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Neue Arzneimittel: In Zulassungsstudien werden aus Sicht der Arzneimittelsicherheit oft zu wenige Patienten und diese unzureichend lang studiert

Im Rahmen der Zulassung werden in Europa Qualität, Wirksamkeit und medizinische Unbedenklichkeit eines neuen Arzneimittels in dem vorgesehenen Anwendungsgebiet von den nationalen Zulassungsbehörden bzw. der European Medicines Agency (EMA) geprüft. Bei Vorliegen eines positiven Nutzen-Risiko-Profils („Benefit-risk-profile”) wird die Zulassung erteilt. Formale Vorgaben für die erforderliche Zahl der zu untersuchenden Patienten, Dauer der Behandlung und die minimale Beobachtungsdauer existieren nicht. Diese Parameter werden in praxi durch die Berechnungen der pharmazeutischen Unternehmer (pU) für die statistische Power bestimmt, die für den Nachweis vor allem der Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs erforderlich ist. Ob ein neues Arzneimittel angewendet werden sollte, wird aber nicht allein von der Wirksamkeit, sondern ganz wesentlich auch von seinen Risiken bestimmt.

EMA und US-amerikanische Zulassungsbehörde (Food and Drug Administration = FDA) orientieren sich bei ihren Prüfungen meist an den Vorschlägen der International Conference on Harmonisation (ICH) aus dem Jahre 1994. Deren sog. E1-Leitlinie empfiehlt für neue Arzneimittel, die länger als sechs Monate angewendet werden sollen, dass mindestens 1000-1500 Patienten die Prüfsubstanz erhalten sollten. Von diesen sollten 300 den Wirkstoff über 6 Monate und 100 über 12 Monate erhalten (1). Die Grundlagen dieser Empfehlungen werden in der ICH-Leitlinie nicht erläutert; es handelt sich vermutlich um einen Expertenkonsens.

Auf der Grundlage dieser ICH-E1-Leitlinie hat nun eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den Niederlanden und Großbritannien – Pharmakologen und Mitarbeiter der nationalen Zulassungsbehörden – alle im Zeitraum 2000-2010 auf dem Wege des zentralen Verfahrens in der EU zugelassenen Arzneimittel hinsichtlich der Zahl untersuchter Patienten und der Dauer der Einnahme, besonders bei chronischem Gebrauch (> 6 Monate), untersucht (2). Zur Identifikation dieser Neuzulassungen wurde das öffentlich zugängliche „Community Register of Medicinal Products” der Europäischen Kommission ausgewertet (3). Analysiert wurden alle neuen Wirkstoffe. Ausgeschlossen wurden sog. Duplikate, also Arzneimittel mit einem identischen Wirkstoff, aber unterschiedlichen Produktnamen (z.B. Januvia® und Xelevia®). Aus den ebenfalls öffentlich zugänglichen Bewertungsberichten der EMA (European Public Assessment Reports = EPARs) wurde die Gesamtzahl der Studienteilnehmer (Patienten und gesunde Probanden) ermittelt, die mindestens eine Dosis des Arzneimittels erhalten hatten. Zudem wurde analysiert, wie viele der Studienteilnehmer mindestens 6 bzw. 12 Monate mit dem entsprechenden Arzneimittel behandelt worden waren.

Jedes Arzneimittel wurde nach seiner Anwendungsdauer klassifiziert als chronischer Gebrauch (z.B. Asthma- oder HIV-Mittel), zeitlich befristete (z.B. Krebstherapeutika) oder kurzzeitige Anwendung (z.B. Schmerzmittel oder Diagnostika). Außerdem wurde bei den Arzneimitteln anhand ihrer Zulassung zwischen „Standard-Arzneimittel” und Arzneimitteln für seltene Erkrankungen (Orphan drug) unterschieden.

Ergebnisse: Insgesamt identifizierten die Autoren 200 Arzneimittel, die im Zeitraum 2000-2010 im zentralen Verfahren EU-weit zugelassen worden waren – darunter 161 (80,5%) als „Standard-Arzneimittel” und 39 (19,5%) als Orphan drug. Sechs dieser Arzneimittel wurden nach ihrer Zulassung wieder vom Markt genommen: Rimonabant, Sitaxentan, Efalizumab, Epoetin delta, Technetium (99mTc) Depreotid und Rosiglitazon.

Die mediane Zahl der vor der Zulassung studierten Patienten betrug 1708 bei den „Standard-Arzneimitteln” und 438 bei den Orphan drugs. 26,7% der Standardmedikamente wurden bei weniger als 1000 Menschen erprobt und 12,4% bei weniger als 500 Patienten (79,4% bzw. 53,8% bei den Orphan drugs). Das Insulin NovoMix® wurde beispielsweise vor seiner Zulassung nur an 291 Patienten und der Phosphatbinder Sevelamer (Renagel®) nur an 384 Patienten getestet. Renagel® wird von Dialysepatienten oft jahrelang eingenommen. Trotzdem wurde vor der Zulassung eine sechsmonatige Prüfung nur bei 192 Patienten vorgenommen, 12-Monatsdaten fehlen im EPAR gänzlich. Cholestagel®, ein Cholesterinsenker mit zweifelhaftem Nutzen, wurde nur bei 260 Patienten 6 und 12 Monate lang geprüft und Ceprotin®, ein synthetisches Protein C, wurde insgesamt nur bei 89 Patienten studiert, und es fehlen Angaben zur Anwendung über 6 bzw. 12 Monate.

Die Auswertung verdeutlicht eindrucksvoll die unzureichenden Kenntnisse zur Wirksamkeit, vor allem aber zu den Nebenwirkungen bei chronischem Gebrauch von Arzneimitteln. Die Richtlinien bezüglich der 6-monatigen Exposition von mindestens 300 Patienten wurden nur von 82,1% der neuen Arzneimittel erfüllt und die 12-monatige Exposition von mindestens 100 Patienten von 79,8%. Das bedeutet, dass bei etwa einem Fünftel der neuen Arzneimittel für chronischen Gebrauch keine ausreichenden Informationen zur Sicherheit bei längerer Anwendung vorliegen. Die 16 „Standard-Arzneimittel” für den Dauergebrauch, bei denen die im ICH-E1-Standard festgelegten Vorgaben nicht erfüllt wurden, sind in Tab. 1 wiedergegeben. Nur 12% der 39 Orphan drugs erfüllten den ICH-E1-Standard (vgl. 4), meist, weil die Zahl der Patienten < 1000 lag (31/39) und/oder die Zahl der 6 bzw. 12 Monate lang nachbeobachteten Patienten zu gering bzw. unbekannt war (34/39).

Die Autoren diskutieren am Beispiel Rosiglitazon (5), dass der ICH-E1-Standard tatsächlich unzureichend ist, um zum Zeitpunkt der Zulassung alle relevanten Sicherheitsrisiken neuer Arzneimittel identifizieren zu können. Bei einer Herzinfarkt-Inzidenz von 36/10.000 in der Kontroll-Gruppe und einer Odds Ratio von 1,43 unter Rosiglitazon hätten bei einer statistischen Power von 80% und einem zulässigen alpha-Fehler von 0,05% rund 30.000 Patienten pro Studienarm untersucht werden müssen, um das erhöhte Herzinfarkt-Risiko vor der Zulassung identifizieren zu können.

Angesichts der offensichtlichen Defizite in Zulassungsstudien diskutieren die Autoren ausführlich den Stellenwert klinischer Studien nach der Zulassung (Post-Authorisation Efficacy bzw. Safety Studies = PAES bzw. PASS; 2). Sie sind notwendig, um offene Fragen zur Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen und vor allem zur Sicherheit neuer Arzneimittel beantworten und dann eine valide Nutzen-Risiko-Bewertung vornehmen zu können. Von großer Bedeutung sind hierbei Maßnahmen im Rahmen der Pharmakovigilanz, um weitere Nebenwirkungen zu erkennen, wie Spontanmeldesysteme, PASS, Pläne zum Risikomanagement, aber auch neue Methoden – beispielsweise ein automatisiertes kontinuierliches UAW-Monitoring von anonymisierten Patientenakten (Sentinel Initiative der FDA oder das EU-ADR-Projekt; 2, 6).

Fazit: In Europa wurden neue Arzneimittel im Zeitraum 2000-2010 vor ihrer Zulassung an durchschnittlich 1708 Patienten geprüft und Orphan drugs an 438. Etwa ein Viertel der neu zugelassenen Wirkstoffe wurde an < 1000 Patienten geprüft. Nur 80% der neuen Arzneimittel, die für einen chronischen Gebrauch vorgesehen sind, wurden bei mindestens 300 Patienten länger als sechs Monate untersucht. Diese Abweichungen von den Standards der International Conference on Harmonisation für die Zulassung neuer Arzneimittel führen dazu, dass viele Risiken vor der Zulassung übersehen werden und Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit nicht möglich sind. Seltene Nebenwirkungen sind aus statistischen Gründen - selbst bei Erfüllung der Standards - prospektiv nicht zu erkennen. Konsequente Vorgaben der EMA zu Maßnahmen der Pharmakovigilanz und deren rasche Umsetzung sind nach der Zulassung von Arzneimitteln dringend notwendig (6).

Literatur

  1. http://www.ich.org/fileadmin/Public_Web_Site/ICH_Products/Guidelines/Efficacy/ E1/Step4/E1_Guideline.pdf Link zur Quelle
  2. Duijnhoven,R.G., et al.: PLoS Med. 2013, 10, e1001407. Link zur Quelle
  3. EuropeanCommission Directorate-General Health and Consumers (2013) Community registerof medicinal products: Link zur Quelle
  4. AMB 2008, 42,73. Link zur Quelle
  5. AMB 2012, 46,87. Link zur Quelle
  6. Raine, J., etal.: Clin. Pharmacol. Ther. 2011, 89, 650. Link zur Quelle

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