Artikel herunterladen

Therapie des Reizdarm-Syndroms mit niedrig dosiertem Amitriptylin [CME]

Das Reizdarm-Syndrom (engl.: irritable bowel syndrome = IBS) ist eine Funktionsstörung des Darms, dessen Pathophysiologie nach wie vor nur sehr unvollständig geklärt ist (vgl. [1]). Die Prävalenz des IBS ist hoch und wird mit 4% angegeben [2].

Die Betroffenen leiden unter Bauchschmerzen, Blähungen, Flatulenz, Durchfall und/oder Obstipation. Grundsätzlich verläuft die Erkrankung chronisch und fluktuierend, und es gibt keine Heilung. Oft bestehen ein hoher Leidensdruck und Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit und sozialer Funktionen. Das IBS kann assoziiert sein mit Angststörungen, Depression oder Somatisierungsstörungen. Diese werden aber eher als Folge denn als Ursache des IBS angesehen [2].

Die Diagnose IBS wird anhand der typischen Anamnese und nach Ausschluss aller relevanten Differenzialdiagnosen gestellt (vgl. 1). Hierzu zählen u.a. chronisch entzündliche Darmerkrankungen, symptomatische Laktose- oder Fruktosemalabsorption, Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln, bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms, Gallensäure-Malabsorption, Divertikelkrankheit, Weizensensitivität oder gynäkologische Erkrankungen [2].

Eine Standardtherapie für das IBS existiert nicht. Jede Behandlung erfolgt zunächst probatorisch. Wirksame Therapien werden als Bedarfs- oder Dauertherapie weitergeführt; unwirksame Maßnahmen sollten beendet werden. Die sog. Basistherapie ist multimodal und besteht aus allgemeinen Maßnahmen, wie gute Informationen und „Empowerment“, sowie regelmäßige Bewegung, Ernährungsinterventionen, wie Probiotika, FODMAP-Diät („Fermentable Oligo-, Di-, Monosaccharides And Polyols“) oder befristete Glutenkarenz, psychologische Interventionen, wie Psychoedukation, Entspannungstechniken oder „Darmhypnose“ und komplementäre Verfahren, wie Pfefferminzöl, Yoga u.v.m.

Bei stark beeinträchtigenden Symptomen und unzureichender Wirksamkeit der Basistherapie wird in zweiter Linie eine an Symptomen orientierte Pharmakotherapie empfohlen. Das Armamentarium umfasst Laxanzien, Mittel gegen Diarrhö und Flatulenz, Spasmolytika/Anticholinergika und auch trizyklische Antidepressiva (TCA). Die Evidenz aus klinischen Studien für eine Wirksamkeit dieser Medikamente ist oft schwach ([2], vgl. [3]), die Nutzen-Risiko-Relation unklar und der Plazeboeffekt groß (vgl. [1]).

Die Wirksamkeit von TCA beim IBS wird mit den analgetischen und anticholinergen Effekten im Darm erklärt sowie mit anxiolytischen und antidepressiven Wirkungen. Nach einer Metaanalyse aus dem Jahr 2014 können die Symptome bei IBS mit TCA signifikant besser kontrolliert werden als mit Plazebo. Die Number Needed to Treat (NNT) wurde mit 4 berechnet [4]. Die eingeschlossenen Therapiestudien hatten jedoch wenige Teilnehmer, eine kurze Behandlungsdauer (maximal 3 Monate), und sie wurden nicht im Bereich der Primärversorgung durchgeführt, wo die meisten Patienten mit IBS behandelt werden. Dies ist nun in der ATLANTIS-Studie mit einer längeren Nachbeobachtungsphase erfolgt [5].

Studiendesign: Es handelt sich um eine randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie an 55 Hausarztpraxen im Westen Englands. Die Finanzierung erfolgte aus öffentlichen Mitteln des britischen „National Institute for Health and Care Research“. Eingeschlossen wurden Personen zwischen 18 und 61 Jahren mit der Diagnose IBS (nach den Rom-IV-Kriterien; vgl. 1) jeglichen Subtyps („O“ = führendes Symptom Obstipation, „D“ = Diarrhö, „M“ = gemischte Form, „U“ = nicht klassifiziert). Alle mussten eine vom „National Institute for Health and Care Excellence“ (NICE) empfohlene Erstlinienbehandlung durchlaufen (Beratung zum Lebensstil, Ernährungsintervention, Ballaststoffe, Spasmolytika, Abführmittel oder Mittel gegen Durchfall) aber dennoch weiterhin Symptome haben (≥ 75 Punkte im „Irritable Bowel Syndrome Severity Scoring System“ = IBS-SSS). Beim IBS-SSS handelt es sich um ein validiertes Instrument zur Selbsteinschätzung beim IBS. Der Score-Bereich umfasst insgesamt 0-500 Punkte, wobei 75-175 eine leichte, 175-300 eine mittelschwere und > 300 Punkte eine schwere Symptomatik abbildet. Zu den Ausschlusskriterien zählten u.a. Zöliakie, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, eine Vorgeschichte mit Darmkrebs sowie Schwangerschaft oder der Wunsch danach.

Die Probanden wurden über 6 Monate mit niedrig dosiertem Amitriptylin oder Plazebo behandelt. Sie erhielten Tabletten à 10 mg, sollten diese am Abend einnehmen und über 3 Wochen aufdosieren, je nach Symptomatik und Verträglichkeit (maximal 3 Tabletten bzw. 30 mg/d Amitriptylin). Zudem bestand die Option, die Studienmedikation für weitere 6, also für insgesamt 12 Monate einzunehmen.

Primärer Studienendpunkt waren die Auswirkungen der Behandlung auf den IBS-SSS nach 6 Monaten. Zu den sekundären Endpunkten zählten die Selbsteinschätzung hinsichtlich Linderung der Symptome („subjective global assessment“ = SGA), wobei als „Responder“ jene galten, die ihre Situation zumindest als etwas erleichtert bewerteten. Weitere verwendete Instrumente waren der „Patient Health Questionnaire-12“ (PHQ-12) zur Erfassung des Schweregrads psychischer Störungen, die „Hospital Anxiety and Depression Scale“ (HADS) zur Bestimmung des Schweregrads von Angststörungen und Depressionen sowie die „Work and Social Adjustment Scale“ (WSAS) zur Bewertung der Arbeitsfähigkeit und sozialen Funktionsfähigkeit von Patienten mit psychischen Erkrankungen. Außerdem wurde die Therapieadhärenz abgefragt und die Verträglichkeit der Studienmedikation anhand der „Antidepressant Side-Effect Checklist“ (ASEC). Die Effektivität der Verblindung wurde leider nicht gemessen.

Ergebnisse: Zwischen Oktober 2019 und April 2022 wurden von 1.253 in Frage kommenden und interessierten Patienten 463 (37%) eingeschlossen. Häufigste Gründe für ein „Screening Failure“ waren ein Scheitern der Kontaktaufnahme, die Nichterfüllung der Diagnosekriterien oder ein IBS-SSS Score < 75.

Zur Behandlung mit Amitriptylin wurden 232 und zur Behandlung mit Plazebo 231 Teilnehmer zugelost. Das mittlere Alter betrug 48,5 Jahre, 68% waren Frauen. Das IBS bestand im Median 10 Jahre. Bei 40% lag der Subtyp RDS-D vor, bei 17% RDS-O und bei 41% ein gemischter Typ (RDS-M). Der mittlere IBS-SSS-Score betrug zu Beginn im Mittel 272. Bei 43% wurde die „Symptomlast“ als „moderat“ (IBS-SSS: 175-299) und bei 41% als „schwer“ (IBS-SSS: ≥ 300) klassifiziert. 78% erhielten Spasmolytika, 31% Arzneimittel gegen Diarrhö, 23% Ballaststoffe, 19% Laxanzien und 10% Pfefferminzöl.

Nach 6 Monaten nahmen 43% im Amitriptylin- und 57% im Plazebo-Arm die höchste Dosis der Studienmedikation ein. Die Zahl der Patienten, die in dieser Zeit ihre Ernährung geändert oder ein weiteres Medikament zur Linderung der Symptome eingenommen hatten, war gering und in beiden Behandlungsarmen ähnlich. Insgesamt 105 (23%) brachen die Studie vorzeitig ab, 20% im Amitriptylin- und 26% im Plazebo-Arm. Häufigste Gründe hierfür waren unerwünschte Ereignisse (13% mit Amitriptylin, 9% mit Plazebo) und unzureichender Nutzen (3% mit Amitriptylin, 8% mit Plazebo).

Die Auswertung der Daten erfolgte nach „Intention to treat“. Die 6-Monatsdaten lagen von 401 (87%) Studienteilnehmern vor. Demnach schnitt Amitriptylin beim primären Endpunkt signifikant besser ab als Plazebo: die Abnahme beim IBS-SSS-Score betrug 99,2 Punkte vs. 68,9 mit Plazebo; Differenz: 27,0 Punkte (95%-Konfidenzintervall = CI: -46,9 bis -7,1; p = 0,007). Dieser Vorteil ist klein und liegt unterhalb des Bereichs, der im Vorfeld als klinisch bedeutsamer Nutzen definiert worden war (-35 Punkte).

Nach 6-monatiger Behandlung berichteten 61% der Patienten, die Amitriptylin und 45%, die Plazebo einnahmen, über eine Linderung der Symptome (Odds Ratio = OR: 1,78; CI: 1,19-2,66; p = 0,005). Eine komplette Symptomkontrolle wurde sehr selten erzielt (4% vs. 2%), eine wesentliche Kontrolle von 32% bzw. 21% der Befragten. Der Anteil derer, die nach 6 Monaten eine Besserung an mindestens 50% der Tage spürten, betrug 41% bzw. 30%. Keine Unterschiede fanden sich bei den Ergebnissen von PHQ-12, HADS-Angst- und HADS-Depressions-Instrument sowie beim WSAS-Fragebogen. Die Arbeitsfähigkeit und sozialen Funktionen blieben also unverändert.

Der ASEC-Gesamtscore als Maß für die Unverträglichkeit von Antidepressiva war nach 3 Monaten im Amitriptylin-Arm signifikant höher (OR: 1,39), aber nach 6 Monaten nicht mehr (OR: 0,26). Die häufigsten unerwünschten Ereignisse von Amitriptylin waren anticholinerge Wirkungen, wie Mundtrockenheit (54%), Schläfrigkeit (53%), Sehstörungen (17%) und Miktionsstörungen (22%).

Insgesamt 291 Personen nahmen die Studienmedikation weitere 6 Monate ein, 147 Amitriptylin und 144 Plazebo. Nach einem Jahr betrug die Differenz beim mittleren IBS-SSS-Score nur noch 22,6 Punkte (nicht signifikant), und 59% mit Amitriptylin und 47% mit Plazebo berichteten über eine Besserung der Symptome (Unterschied nicht signifikant).

Diskussion: Der primäre Studienendpunkt ergab eine bessere Linderung der Symptome durch die Behandlung mit Amitriptylin, verglichen mit Plazebo. Doch waren die erzielten Effekte klein und ohne günstige Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit und sozialen Funktionen. Die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse wird dahingehend eingeschränkt, dass es durch die anticholinergen Nebenwirkungen von Amitriptylin zu einer Entblindung der Probanden gekommen sein könnte. Auf die große Bedeutung von Plazebo-Effekten beim IBS weisen auch die beiden Kommentatoren aus den Niederlanden nochmals hin [6]. Es gab in der Plazebo-Gruppe nach 6 Monaten immerhin 45% Therapie-„Responder“. Dies unterstreicht die große Bedeutung eines guten therapeutischen Umfelds beim IBS.

 

Die Kommentatoren schlagen vor, die Wirksamkeit von Amitriptylin bei den verschiedenen IBS-Subtypen genauer zu untersuchen. Personen mit IBS-D und IBS-M könnten auf Grund der anticholinergen Effekte mehr als andere von TCA profitieren, ebenso Personen mit begleitenden Depressionen und Angststörungen. Da sie die Hauptwirkungen von TCA eher im Darm als im ZNS vermuten, schlagen sie vor, TCA im Zusammenhang mit IBS als „Neuromodulatoren“ und nicht als Antidepressiva zu bezeichnen.

Fazit

Bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, bei denen sich die Symptome unter allgemeinen Therapiemaßnahmen nicht ausreichend bessern, kann im Bereich der hausärztlichen Versorgung ein Therapieversuch mit niedrig dosiertem und selbsttitriertem Amitriptylin (10-30 mg/d) erfolgen. Der Anteil der Patienten, die in der vorgestellten Studie nach 6 Monaten eine Besserung der Symptome an mindestens 50% der Tage angaben, betrug 41% (vs. 30% mit Plazebo). Bei mehr als der Hälfte traten jedoch die typischen Nebenwirkungen auf, wie Mundtrockenheit oder Schläfrigkeit. Die Arbeitsfähigkeit und sozialen Funktionen besserten sich nicht.

Literatur

  1. AMB 2002, 36, 81. (Link zur Quelle)
  2. Layer, P., et al.: Z. Gastroenterol. 2021, 59, 1323. (Link zur Quelle)
  3. AMB 2011, 45, 14a. AMB 2020, 54, 66. (Link zur Quelle)
  4. Ford, A.C., et al.: Am. J. Gastroenterol. 2014, 109, 1350. (Link zur Quelle)
  5. Ford, A.C., et al. (ATLANTIS = Amitriptyline at Low-Dose and Titrated for Irritable Bowel Syndrome as Second-Line Treatment): Lancet 2023, 402, 1773. (Link zur Quelle)
  6. de Wit, N., und Keszthelyi, D.: Lancet 2023, 402, 1727. (Link zur Quelle)