American Society of Addiction Medicine wurde die Literatur von 1966 bis 1995 ausgewertet (3). Entsprechend dem Studiendesign, der eingeschlossenen Patientenzahl und der daraus resultierenden statistischen Aussagekraft konnten folgende Schlüsse gezogen und Empfehlungen gegeben werden:

Benzodiazepine reduzieren die lnzidenz eines Delirs um 4,9 Fälle/100 Patienten; Krampfanfälle treten bei 7,7 Fällen/100 Patienten seltener auf.

Für Clomethiazol konnte gezeigt werden, daß es Entzugssymptome reduziert. Eine Aussage bezüglich Prävention von Delir und Krampfanfällen ließen die Studien nicht zu.

Betarezeptoren-Blocker, Clonidin bzw. Carbamazepin mildern die Entzugssymptome. Es gibt aber keinen Beweis dafür; daß sie Delire und Krampfanfälle vermeiden können. Sie können wie auch Neuroleptika adjuvant eingesetzt werden; zur Monotherapie gibt es keine Empfehlung. Obwohl in den USA 10% der Entzugsbehandlungen mit Barbituraten durchgeführt werden, gibt es auch dazu keine kontrollierten Studien. Darüber hinaus existieren keine Studien zur Therapie bei Jugendlichen, Älteren, Schwangeren und Patienten mit einer anderen begleitenden Sucht.

Es wurde festgestellt, daß durch eine individuelle, an den Symptomen orientierte Therapie der Medikamentenverbrauch reduziert und die Therapiedauer verkürzt werden kann (5). Für eine individuelle Therapie ist allerdings ein Bewertungssystem erforderlich, das festlegt, wann eine solche Therapie beginnen muß und mit dem der Verlauf bzw. der Therapieerfolg kontrolliert werden kann.

Eine bewährte Skala ist die CIWA-Ar (Clinical Institute Withdrawal Assessment-Alcohol revised; 3, 5, 6, 8). Bei dieser Bewertungsskala (sie kann bei der Redaktion des AMB angefordert werden) werden für 10 Symptome jeweils entsprechend dem Schweregrad 0-7 Punkte vergeben. Berücksichtigt werden 1. Übelkeit und Erbrechen, 2. Tremor, 3. paroxysmales Schwitzen, 4. Ängstlichkeit, 5. Agitiertheit, 6. taktile Halluzination, 7. akustische Halluzination, 8. optische Halluzination, 9. Kopfschmerzen, 10. Orientierung. Zusätzlich erfolgen Messungen von Herzfrequenz und Blutdruck. Der Score wird alle 4 bis 8 h neu ermittelt, bis die Werte < 8-10 länger als 24 h bestehen. Außerdem wird der Score jeweils 1 h nach einer verabreichten Medikamentendosis bestimmt. Empfohlen wird: CIWA-Ar < 8-10: Es ist keine Medikation erforderlich.
CIWA-Ar 8-15: Patienten profitieren von einer Medikation. Das Risiko für Komplikationen kann reduziert werden.
CIWA-Ar > 15: Es besteht ein signifikantes Risiko für Komplikationen. Patienten sollen die Menge an Medikation erhalten, die zur Kontrolle der Symptome erforderlich ist. Langwirkende Benzodiazepine sind besser zur Verhütung von Anfällen geeignet, und es treten weniger Rebound-Symptome auf. Demgegenüber führen kurzwirkende Benzodiazepine zu weniger Übersedierung. Alle Patienten sollten Vitamin B1 erhalten. Während eines Alkoholentzugs ist Magnesium im Serum häufig erniedrigt. Eine Substitution führte allerdings nicht zu einer signifikanten Änderung der Symptome (3). Clonidin und Haloperidol sind zur Kontrolle vegetativer und psychotischer Symptome gut geeignet und können sedierende Medikamente einsparen.

Literatur

1. Dittmar, G.: Medizinische Klinik 1991, 86, 607.
2. Harrison s Principles of Internal Medicine. Fauci, A.S., et al. (Hrsg.). McGraw-Hill, New York. 1998. 14. Aufl., S. 2506.
3. Mayo-Smith, M.: JAMA 1997, 278, 144.
4. Rommelspacher, H., et al.: Nervenarzt 1991, 62, 649.
5. Saitz, R., et al.: JAMA 1994, 272, 519.
6. Schröder-Rosenstock, K., und Busch, H.: Z. ärztl. Fortbild. 1996, 90, 301.
7. Stieger, D.S., et al.: Intensive Care Medicine 1997, 23, 780.
8. Sullivan, J.T., et al.: Brit. J. Addiction 1989, 84, 1353.
9. Tiecks, F.P., und Einhäupl, K.M.: Nervenarzt 1994, 65, 213.