Es wird allgemein angenommen, daß lange Flüge oder lange Busreisen das Risiko von Beinvenenthrombosen und Lungenembolien (VTE) erhöhen. Mehrere Fall-Kontroll-Studien ergaben ein relatives Risiko für VTE nach langen Reisen in sitzender Position von 2,3-4,0. Eine andere Fall-Kontroll-Studie ergab allerdings kein erhöhtes Risiko (Literatur bei J. Hirsh und M.J. O Donnell: Lancet2001, 357, 1461). Hirsh und O Donnell kommentieren eine ebenfalls im Lancet erschienene Arbeit von J.H. Scurr et al. aus London (2001, 357, 1485), eine offenbar erste prospektive randomisierte Studie zu diesem Thema. Die Autoren rekrutierten insgesamt 89 Männer und 142 Frauen, die älter als 50 Jahre waren, und die lange Flugreisen (mehr als 8 Stunden, im Durchschnitt ca. 24 Stunden) gebucht hatten. Etwa 14 Tage und 2 Tage vor Reiseantritt wurden die Probanden klinisch im Hinblick auf VTE untersucht. Weiterhin wurde eine Duplexsonographie der Beinvenen durchgeführt, und es wurden die D-Dimere im Blut gemessen sowie nach Genmutationen für Faktor V Leiden (FVL) und für Prothrombin G20210A (PGM) gesucht. Probanden/innen mit früheren Beinvenenthrombosen oder postthrombotischem Syndrom oder bekanntem Thromboserisiko wurden von der Studie ausgeschlossen. Die Probanden/innen wurden in 2 Gruppen randomisiert: Keine Prophylaxemaßnahme (A) oder Anwendung von Unterschenkel-Kompressionsstrümpfen (B) mit einem Druck von 20-30 mm Hg (Klasse-I-Kompressionsstrümpfe der Fa. German, Hohenstein). Die Probanden sollten die Strümpfe kurz vor dem Flug anlegen und sie danach wieder ausziehen. Die Nachuntersuchung erfolgte an den ersten beiden Tagen nach Flugende, wobei die Duplexsonographie-Untersucher nicht wissen sollten, ob die Probanden zur Gruppe A oder B gehörten.
31 Probanden wurden von der Endauswertung ausgeschieden, weil sie nicht zu allen drei Untersuchungsterminen erschienen waren. Von 200 Probanden/innen konnten die Befunde ausgewertet werden. 12 Reisende entwickelten nach den Duplexsonographie-Kriterien symptomlose tiefe Thrombosen in den Waden (5 Männer, 7 Frauen). Die Befunde wurden nicht durch Venographie überprüft. Keiner dieser Reisenden hatte elastische Strümpfe benutzt, und zwei von ihnen waren heterozygot für FVL. Vier andere Reisende, die elastische Strümpfe getragen und eine Varikosis der Unterschenkel hatten, entwickelten eine oberflächliche Thrombophlebitis unterhalb des Knies, die wahrscheinlich durch Venenkompression am oberen Rand des Kompressionsstrumpfes verursacht worden war. Von diesen Reisenden war einer positiv für sowohl FVL als auch PGM. Keiner der Probanden, der Kompressionsstrümpfe trug, entwickelte eine tiefe Beinvenenthrombose. Eine symptomatische Beinvenenthrombose oder gar eine Lungenembolie trat offenbar in keinem Fall auf.
Die Arbeit von Scurr et al. wird in dem schon erwähnten Editorial von Hirsh und O Donnell kommentiert. Diese Autoren wundern sich über die hohe Inzidenz von Unterschenkel-Thrombosen in der Probanden-Gruppe ohne Kompressionsstrümpfe. Diese Inzidenz sei viel höher als in den bisher mitgeteilten Fall-Kontroll-Studien. Die Befunde sind ohne Zweifel auch von forensischer Bedeutung, da Fluggesellschaften nicht selten wegen der Entstehung von Beinvenenthrombosen verklagt werden, die auf ungünstige Gestaltung der Flugzeugsitze zurückgeführt werden. Hirsh und O Donnell schlagen vor, eine ähnliche randomisierte Studie – aber strikt verblindet für den Ultraschall-Untersucher – an einer größeren Probandenzahl zu wiederholen; sie zweifeln also an der sicheren Verblindung in dieser Studie. Falls tiefe Beinvenenthrombosen tatsächlich so häufig bei Personen auftreten, die keine Kompressionsstrümpfe tragen, müßte sich das Ergebnis ohne große Schwierigkeiten bestätigen lassen. Bis dahin empfehlen die Autoren eine individuelle Beratung von älteren Flugreisenden, die angehalten werden sollten, während des Fluges Fußgymnastik zu machen und reichlich Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
Fazit: Die Datenlage hinsichtlich eines erhöhten Risikos für Beinvenenthrombosen während langer Flugreisen ist dürftig. Die vorliegende Arbeit spricht für eine etwa 10%ige Inzidenz symptomloser Unterschenkel-Thrombosen bei Langstrecken-Flugreisenden über 50 Jahre, die durch Kompressionsstrümpfe weitgehend verhindert werden können.