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Progressive multifokale Leukenzephalopathie: eine seltene, aber schwere unerwünschte Arzneimittelwirkung nach Rituximab

Angesichts der zunehmenden Indikationsausweitungen von Rituximab (MabThera®) auf verschiedene lymphoproliferative und Autoimmunerkrankungen (vgl. 1) sollten sich Ärzte und Patienten der z.T. schweren unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) dieses monoklonalen Antikörpers bewusst sein, wie u.a. der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML). Die PML ist eine schwere demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch Reaktivierung des Polyomavirus JC (JCV) verursacht wird (benannt nach den Initialen des Patienten, bei dem es erstmals isoliert wurde). Die asymptomatische Erstinfektion erfolgt häufig schon im Kindesalter, und bei etwa 80% der Erwachsenen sind Antikörper gegen JCV nachweisbar. Die PML tritt fast ausschließlich bei immunsupprimierten Patienten durch Reaktivierung der latenten Infektion auf. Es gibt nur wenige Einzelfallberichte einer PML bei Patienten ohne offensichtliche Immunsuppression. Das Virus induziert eine lytische Infektion der Oligodendrozyten, die die Myelinscheiden der Nervenzellen bilden. Je nach Lokalisation der Entmarkungsherde im ZNS kann es zu unterschiedlichen neurologischen, psychiatrischen und/oder kognitiven Störungen kommen, z.B. Aphasie/Dysarthrie, Paresen, epileptische Anfälle, Verwirrtheit (2, 3).

Die Diagnose wird in der Regel durch Untersuchung des Liquors (PCR der JCV-DNA) in Verbindung mit passenden Veränderungen in der MRT gestellt. Eine wirksame Therapie der PML gibt es bislang nicht, entscheidend ist die Immunrekonstitution. Die Krankheit verläuft meist progressiv und führt im Durchschnitt innerhalb von 3-20 Monaten zum Tod. Entwickelt ein Patient eine PML, muss Rituximab sofort und dauerhaft abgesetzt werden.

Die PML wurde zuerst bei Patienten mit hämatologischen Erkrankungen beschrieben. Seit den 80-iger Jahren wird die Krankheit auch als opportunistische Infektion bei AIDS beobachtet (2). Mit dem Auftreten von AIDS stieg die Zahl der PML-assoziierten Todesfälle in den USA von 1,5 pro 10 Mio. Personen im Jahr 1979 auf 6,1 pro 10 Mio. Personen im Jahr 1987 (4). Nach Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) sank die Inzidenz der PML bei HIV-infizierten Patienten wieder (5). In letzter Zeit haben Berichte über einzelne Fälle einer PML nach Natalizumab bzw. Rituximab Aufsehen erregt (6-10).

In der Zeitschrift Blood erschien nun eine Darstellung von 57 HIV-negativen Patienten mit einer PML, die Rituximab erhalten hatten (11). Die Zahl der Fallberichte weist darauf hin, dass die PML als schwere UAW unter Rituximab häufiger auftreten könnte als bisher angenommen. Der Bericht kommt von einem multidisziplinären Pharmakovigilanz-Team aus den USA, dass sich RADAR nennt und aus 25 klinisch erfahrenen Ärzten besteht, die gezielt verschiedene Datenquellen nutzen, um unabhängig von der pharmazeutischen Industrie UAW zu identifizieren bzw. zu verifizieren und darüber in Fachzeitschriften zu berichten (12, 13). Für die Zusammenstellung der publizierten Fälle wurde bei der FDA, beim Hersteller und bei Ärzten nachgeforscht sowie eine Literaturrecherche durchgeführt. Insgesamt wurden 52 Patienten mit lymphoproliferativen Erkrankungen und fünf Patienten mit Autoimmunerkrankungen (zwei Patienten mit einem Systemischen Lupus erythematodes, ein Patient mit Rheumatoider Arthritis, ein Patient mit einer idiopathischen Panzytopenie, ein Patient mit einer Immunthrombozytopenie) identifiziert, die nach Rituximab eine PML entwickelten. Anfragen bei Leitern von Behandlungszentren für Lymphome ergaben detaillierte Angaben zu 22 Patienten, von denen davor nur sehr wenige über das Spontanmeldesystem bekannt gewesen waren. Die Patienten hatten außer Rituximab auch andere Wirkstoffe bzw. Therapien erhalten, wie eine hämatopoetische Stammzelltransplantation (sieben Patienten), Purinanaloga (26 Patienten), alkylierende Substanzen (39 Patienten), Azathioprin und Kortikosteroide. Bei Diagnose der PML hatten die Patienten neuropsychiatrische Symptome wie Verwirrung und Desorientierung (54%), Muskelschwäche und Hemiparese (25%), schlechte motorische Koordination (25%) sowie Sprach- (21%) und Sehstörungen (18%). Bei 14 Patienten lagen quantitative T-Zell-Untersuchungen vor, die eine verminderte Zahl von CD4+T-Lymphozyten bzw. eine erniedrigte CD4/CD8-Ratio zeigten.

Zwischen der letzten Gabe von Rituximab und der Diagnose der PML lagen im Median 5,5 Monate. Nach der Diagnose der PML vergingen im Median weitere zwei Monate bis zum Tod der Patienten. Insgesamt starben 90%. Die fünf überlebenden Patienten hatten residuale neurologische Defizite, einschließlich motorischer Aphasie, Hemiparese und Sehstörungen.

Die pathophysiologischen Vorgänge der mit Rituximab assoziierten PML sind noch unklar. Die virale Reaktivierung ist sicher nicht nur Folge der Depletion von B-Lymphozyten bzw. des sekundären Antikörpermangels. Diskutiert werden Veränderungen in der Aktivität von T-Lymphozyten infolge der B-Zell-Depletion, aber auch eine Latenz des Virus in hämatopoetischen Vorläuferzellen, die während der Chemotherapie in das periphere Blut mobilisiert werden und dadurch eine hämatogene Ausbreitung des Virus ermöglichen.

Fazit: Die PML ist eine schwere, meist innerhalb kurzer Zeit tödlich verlaufende Erkrankung, die auch nach Rituximab auftreten kann. Patienten müssen über die PML als sehr seltene, aber lebensbedrohliche Komplikation aufgeklärt und regelmäßig auf entsprechende Symptome untersucht werden, insbesondere auf solche, die sie selbst möglicherweise nicht bemerken (z.B. kognitive und psychiatrische Symptome). Auch Angehörige oder Pflegende sollten auf die Gefahr einer PML hingewiesen werden, da auch sie Symptome feststellen könnten, die dem Patienten nicht auffallen. Bei Verdacht auf PML muss Rituximab sofort abgesetzt und eine entsprechende Diagnostik eingeleitet werden. Außerhalb kontrollierter Studien sollte Rituximab nur in den zugelassenen Indikationen angewendet werden. Eine PML im Zusammenhang mit Rituximab sollte auch bei Off-label-Anwendung gemeldet werden.

Literatur

  1. AMB 2009, 43, 52b. Link zur Quelle
  2. Weber, T.: Neurol. Clin. 2008, 26, 833. Link zur Quelle
  3. Roche: Fachinformation „MabThera®”. Stand: April 2009. Link zur Quelle
  4. Holman, R.C., et al.: Neurology 1991, 41, 1733. Link zur Quelle
  5. Engsig, F.N., et al.: J. Infect Dis. 2009, 199, 77. Link zur Quelle
  6. AkdÄ: Deutsches Ärzteblatt 2008, 105, 1866.
  7. Roche Pharma AG: MabThera® (Rituximab). Rote-Hand-Brief vom 2. April 2007. Link zur Quelle
  8. Biogen idec GmbH: Dear-Doctor-Letter vom 20.8.2008. Link zur Quelle
  9. AMB 2005, 39, 49. Link zur Quelle
  10. AMB 2006, 40, 51. Link zur Quelle
  11. Carson, K.R., et al. (RADAR = Research on Adverse Drug Events And Reports project): Blood 2009, 113, 4834. Link zur Quelle
  12. Homepage von RADAR: Link zur Quelle. Zuletzt geprüft am 20.6.2009.
  13. Bennett, C.L., et al. . (RADAR = Research on Adverse Drug Events And Reports project): JAMA 2005, 293, 2131. Link zur Quelle