Anagrelid ist eine interessante neue Substanz aus der Gruppe der Imidazol (2,1-b) chinazolin-2-Verbindungen, die im März 1997 von der FDA in den USA zur Behandlung der essentiellen Thrombozythämie (ET) zugelassen und deren Zulassung in Europa beantragt wurde. In-vitro- und tierexperimentelle Untersuchungen hatten ursprünglich eine antiaggregierende Wirkung von Anagrelid auf Thrombozyten ergeben. Bei der anschließenden Verabreichung von Anagrelid an gesunde Versuchspersonen wurde neben der antiaggregierenden Wirkung eine schwere Thrombozytopenie beobachtet, wobei die für die Auslösung der Thrombozytopenie benötigten Konzentrationen zehnfach niedriger lagen als für die antiaggregierende Wirkung. Daraufhin wurden Mitte der 80er Jahre klinische Studien zur Behandlung der Thrombozytose bei chronischen myeloproliferativen Syndromen (MPS) mit Anagrelid begonnen und weltweit inzwischen mehr als 2500 Patienten behandelt. Über ihre Erfahrungen mit dieser Substanz berichteten kürzlich M.N. Silverstein et al. aus der Mayo-Klinik in den USA. Diese Autoren hatten 1985 die ersten Phase-Il-Studien initiiert und inzwischen 942 Patienten mit chronischen MPS behandelt (1, 2). Die meisten dieser Patienten erhielten Anagrelid zur Behandlung der ET (58%) bzw. zur Verminderung von Thrombozytosen bei chronischen myeloischen Leukämien (19%) oder bei Polycythaemia vera (12%). Die Mehrzahl der Patienten (86%) waren mit anderen Myelosuppressiva vorbehandelt, und die Umstellung auf Anagrelid erfolgte wegen ungenügendem Ansprechen auf diese Substanzen, Nebenwirkungen bzw. zur Vermeidung des Leukämierisikos bei jungen Patienten. Kriterien für die Behandlung mit Anagrelid waren eine Thrombozytenzahl = 900/nl oder = 650/nl und Vorliegen von Symptomen, die auf die Thrombozytose zurückgeführt werden konnten. Die Ansprechraten auf die Therapie mit Anagrelid innerhalb der verschiedenen Untergruppen der MPS sind in Tab. 1 zusammengefaßt. Bei den meisten asymptomatischen Patienten war die Therapie in einer Tagesdosierung von 2 mg (verteilt auf 4 Einzeldosen zu 0,5 mg) begonnen und eine deutliche Reduktion der Thrombozytenzahlen innerhalb von 1 bis 2 Wochen beobachtet worden. Die durchschnittliche Dosis von Anagrelid, die zur Kontrolle der Thrombozytose benötigt wurde, betrug für Patienten mit Polycythaemia vera 2,4 mg/d, für die anderen MPS 2,0 mg/d. Häufigste dosisabhängige Nebenwirkung waren Kopfschmerzen bei 27% der Patienten, die vermutlich auf die vasodilatatorischen Eigenschaften von Anagrelid zurückzuführen sind, selten länger als 2 Wochen andauerten und durch Paracetamol gut behandelt werden konnten. Weitere dosisabhängige Nebenwirkungen waren Palpitationen (26%), Diarrhö (25%) und Flüssigkeitsretention (22%). Die Nebenwirkungen waren in der Regel mild und vorübergehend, wobei jedoch 125 Patienten (13%) die Einnahme von Anagrelid deswegen vorzeitig beendeten. Aufgrund der kardialen Nebenwirkungen sollte diese Substanz bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder koronarer Herzerkrankung initial vorrsichtig dosiert und nur unter engmaschiger klinischer Überwachung eingesetzt werden. Eine leukämische Transformation trat bei 32 der 942 Patienten auf, von denen 29 wegen einer chronischen myeloischen Leukämie mit Anagrelid behandelt wurden.
Die Ergebnisse dieser klinischen Studien werden durch die deutsche Anagrelid-Studie bestätigt, in der zwischen 1992 und 1997 75 Patienten mit vorwiegend ET (76%) behandelt wurden (3). Die Ansprechraten lagen bei einer mittleren Tagesdosis von 2,8 mg bei 88%. Die Nebenwirkungen entsprachen im wesentlichen denen der amerikanischen Studien.
Der Wirkungsmechanismus und der für die Auslösung der Thrombozytopenie verantwortliche aktive Metabolit von Anagrelid sind bisher nicht bekannt. Basierend auf Untersuchungen in Zellkulturen wird diskutiert, daß die Substanz über eine Verlangsamung der Megakaryozytenreifung bzw. eine Abnahme der Größe und Ploidie der Megakaryozyten zu einer Abnahme der Thrombozyten führt (2, 3).
Fazit: Anagrelid ist eine wirksame Substanz zur Behandlung von Thrombozytosen bei chronischen MPS. Die bisher vorliegenden klinischen Erfahrungen sprechen für eine geringe, möglicherweise sogar fehlende leukämogene Potenz dieser Substanz. Der genaue Stellenwert von Anagrelid im Behandlungskonzept chronischer MPS muß in zukünftigen randomisierten Studien im Vergleich mit den etablierten myelosuppressiven Substanzen untersucht werden.
Literatur
1. Silverstein, M.N., et al.: N. Eng. J. Med. 1988, 318, 1292.
2. Petitt, R.M., et al.: Semin. Hematol. 1997, 34, 51.
3. Petrides, P.E., et al.: Onkologe 1997, 3, 298.