In einem Beschluß des Verwaltungsgerichtes Berlin vom 18. Dezember 1997 ist der Sofortvollzug einer Maßnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgehoben worden. Das BfArM hatte im November 1995 verfügt, daß orale Kontrazeptiva (OK) mit den Gestagenen Gestoden oder Desogestrel nicht Frauen verordnet werden dürfen, die zum allerersten Mal (Erstanwenderinnen) ein hormonelles kombiniertes OK anwenden wollen und unter 30 Jahre alt sind. Außerdem waren Hinweise darauf vorgeschrieben worden, daß vor einer Verordnung dieser OK die Familienanamnese hinsichtlich thromboembolischer Ereignisse zu beachten ist. Es mußte auf Ergebnisse epidemiologischer Studien hingewiesen werden, die Grundlage für diese Arzneimittelsicherheitsentscheidung waren. Zur Klarstellung: der jetzige Richterspruch erging nicht im Hauptsacheverfahren, das betroffene pharmazeutische Unternehmen angestrengt haben, sondern lediglich zum Zeitpunkt, an dem die Anordnung rechtskräftig werden soll.
Aus dem gerichtlichen Beschluß folgt, daß eine seit November 1995 bestehende und in den Produktinformationen enthaltene Anwendungsbeschränkung wieder gestrichen wird. Die erfolgreichen Kläger haben dies durch Presseerklärungen sofort bekannt gemacht. Die verordnenden Ärzte sind jetzt in eine prekäre Situation geraten. Verordnen sie ein OK der „dritten Generation“ nun wieder Erstanwenderinnen unter 30 Jahren, dürfte es im Schadensfall schwierig sein, bei dem Stand der Erkenntnisse und bei der bekannten Bewertung durch die Behörde Ersatzansprüchen überzeugend entgegenzutreten.
Das BfArM hatte zu prüfen, ob der begründete Verdacht bestand, daß bei Einnahme von OK der dritten Generation (mit den Gestagenen Gestoden oder Desogestrel) im Vergleich zu OK mit Levonorgestrel ein erhöhtes Risiko für die Auslösung venöser Thromboembolien vorliegt. Dem Verdacht lagen einerseits Einzelfallberichte aus Deutschland über venöse Thromboembolien im zeitlichen Zusammenhang mit der Anwendung von OK der dritten Generation zu Grunde, davon 50 mit Todesfolge. Andererseits hatten mehrere epidemiologische Studien aus den letzten Jahren den Verdacht erhärtet, daß Frauen, die kombinierte OK der dritten Generation einnehmen, ein ca. zweifach höheres Risiko für venöse thromboembolische Komplikation haben als Frauen, die ein OK der zweiten Generation anwenden. Die meisten dieser Studien belegten mit statistischer Signifikanz das erhöhte Risiko. Die Ergebnisse aller Studien wiesen in die gleiche Richtung, nämlich auf ein erhöhtes Risiko, und die Mehrzahl der Studien beschrieb das erhöhte Risiko quantitativ gleich. Insofern besteht eine Konsistenz hinsichtlich der vorhandenen Studienergebnisse (s.a. 1-3).
Die Ergebnisse aus den in die Entscheidung einbezogenen Studien standen nicht im Widerspruch zu früheren Hypothesen und Erklärungen für das Auftreten von venösen Thromboembolien bei der Anwendung von oralen Kontrazeptiva. Eine Veröffentlichung von Rosing, J., et al. (4) scheint eine plausible Erklärung für das häufigere Auftreten von venösen Thromboembolien bei Anwenderinnen von OK der dritten Generation zu liefern, denn es fand sich in vitro eine deutlichere Störung im Mechanismus der Blutgerinnung im Sinne eines stärkeren prokoagulatorischen Effektes.
Der wissenschaftliche Ausschuß (CPMP) der europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) hat zum Ergebnis der Studien wiederholt Stellungnahmen abgegeben und darin aus den Studien die gleichen Schlußfolgerungen wie das BfArM gezogen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), deren Veröffentlichung von Studienergebnissen im Jahre 1995 die Diskussion eingeleitet hatte, faßte kürzlich die Schlußfolgerungen aus allen heute vorliegenden Untersuchungsergebnissen zusammen (5). Danach geht das Risiko für die Auslösung von venösen Thromboembolien bei Einnahme von OK der dritten Generation über das hinaus, welches mit der Anwendung von OK mit Levonorgestrel verbunden ist.
Unabhängig von der fachlichen Diskussion hat der richterliche Beschluß mit seiner langen Begründung, die sich ganz auf die Aussagen der Gutachter der klagenden Firmen stützt, weitreichende Auswirkungen für zukünftige Bewertungen und Entscheidungen des BfArM in der Überwachung zugelassener Arzneimittel. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluß unvertretbar hohe Anforderungen an den Nachweis des „begründeten Verdachts“ gestellt. Der begründete Verdacht markiert für die Behörde die Schwelle, bei deren Überschreiten sie regulatorisch eingreifen muß. Der begründete Verdacht ist ein Begriff, der in der konkreten Verdachtssituation nicht den wissenschaftlich einwandfreien Beweis für einen Kausalzusammenhang zwischen Nebenwirkung und angewendetem Arzneimittel verlangt, sondern, so frühere Urteile, ernstzunehmende Anhaltspunkte für ein unvertretbares Arzneimittelrisiko für ausreichend hält. Das umfangreiche dargestellte Erkenntnismaterial hat das Gericht als in keiner Weise beweiskräftig angesehen und die Bewertung des BfArM als „Spekulation“ bezeichnet. Wenn diese Auffassung zu den Anforderungen an den begründeten Verdacht ständige Rechtsprechung wird, scheint ein frühzeitiger und vorbeugender Patientenschutz kaum mehr möglich. Hieb- und stichfeste Beweise für einen Kausalzusammenhang gibt es in Verfahren zur Risikominderung äußerst selten, in vielen wird er nie erbracht. Die Gerichte würden mit ihrer Auffassung die gesetzliche Intention, vorbeugenden Patientenschutz zu gewährleisten, und die hierzu aufgestellten Grundsätze der Rechtsprechung außer acht lassen. Solchen Anforderungen an die Eingriffschwelle des BfArM stehen auch im Gegensatz zur Auffassung und Praxis anderer EU-Staaten. Das BfArM hatte aus diesem Grunde die Zulassung einer Beschwerde in der nächsten Instanz beantragt. Sie ist jedoch vom Oberverwaltungsgericht am 3. März 1998 abgewiesen worden. Damit ist zu befürchten, daß wir uns in Deutschland auf eine hohe Interventionsschwelle bei vermuteten Arzneimittelrisiken einzustellen haben.
Literatur
1. AMB 1996, 30, 1.
2. AMB 1996, 30, 20.
3. AMB 1997, 31, 11.
4. Rosing, J., et al.: Brit. J. Haematology 1997, 97, 233.
5. Weekly Epidemiological Record 1997, Nr. 48, 361.