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Leserbrief: Nochmals: Koanalgetika bei chronischen Schmerzen

Dres. R.S. und L.R. aus Köln schreiben: >> In dem Artikel „Koanalgetika bei chronischen Schmerzen“ (AMB 2001, 35, 89) wird zu Recht auf die Bedeutung der Koanalgetika bei chronischen tumor- und nicht-tumorbedingten Schmerzsyndromen hingewiesen. Dennoch werden einige Standpunkte vertreten, die nicht unwidersprochen bleiben können. So wird in der Einleitung behauptet, Opioide versagen besonders häufig bei neuropathischen Schmerzen. Neuropathischer Schmerz wird immer noch häufig als „therapierefraktär“ oder „opioid-insensibel“ bezeichnet, doch konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, daß diese Behauptung nicht zutreffend ist. In einer prospektiven Longitudinalstudie mit 593 Tumorschmerz-Patienten konnte die Schmerzintensität von neuropathischen, gemischt neuropathisch-nozizeptiven und nozizeptiven Schmerzen mit einer Schmerztherapie gemäß den WHO-Empfehlungen statistisch signifikant reduziert werden. Dieses Ergebnis war nicht von der Art der eingesetzten Analgetika und Koanalgetika beeinflußt (6). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Zenz et al. und Schulzeck et al. in retrospektiven bzw. prospektiven Untersuchungen an Patienten mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzsyndromen (9, 15). Dellemijn et al. sowie Watson und Babul legten randomisierte, doppeltblinde, plazebokontrollierte Studien vor, die die Effektivität von Fentanyl, Oxycodon bei neuropathischen Schmerzsyndromen belegen (4, 12). Für Morphin gibt es eine Untersuchung, die dessen Effektivität bei der Behandlung der postherpetischen Neuralgie nachweist (8). Auch in der Langzeitbehandlung neuropathischer Schmerzen erwies sich transdermales Fentanyl als effektiv (3).

In der Übersicht wird erwähnt, daß es ein allgemein anerkanntes erweitertes WHO-Stufenschema gebe. Eine Erweiterung über die allgemein bekannten 3 Stufen existiert jedoch nicht. In der ersten Auflage der Empfehlungen zur Therapie von Tumorschmerzen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft wurde zwar ein solcher Versuch unternommen – der Stufe 3 folgte eine 4. Stufe („Spinales Opioid oder subkutane Opioidinfusion“) – doch wurde diese Erweiterung in der 2., aktualisierten Auflage wieder fallengelassen (1, 2). Ebenso findet man ein erweitertes Stufenschema nicht in den Publikationen der WHO (13, 14). In diesem Zusammenhang von einem „allgemein anerkannten erweiterten WHO-Stufenschema“ zu sprechen, ist falsch und irreführend.

Die Autoren beschreiben in ihrem Artikel verschiedene Koanalgetika und bewerten diese hinsichtlich ihrer Indikationen und ihres Stellenwerts in der Schmerztherapie. Diese Wertung ist jedoch in einigen Punkten durchaus diskussionsbedüftig. So ist z.B. der Stellenwert von Lamotrigin (es wird als häufig verwendetes Koanalgetikum bezeichnet) nicht unumstritten. Es liegen zu dieser Substanz hauptsächlich Einzelfallberichte vor. Die wenigen randomisierten kontrollierten Studien sind hinsichtlich der Effektivität bei verschiedenen Schmerzsyndromen widersprüchlich (5, 7, 11). Dies gilt auch für Substanzen wie Mexitil und Ketamin. Der Einsatz von NMDA-Antagonisten wie Ketamin ist darüber hinaus durch zum Teil schwerwiegende Nebenwirkungen, wie Sedierung und Halluzinationen, deutlich limitiert. Auch die in dem Artikel angegebene Reihenfolge des Einsatzes von Koanalgetika bei neuropathischen Schmerzen ist nicht unumstritten. Die Number needed to treat (NNT) für Mexitil in der Behandlung der schmerzhaften Polyneuropathie liegt bei 38, wohingegen die NNT für trizyklische Antidepressiva (TZA) bei 2,6, für selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer bei 6,7, für Carbamazepin bei 2,5 und für Gabapentin bei 4,1 liegt (10).

Die Darstellung von Koanalgetika in der Therapie von chronischen Schmerzen im ARZNEIMITTELBRIEF ist jedoch wichtig, da der Stellenwert, die Indikationen und die daraus resultierenden Möglichkeiten einer Therapieoptimierung noch weitgehend unbekannt sind bzw. nicht im ausreichenden Maße angewandt werden. <<

Literatur

  1. Arzneimittelkominission der Deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Therapie von Tumorschmerzen. 1996, 1. Auflage.
  2. Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Therapie von Tumorschmerzen. 2000, 2. Auflage.
  3. Dellemijn, P.L.I, et al.: J. Pain Symptom Manage. 1998, 16, 220.
  4. Dellemijn, P.L.I, und Vanneste, J.A.L.: Lancet 1997, 349, 753.
  5. Eisenberg, E., et al.: Neurology 2001, 57, 505.
  6. Grond, S., et al.: Pain 1999, 79, 15.
  7. McCleane, G.: Pain, 1999, 83, 105.
  8. Rowbotham, M.C., et al.: Neurology 1991, 41, 1024.
  9. Schulzeck, S., et al.: Anaesthesist 1993, 42, 545.
  10. Sindrup, S.H., und Jensen, T.S.: Neurology 2000, 55, 915.
  11. Vestergaard, K., et al.: Neurology 2001, 56, 184.
  12. Watson, C.P., und Babul, N.: Neurology1998, 50, 1837.
  13. World Health Organisation: Cancer Pain Relief. 1986.
  14. World Health Organisation: Cancer Pain Relief: with a guide to opioid availability. 1996, 2. Auflage.
  15. Zenz, M., et al.: J. Pain Symptom Manage. 1992, 7, 69.
  16. Insbesondere betrifft dies die Frage der Opioidsensibilität neuropathischer Schmerzen. Bis vor wenigen Jahren hallte noch das Diktum von R.G. Twycross nach: „Nociceptive pain is opioidresponsive and neuropathic pain is not“ (1). R.K. Portenoy hat später einschränkend darauf hingewiesen, daß „Opioid-therapy cannot be withheld … in neuropathic pain“ (2). Eine neuere Metaanalyse (3) versuchte, die auswertbaren Opioid-Studien mit den Koanalgetika zusammenzustellen. Hier zeigten sich bei Opioiden (Tramadol, Oxycodon) NNT-Werte, die zwar schlechter als für TZA, Phenytoin und Carbamazepin waren, jedoch vergleichsweise besser als für andere Koanalgetika (z.B. Gabapentin). Leider sind die meisten Studien zu diesem Thema „Titrationsstudien“, wie auch die angesprochene Publikation im Lancet (4) mit nur 5 Stunden Beobachtungszeit. In der Nachbeobachtung (5) reduzierte sich die Zahl der „Opioidresponder“ von 30 Patienten nach 12 Wochen auf 13 nach 30 Wochen und auf 9 nach 2 Jahren von ursprünglich 53 eingeschlossenen Patienten, was einer NNT von 5 entsprechen würde. Die andere als Beispiel angeführte Studie (6) hatte eine Beobachtungszeit von 4 Wochen („Drop-out“-Rate > 25%). Zudem konnten einige, meist retrospektive Studien zeigen, daß bei Tumorpatienten Opioide immer dann weniger wirksam waren, wenn eine neuropathische Schmerzkomponente vorlag (Übersicht bei 7). Angesichts dieser Literaturlage erscheint es gerechtfertigt, einerseits davon zu sprechen, daß „Opioide generell bei starken chronischen Schmerzen die wirksamsten Analgetika sind“ und es „keinen prinzipiell opioidresistenten Schmerz gibt“, daß andererseits Opioide aber bei bestimmten Schmerzarten – als relative Bewertung – „besonders häufig versagen“, so daß dann eine Indikation für Koanalgetika besteht.
  17. Wir beziehen uns wegen des überwiegend deutschen Leserkreises auf einen Ausdruck, der im Lehrbuch der Schmerztherapie von Zenz (in Deutschland als Standardwerk geltend) verwendet wird. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier noch einmal betont, daß es sich nicht um ein von der WHO erweitertes Stufenschema handelt, sondern um eine dem Lehrbuch entnommene Formulierung (8). Es handelt sich damit vielleicht nicht um eine allgemein in Deutschland anerkannte, aber zumindest bekannte Erweiterung des WHO-Stufenschemas. Aus didaktischen Gründen halten wir diese Erweiterung für außerordentlich nützlich, um den Stellenwert der medikamentösen im Kontext mit der invasiven Schmerztherapie deutlich zu machen.
  18. Es ist richtig, daß der Stellenwert von Lamotrigin nicht unumstritten ist. Im Text wird explizit darauf hingewiesen, daß Lamotrigin wahrscheinlich keinen analgetischen Effekt hat. Daß es sich um ein „häufig verwendetes Koanalgetikum“ – wie durch die Tabellenüberschrift suggeriert – handelt, wurde allerdings nicht aus objektiven Verordnungszahlen, sondern aufgrund anekdotischer Kenntnisse geschlossen. Hinsichtlich Mexiletin wurde ausdrücklich erwähnt, daß nur die genannte spezielle Indikation („kardial gesunder Tumorpatient mit attackenförmigem neuropathischem Schmerz, wie z.B. bei lumbosakraler Plexopathie“) geeignet scheint. In der bereits weiter oben erwähnten Metaanalyse (3) war die NNT, bezogen auf neuropathische Schmerzen, allgemein 10.
  19. In einer ausführlichen Übersicht ist es nach unserer Ansicht gestattet, auch solche seltenen Therapieoptionen vorzustellen, da dies die Überweisung „therapieresistenter“ Schmerzpatienten an spezialisierte Schmerztherapeuten motivieren könnte.
  20. 2 Mexiletin und TZA falsch gesetzt wurden: die TZA müssen hier als Koanalgetika der dritten Wahl angesehen werden. Die sonstige Reihenfolge ist selbstverständlich nur als Anhalt zu sehen und diskussionswürdig, da keine Evaluation existiert. Die von Sindrup, S.H. genannten NNT beziehen sich auf spezifische Krankheitsbilder (z.B. Polyneuropathie oder postzosterische Neuralgie), so daß eine direkte Übertragung auf die im Text verwendete symptomorientierte Einteilung der Koanalgetika nicht in vollem Umfange möglich wäre. <<
  21. Twycross, R.G.: Cancer Surv. 1988, 7, 29.
  22. Portenoy, R.K.: J. Pain Symptom Manage. 1996, 11, 203.
  23. Sindrup, S.H., et al.: Pain 1999, 83, 389.
  24. Dellemijn, P.L.I., und Vanneste, J.A.L.: Lancet 1997, 349, 753.
  25. Dellemijn, P.L.I., et al.: J. Pain Symptom Manage. 1998, 16, 220.
  26. Watson, C.P., und Babul, N.: Neurology 1998, 50, 1837.
  27. Mercadante, S., und Protenoy, R.K.: J. Pain Symptom Manage. 2001, 21, 144.
  28. Strumpf, M., und Zenz, M.: Erweitertes Stufenschema. In: Lehrbuch der Schmerztherapie. Hrsg.: Zenz, M., und Jurna, I. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2001. 2. Aufl., S. 485-486.