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Langfristige Wirksamkeit und unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Anagrelid bei jüngeren Patienten mit essentieller Thrombozythämie

Viele Patienten mit essentieller Thrombozythämie (ET) haben eine normale Lebenserwartung und leiden nicht unter ET-assoziierten Komplikationen (z.B. vasomotorische Symptome, Thrombosen, verstärkte Blutungsneigung), so daß eine spezifische Behandlung dieser Form der chronischen myeloproliferativen Erkrankung nicht erforderlich ist. In den letzten Jahren wurden verschiedene klinische Faktoren definiert, die für eine Risikostratifizierung und Therapieentscheidung herangezogen werden können. Während bei Patienten mit niedrigem Risiko (Alter < 60 Jahre, keine vorausgegangene Thrombose, Thrombozyten < 1500/nl, keine kardiovaskulären Risikofaktoren) eine spezifische Therapie nicht empfohlen wird, sollten Patienten mit hohem Risiko (Alter ³ 60 Jahre, vorausgegangene Thrombose) in jedem Fall behandelt werden. Als Therapieoptionen stehen neben Zytostatika (Hydroxyurea, Busulfan) und Radiophosphor, Interferon alfa, Anagrelid und niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (ASS), insbesondere zur Behandlung vasomotorischer Symptome (z.B. akrale Parästhesien, Erythromelalgie), zur Verfügung. Da für einige dieser Substanzen eine leukämogene Wirkung gesichert ist (Busulfan, Radiophosphor) bzw. diskutiert wird (Hydroxyurea; vgl. X2000, 18, 4007), haben neuere Therapieansätze, wie z.B. Anagrelid, zunehmendes Interesse gefunden. Wir haben über Anagrelid und die Ergebnisse von Phase-II-Studien bereits ausführlich berichtet (vgl. AMB 1998, 32, 29b). Diese Substanz – in den USA von der FDA 1997, in Deutschland bisher nicht zugelassen – wurde im Dezember 2000 von der EMEA als „Orphan Medicinal Product“ eingestuft.

In einer kürzlich publizierten Studie an 35 jüngeren Patienten (Alter < 50 Jahre) mit ET wurde die langfristige Wirksamkeit, das Auftreten thrombohämorrhagischer Komplikationen und die unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) dieser Substanz retrospektiv untersucht (Storen, E.C., und Tefferi, A.: Blood 2001, 97, 863). Bei allen Patienten wurde vor 1992 mit der Gabe von Anagrelid begonnen, wobei 24 Patienten zuvor mit Hydroxyurea oder Busulfan behandelt worden waren. Der mediane Thrombozytenwert bei Beginn der Gabe von Anagrelid betrug 1075/nl, die initiale Dosis lag bei 2,0 mg/d und die mittlere Erhaltungsdosis bei 2,5 mg/d. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Phase-II-Studien war die Ansprechrate mit 94,3% sehr gut: 26 Patienten erreichten eine komplette Remission (Thrombozyten < 450/nl) bzw. 7 eine partielle Remission (Thrombozyten 450-600/nl oder Reduktion der Thrombozyten um mindestens 50% im Vergleich zum Ausgangswert). Bei 27 der 33 Patienten wurde die Therapie mit Anagrelid fortgesetzt (mediane Therapiedauer: 10,8 Jahre), 2 Patienten starben und 4 Patienten brachen die Therapie wegen UAW oder zunehmender Splenomegalie ab. Thrombosen oder schwere hämorrhagische Komplikationen traten bei jeweils 7 Patienten auf, an deren Folgen ein Patient (Blutung im Bereich der A. basilaris) starb. Bei den meisten Patienten mit thrombohämorrhagischen Komplikationen lagen die Thrombozytenwerte > 400/nl. Neben den bekannten, frühzeitig zu beobachtenden UAW von Anagrelid (Kopfschmerzen, Tachykardie, Ödeme, Diarrhö), die bei 8,5% (Diarrhö) bis 34% (Kopfschmerzen) der Patienten auftraten und deren Häufigkeit mit längerer Therapiedauer abnahm, wurde bei fast 25% der Patienten eine deutliche Anämisierung (Abnahme des Hämoglobinwertes > 3 g/dl im Vergleich zum Ausgangswert) beobachtet. Die Ursache ist unklar. Diskutiert werden eine Hemmung der endogenen Erythropoietin-Synthese oder eine veränderte Empfindlichkeit der erythroiden Vorläuferzellen gegenüber Erythropoietin.

Fazit: Eine langfristige Therapie mit Anagrelid wird gut vertragen, und die Häufigkeit bekannter UAW nimmt mit längerer Therapiedauer deutlich ab. Bemerkenswert ist die Anämisierung bei etwa 25% der Patienten, die längere Zeit mit Anagrelid behandelt werden. Die thrombotischen oder hämorrhagischen Komplikationen bei jeweils 20% der Patienten – trotz der Therapie mit Anagrelid – verdeutlichen, daß die Thrombozyten bei entsprechend gefährdeten Patienten aggressiv (auf Werte < 400/nl) gesenkt werden müssen.