Zusammenfassung: Das Reizdarm-Syndrom ist eine Ausschlußdiagnose. Die Therapie richtet sich nach den jeweiligen Symptomen, z.B. Diarrhö, Obstipation, abdominelle Schmerzen. Oft sind Medikamente überflüssig. Falls Änderungen der Eßgewohnheiten und des Lebensstils sowie Psychotherapie nicht die gewünschte Besserung bringen, ist eine zusätzliche medikamentöse Therapie indiziert, die auch häufig wirksam ist. Es gibt aber auch therapierefraktäre Patient(inn)en, für die neue Medikamente entwickelt werden sollten. Da das Reizdarm-Syndrom eine zwar oft belästigende aber ungefährliche Erkrankung ist, sollten neue Pharmaka keine gravierenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen haben.
Schon immer spielte in der Medizin die Symptomenkonstellation „Stuhlunregelmäßigkeiten mit abdominalen Schmerzen“ eine große Rolle. Vor 110 Jahren publizierte Osler darüber und beschrieb die Absonderung von Darmschleim, der mikroskopisch Zellreste und ”Darmsand” enthielt. Er stellte bei den betroffenen „hysterischen“ oder depressiven Patienten ein intaktes Darmepithel fest und nannte dieses Syndrom „Mucöse Colitis“. Der Terminus „Irritables Kolon“ (Irritable bowel syndrome) fand 1929 Eingang in die Literatur bei der Beschreibung von ambulanten Patienten, die unter den oben genannten Beschwerden litten. Da aber auch Motilitätsstörungen des Dünndarms zu den Beschwerden führen können, wird heute der Begriff Reizdarm-Syndrom vorgezogen.
Pathogenese: Nach heutigem Erkenntnisstand spielen psychosoziale Faktoren, Darminfektionen, eine veränderte Motilität und eine Hypersensitivität von Dünn- und Dickdarm eine Rolle bei der Entstehung des Reizdarm-Syndroms (1, 2). Strukturelle Veränderungen des Darmes fehlen typischerweise. Psychologische Untersuchungen weisen eine erhöhte Prävalenz von Depressionen und Angsterkrankungen bei Patienten mit Reizdarm-Syndrom nach. In Studien konnte gezeigt werden, daß die Nahrungsaufnahme, psychischer und physischer Stress und andere Faktoren zu einer pathologisch veränderten Kontraktilität von Dünn- und Dickdarm bei Reizdarm-Patienten führen. Depressive haben im Gegensatz zu ängstlichen oder gestressten Patienten eine längere Darm-Transitzeit. Ballon-Distensions-Untersuchungen im Rektum, Sigma und Ileum zeigen bei Patienten mit Reizdarm-Syndrom eine höhere Schmerzempfindlichkeit bei geringeren Volumina im Vergleich zur Kontroll-Gruppe. Als Ursache für diese Effekte kommen Rezeptorendefekte in der Darmwand und eine alterierte Schmerzverarbeitung in Frage. Bis zu einem Viertel der Patienten mit bakteriellen Gastroenteritiden leiden später an einem Reizdarm-Syndrom. Der Grund dafür könnte in einer Aktivierung der Darmmotilität und -empfindlichkeit liegen, die entzündungsbedingt zu einer vermehrten Ausschüttung von Zytokinen der Darmzellen führt. Neurotransmitter werden bei der Erforschung der Pathogenese zunehmend interessant (3). Beispielsweise sind 95% des Serotonins im Gastrointestinaltrakt lokalisiert und nur 5% im ZNS. Die Ausschüttung von Serotonin stimuliert die vagalen afferenten Nerven und induziert Darmperistaltik, -sekretion, Schmerzen und Übelkeit. Bei Patienten mit Reizdarm-Syndrom konnten erhöhte Serotoninspiegel im Plasma und im Rektum nachgewiesen werden.
Diagnostik: Ein großer Teil der Bevölkerung leidet an Störungen des Gastrointestinaltrakts, und es ist daher auch eine Frage der Definition, ab welchem Schweregrad man diesen Beschwerden Krankheitswert beimißt und sie nicht mehr als Normvarianz betrachtet. Manning et al. stellten 1978 erstmals Diagnosekriterien für das Reizdarm-Syndrom vor (4). Die diagnostische Aussagekraft dieser Kriterien wurde in verschiedenen Studien überprüft. Die Untersuchungen zeigten eine hohe Sensitivität, jedoch eine niedrige Spezifität der Manning-Kriterien. Epidemiologische Studien, die Patienten nach den Manning-Kriterien einschlossen, waren zu ungenau, da die Anzahl der Patienten mit Reizdarm-Syndrom in diesen Studien überschätzt wurde. Und so schwankt die Prävalenz des Reizdarm-Syndroms in der Normalbevölkerung in Abhängigkeit von den angewendeten Diagnosekriterien zwischen 4 und 22% (5, 6). In der Praxis waren die Diagnosekriterien wegen der geringen positiven Prädiktion wenig hilfreich, und das Reizdarm-Syndrom war eine Ausschlußdiagnose. Um valide Diagnosekriterien für funktionelle gastrointestinale Erkrankungen zu erarbeiten, tagten Ende der 80er Jahre internationale Gremien. 1990 erschien das Resultat der Konsensuskonferenz in Form der strengen Rome-I-Kriterien (7), und 1999 wurden die überarbeiteten Rome-II-Kriterien vorgestellt (8).
Mit Hilfe der anamnestisch zu erhebenden Rome-II-Kriterien (s. Tab. 1) und simpler Untersuchungen ist das Reizdarm-Syndrom im klinischen Alltag einfach zu diagnostizieren (1). Sind körperliche Untersuchung, Laborbefunde (s. Tab. 2) sowie ein Laktose-Toleranztest unauffällig und fehlen Alarmsymptome (s. Tab. 3), so genügt bis zum 50. Lebensjahr eine Sigmoidoskopie als einzige invasive Untersuchung, um eine organische Ursache mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. In Anbetracht der viszeralen Hyperalgesie bedeutet der Verzicht auf eine komplette Koloskopie bei jüngeren Patienten eine deutliche Erleichterung. Nach dem 50. Lebensjahr ist die Durchführung einer Koloskopie oder alternativ einer Sigmoidoskopie in Kombination mit einem Doppelkontrast-Einlauf des Kolon obligat. Werden pathologische Befunde bei diesen Untersuchungen erhoben, dann ist eine erweiterte Diagnostik ratsam (s. Tab. 4). Das diagnostische Procedere ist zusammenfassend in Abb. 1 dargestellt.
Therapie: Wichtig in der Behandlung des Reizdarm-Syndroms sind eine gute Arzt-Patienten-Beziehung mit Aufklärung über die Gutartigkeit der Erkrankung und Modifikationen des Lebensstils. Dazu gehören ausreichende Bewegung und genügend Zeit für den Stuhlgang, z.B. durch rechtzeitiges morgendliches Aufstehen. Ein vom Patienten geführtes Ernährungsprotokoll kann hilfreich sein bei der Identifizierung von unverträglichen Nahrungsmitteln und Ballaststoff-Mangel. Einige Patienten profitieren von Reduktion oder Vermeiden von Kaffee, fetten Speisen, blähendem Gemüse oder Zucker-Ersatzstoffen in Kaugummis oder Getränken. Patienten mit geringen Beschwerden benötigen im allgemeinen keine weiteren Maßnahmen.
Psychotherapeutische Verfahren sind integraler Bestandteil der Therapie bei allen Patienten mit schweren, beeinträchtigenden Symptomen und begleitenden Erkrankungen (Depression, Angsterkrankungen). Neben Entspannungsverfahren (z.B. Autogenes Training, progressive Muskelrelaxation nach Jakobson) spielen auch Verhaltens- und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapien eine wichtige Rolle. Zur richtigen Indikationsstellung sollte gegebenenfalls ein Facharzt für Psychiatrie oder psychotherapeutische Medizin hinzugezogen werden.
Die symptomorientierte Pharmakotherapie des Reizdarm-Syndroms (s. Tab. 5) ist Patienten mit schweren Symptomen vorbehalten. Sie gewinnt in den letzten Jahren, wohl auch durch die Entwicklung neuer Medikamente und die damit verbundene Werbeaktivität der Hersteller, zunehmend an Bedeutung. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß beim Reizdarm-Syndrom durch Plazebo-Gabe ungewöhnlich oft ein positiver Effekt erzielt werden kann. In einer großen Metaanalyse von 25 randomisierten, kontrollierten Studien wurde im Mittel bei 47% der Patienten mit Plazebo ein positiver Effekt erzielt (9). Unter diesem Aspekt ist bei der Entscheidung zu einer Pharmakotherapie besonders auf die möglichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) zu achten.
Bei der Auswahl eines Pharmakons ist eine Zuordnung des Reizdarm-Syndroms in Subtypen-Gruppen sinnvoll (s. Tab. 6).
Bei Bauchschmerzen haben sich orale Spasmolytika/Anticholinergika (z.B. Mebeverin = Duspatal, Mebemerck; Butylscopolaminiumbromid = Buscopan u.a.) als wirksam erwiesen; aber auch Pfefferminzöl hilft. Bei einigen Patienten zeigen trizyklische Antidepressiva eine gute Wirkung, vor allem, wenn begleitend Diarrhöen auftreten, da hier möglicherweise der anticholinergische Effekt der Antidepressiva zum Tragen kommt. Weil diese Substanzgruppe jedoch vergleichsweise ungünstige UAW hat, sollte ihre Anwendung eine Ausnahme bleiben. Auch mit Nitraten können durch die zügige Relaxierung der glatten Muskulatur kurzfristig Erfolge erzielt werden. Opioide sind wegen ihres Abhängigkeitspotentials die Ultima ratio. Der k-Opioid-Rezeptor-Agonist Fedotozin ist in der Erprobung. Verläßliche Daten liegen zur Zeit noch nicht vor.
Diarrhö läßt sich durch eine zeitlich begrenzte Gabe von Loperamid (Imodium u.v.a.) auch in Kombination mit Quellstoffen (Leinsamen, Weizenkleie) gut behandeln.
Bei Obstipation können vermehrte Bewegung und ballaststoffoptimierte Kost sowie osmotische Laxantien, wie Lactulose (Bifiteral u.a.) und Macrogol (Forlax, Laxofalk), zur einer Linderung der Beschwerden führen. Aktuell sehr beworben, nun auch für das Reizdarm-Syndrom, wird das Probiotikum E. coli Stamm Nissle 1917 (Mutaflor), das vom Hersteller offenbar als Allzweck-Medikament bei funktionellen und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen propagiert wird (s.a. AMB 2000, 34, 6a). Neben pathophysiologischen Überlegungen fehlt jedoch im wissenschaftlichen Schrifttum ein akzeptabler Wirksamkeitsnachweis für die Indikation Reizdarm-Syndrom.
Die Gabe des partiellen Serotoninrezeptor-Agonisten Tegaserod führt zu einer Verkürzung der Darm-Transitzeit und erhöht die Stuhlfrequenz. Dies soll zu einer deutlichen Linderung der Symptome führen. Die Effekte sind jedoch auf Frauen beschränkt , und die Ergebnisse größerer plazebokontrollierter Studien stehen noch aus. Nach den negativen Erfahrungen, die die Herstellerfirma Novartis mit dem Serotoninrezeptor-Antagonisten Alosetron gemacht hat, bestehen große Schwierigkeiten, das Produkt in Europa (Ausnahme Schweiz) und in den USA zugelassen zu bekommen. Daher wird die kürzliche Zulassung in Brasilien schon als großer Erfolg gefeiert (www.at.novartis.com.news): ”In Brasilien leiden schätzungsweise 8,7-17% der Bevölkerung an IBS (Reizdarm-Syndrom), wobei 58,6% Frauen sind”. Weiterhin wird ein Experte zitiert: ”Ich bin zuversichtlich, daß diese Medikamnet die Lebensqualität von Tausenden brasilianischer Frauen deutlich erhöhen wird.”
Ergebnisse der Zytokinforschung haben noch keinen Einzug in den klinischen Alltag gehalten. Erfolgversprechend sind Cholezystokinin-Antagonisten wie Dexloxiglumid, Tachykininrezeptor-Antagonisten und Neurokinin-1-Antagonisten.
Abschließend noch eine Anmerkung zum Serotoninrezeptor-Antagonisten Alosetron (Lotronex), der von der amerikanischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel (FDA) im Februar 2000 grünes Licht für die Markteinführung bekommen hatte. Sein positiver Effekt war nur bei Frauen, die unter Diarrhö im Rahmen eines Reizdarm-Syndroms litten, in Studien belegt (10). Auffällig war die hohe Nebenwirkungsrate. Bereits im November des gleichen Jahres wurde das Medikament von der Herstellerfirma vom Markt genommen, da sich fünf Todesfälle ereignet hatten, die im Zusammenhang mit der Medikamentengabe zu sehen sind. Der Weg bis zur „freiwilligen“ Entfernung aus den Apothekenregalen ist in einem spannenden und bissigen Artikel im Lancet beschrieben („Lotronex and FDA: a fatal erosion of integrity“; 11). Die Rolle der FDA wird darin heftig kritisiert. Die günstige Wirkung auf die Diarrhö wurde mit einer hohen Nebenwirkungsrate, vor allem Obstipation, in Kauf genommen. So kam es durch das Medikament neben den fünf Todesfällen zu 49 Fällen mit ischämischer Kolitis und 21 Fällen schwerer Obstipation, die teilweise zu Darmverschlüssen und -perforationen führten. Zehn Patienten mußten operiert werden. Dennoch hat die FDA im Juni 2002 Lotronex für Pateinten mit Reizdarm-Syndrom und Diarrhö erneut zugelassen, wenn auch mit einigen schriftlichen Auflagen für Patienten und Ärzte (Patient-physician agreement). In einem Leitartikel (12) wird, ebenso wie in einem warnenden Artikel im Brit. Med. J. (13) zu diesem unverständlichen Vorgang, ein Lobbyismus der FDA mit einer industriebeeinflußten Lotronex-Aktionsgruppe, eine finanzielle Abhängigkeit der FDA von der Pharmaindustrie bzw. ein neues Image der FDA mit weniger amtlichen Restriktionen und mehr „Selbstverantwortung“ auf Seiten der Ärzte und Patienten vermutet.
Das Reizdarm-Syndrom ist eine zum Teil heftig belästigende, aber benigne Erkrankung, die gute Marktchancen für Hersteller wirksamer Medikamente bietet. Die Geschichte vom Alosetron zeigt aber einmal mehr, daß der Markteinführung einer neuen Substanz eine sorgfältige und kritische Prüfung des Sicherheitsprofils bei sehr vielen Patienten vorausgehen muß. Jeder Arzt sollte seine Patienten auf mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen hinweisen bzw. speziell darauf achten lassen und z.B. ein geeignetes Informationsblatt verwenden, wenn er neue Medikamente verordnet (vgl. AMB 2002, 36, 31).
Literatur
- Horwitz, B.J., und Fisher, R.S.: N. Engl. J. Med. 2001, 344,1846.
- Jones, J., et al.: Gut 2000, 47 Suppl. 2,II 1.
- Talley, N.J.: Lancet 2001, 358, 2061.
- Manning, A.P., et al.: Brit. Med. J. 1978, 2, 653.
- Saito, Y.A., et al.: Am. J. Gastroenterol. 2000, 95, 2816.
- Boyce, P.M., et al.: Am. J. Gastroenterol. 2000, 95, 3176.
- Drossman, D.A., et al.: Gastroenterol. Int. 1990, 3, 159.
- Thompson, W.G., et al.: Gut 1999, 45 Suppl. 2, II 43.
- Spiller, R.C.: Am. J. Med. 1999, 107, 91S.
- Camilleri, M., et al.: Lancet 2000, 355, 1035.
- Horton, R.: Lancet 2001, 357,1544.
- Lièvre, M.: Brit. Med. J. 2002, 325, 555.
- Moynihan, R.: Brit. Med. J. 2002, 325, 592.