Medizinische Forschung ist ohne die pharmazeutische Industrie heute nicht mehr denkbar. Mehr als die Hälfte aller Gelder, die in Deutschland für die medizinische Forschung aufgewendet werden, stammen aus der Industrie (s. AMB 2000, 34, 1). Diese Mittel werden von den Firmen nicht aus philanthropischen Motiven ausgegeben; es handelt sich vielmehr um unternehmerische Investitionen, die sich auszahlen müssen. Entsprechend groß ist der Erfolgsdruck, dem alle Beteiligten ausgesetzt sind, z.B. bei der Entwicklung eines Medikaments. Die beteiligten klinisch tätigen Ärzte sind in einer besonderen Situation, denn sie bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Verantwortung für ihre Patienten, die ihrerseits positive Erwartungen haben, den eigenen Karriereinteressen und den positiven Erwartungen der Geldgeber. Immer häufiger werden Fälle bekannt, daß Ärzte diesem Druck nicht standhalten und Daten fälschen. Aber auch jenseits dieser kriminellen Handlungen werden in scheinbar seriösen Studien bei der Konzeption, bei der statistischen Auswertung oder bei der Publikation von Studien Manipulationen vorgenommen (Bias), die ein Fachfremder nur sehr schwer oder gar nicht erkennen kann. Es liegt daher in der Verantwortung der medizinischen Fakultäten, der Ethikkommissionen und der Fachzeitschriften mit ihren Peer-Reviewern, über die Qualität der vorgelegten Forschungsergebnisse zu wachen, auf mögliche Manipulationen hinzuweisen und schwarze Schafe streng zu sanktionieren. Wie aber soll eine solche Kontrolle glaubwürdig und wirksam sein, wenn die Kontrollorgane ihrerseits von der Industrie abhängig sind?
Vor dem Hintergrund einer von Keller, M.B., et al. über Nefazodon publizierten Arbeit (N. Engl. J. Med. 2000, 342, 1462; s.a. AMB 2000, 34, 78b) kommentiert die ehemalige Herausgeberin des N. Engl. J. Med., M. Angell, die unüberschaubar gewordene Verstrickung der medizinischen Forschung und Publizistik mit den wirtschaftlichen Interessen der pharmazeutischen Industrie unter dem Titel ”Is academic medicine for sale?” (N. Engl. J. Med. 2000, 342, 1516). Im vorliegenden Fall einer multizentrischen, doppeltblinden, randomisierten Testung des Antidepressivums Nefazodon waren die Verflechtungen der 12 Autoren mit der Industrie derart vielfältig, daß die komplette Liste der Beraterverträge aus Platzmangel nur auf der Website des N. Engl. J. Med. publiziert werden konnte. Außerdem fand sich zunächst kein Kommentator für die Studie, da dieser nach den Regeln der Zeitschrift möglichst keine finanziellen Verbindungen zur Industrie haben darf. Glaubt man Frau Angell, dann ist es – zumindest in Bereichen, in denen viel Geld verdient wird – heutzutage nahezu unmöglich, einen unabhängigen Kommentator für eine Studie zu finden.
Durch die Kooperation mit der Industrie können sich klinische Forscher viele direkte und indirekte Vorteile verschaffen: sie erhalten ein Beraterentgelt oder sind an Patenten beteiligt; sie besitzen Aktien, stehen auf Publikationslisten und werden ständig zitiert; sie reisen durch die Welt und machen sich auf gesponserten Symposien international bekannt; zudem erhalten sie leichter Forschungsgelder usw. Ohne diese Hilfen ist es sehr viel schwerer, eine erfolgreiche Universitätskarriere zu machen.
In den USA haben viele medizinische Fakultäten Regeln aufgestellt, die solche Verbindungen eingrenzen sollen. So dürfen z.B. Ärzte in Harvard nur eine sehr begrenzte Anzahl von Aktien einer Pharmafirma halten, deren Produkte sie beforschen. Um renommierte Wissenschaftler an der Fakultät zu halten, wurden diese Regeln jedoch teilweise schon wieder aufgeweicht. Vielerorts ist die Nähe zwischen Industrie und Fakultäten so groß, daß es gemischte Arbeitsgruppen in gemeinsamen Räumen gibt, und einzelne Wissenschaftler haben sogar zwei Arbeitgeber, die Universität und eine pharmazeutische Firma. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Industrie kann schnell neue Entwicklungen und Bedürfnisse erkennen und junge, talentierte Wissenschaftler anwerben. Andererseits erhalten die Universitäten Forschungsgelder und -möglichkeiten und können neue Substanzen und Technologien schneller anwenden. Der Preis, den die Wissenschaft hierfür zu zahlen hat, ist allerdings höher als die Zuwendungen der Industrie: die Unabhängigkeit der Forschung und die Glaubwürdigkeit der akademischen Medizin.
Die Herausgeber des N. Engl. J. Med., der weltweit bedeutendsten medizinischen Fachzeitschrift, appellieren an die Universitäten, für Freiheit und Unabhängigkeit der Forschung zu kämpfen und ihre engen Verbindungen mit der Industrie zu lösen. Es sei vor allem in ihrer Verantwortung, strengere Regeln für die Zusammenarbeit mit der Industrie aufzustellen und Verstöße gegen diese Regeln zu ahnden. Alle Ärzte sollen vorhandene Beraterverträge offenlegen und kündigen, Freistellungen zu gesponserten Symposien sollten nicht mehr möglich sein und Geschenke oder Einladungen von Firmen prinzipiell abgelehnt werden. Leider ist zu fürchten, daß dieser Appell nicht mehr als ein frommer und naiver Wunsch bleibt. Viel eher ist anzunehmen, daß der Schreiber eines Leserbriefs Recht behält, wenn er auf die Frage ”Steht die akademische Medizin zum Verkauf?” antwortet: ”Nein. Der gegenwärtige Eigentümer ist ganz zufrieden mit ihr”.