Die Geldflüsse zwischen der Industrie und medizinischen Dienstleistern sind auch 8 Jahre nach Etablierung des sog. „Transparenzkodex“ des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e.V.“ (FSA, vgl. [1]) sehr intransparent. Nach wie vor gibt es keine gemeinsame Darstellung der pharmazeutischen Unternehmer (pU) über ihre Zahlungen. Jeder pU veröffentlicht die jährlichen Zuwendungen an die Angehörigen der Gesundheitsberufe (AngGB) – mehr oder weniger gut auffindbar – auf seiner Webseite. Die Dateien sind aus juristischen Gründen unvollständig und dürfen für Analysen auch nur sehr eingeschränkt verwendet werden. Außerdem werden sie technisch stark beschränkt, was eine gezielte Suche erheblich erschwert. Geradezu skandalös ist, dass die Medizingeräte-Hersteller (MGH) ihre Geldflüsse nach wie vor nicht veröffentlichen.
Diese Intransparenz ist nicht nur ein Problem in Deutschland und Österreich. Eine kürzlich durchgeführte Überprüfung der „freiwilligen Berichterstattung“ der Industrie in 7 europäischen Ländern ergab, dass es in keinem dieser Länder möglich ist, sich ein genaueres Bild über die finanziellen Beziehungen zwischen der Industrie und den „Gesundheitsdienstleistern“ zu verschaffen [2].
Um die finanzielle Dimension in Deutschland abzuschätzen, haben wir uns exemplarisch die Offenlegungen eines einzelnen pU für das Jahr 2021 angeschaut. Der pU untersagt explizit, die Daten in jedweder Art weiterzuverarbeiten. Jeder Leser muss sich also ein eigenes Bild verschaffen. Der hier als Beispiel angeführte pU rangiert nach seinen Umsätzen unter den Top 10. Insgesamt legt er rund 30 Mio. € offen. Davon flossen rund 20 Mio. € an nicht näher charakterisierte Forschungsunterstützungen („Research & Development“). Mit knapp 5 Mio. € wurden Fortbildungsveranstaltungen einzelner Institutionen unterstützt und mit 1,7 Mio. € Fachkongresse. Die sog. „Angehörigen medizinischer Fachkreise“ (meist Ärztinnen und Ärzte) erhielten rund 3 Mio. €, überwiegend für sog. „Dienstleistungs- und Beratungshonorare sowie andere Zahlungen für vertragliche Leistungen“. Dabei werden bei weniger als einem Drittel der Zahlungen die Namen der Empfänger genannt; die Mehrzahl der Empfänger verweigert die Offenlegung ihrer Namen (vgl. [3]). Diese Zahlungen werden aggregiert aufgelistet.
Bei den namentlich deklarierten Zuwendungen liegt der Wert der Zuwendungen zwischen 100 und 15.000 €; der Durchschnittswert beträgt 1.650 € pro Ärztin oder Arzt. Patientenorganisationen erhielten von dem pU im analysierten Kalenderjahr insgesamt rund 300.000 € und sog. „andere Organisationen“ 200.000 €.
Extrapoliert man diese Zahlen nun auf > 50 pU, die Mitglieder beim FSA sind, dürfte es sich bei konservativer Schätzung um ein Gesamtvolumen von mindestens 500 Mio. € handeln. Das entspricht etwa 1,2% des Jahresumsatzes der pharmazeutischen Industrie in Deutschland (ca. 42 Mrd. €; [4]). Unter der Annahme, dass die MGH, also die Hersteller von Implantaten, Operationsmaterialien sowie diagnostischen und therapeutischen Apparaturen, ähnlich hohe Summen aufwenden, dann dürften weitere 435 Mio. € hinzukommen (1,2% vom jährlichen Gesamtumsatz von 36 Mrd. €; [5]). Somit schätzen wir, dass in Deutschland Angehörige der Gesundheitsberufe jedes Jahr mindestens 900 Mio. € von der Industrie erhalten.
Diese Schätzung entspricht in der Größenordnung etwa dem, was auch in den USA gezahlt wird. Dort ist die Offenlegung der Geldflüsse ja gesetzlich verpflichtend, nach dem sog. „Sunshine Act“ ([1], [6]). Anders als in Europa kann jeder in der sog. „Open Payments Database“ recherchieren, ob, wie viel und wofür sein behandelnder Arzt oder Ärztin oder Gesundheitsdienstleister von welcher Firma Geld oder geldwerte Leistungen erhalten hat. Im Jahr 2019 flossen von den pU und MGH insgesamt 3,5 Mrd. US$ an die Angehörigen der Gesundheitsberufe. In Relation zur Einwohnerzahl (331 Mio.) passt dies in den Rahmen der von uns geschätzten 900 Mio. € in Deutschland.
Der US-amerikanische Arzt und Verbraucherschützer Sidney Wolfe ist Mitbegründer der „Public Citizen‘s Health Research Group“ und Mitherausgeber von „Worst Pills, Best Pills“, einem unserer Schwesterbulletins bei der „International Society of Drug Bulletins“ (ISDB). Im April dieses Jahres forderte er, endlich auch in Europa eine verpflichtende Offenlegung aller Geldflüsse im Gesundheitswesen einzuführen [7]. Freiwillige Angaben seien extrem unzuverlässig, und es bestehe eine sehr große „Offenlegungslücke“. So hat ein Abgleich der Selbstauskunft von 200 Autorinnen und Autoren wissenschaftlicher Artikel in hochrangigen neurologischen Fachzeitschriften mit den Angaben in der „Open Payment“-Datenbank [8] ergeben, dass 970 von 2.239 Zahlungen (43%) über einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Veröffentlichung des Artikels von den Autoren nicht deklariert wurden. Die durchschnittlichen Zahlungen pro Autor betrugen 114.722 US$, mit einem Maximum von 876.952 US$. Insgesamt wurden 60,5% der Gesamtsumme in den analysierten Publikationen nicht deklariert.
Die große Bedeutung dieser finanziellen Verbindungen veranschaulicht Wolfe an drei publizierten Beispielen aus den USA. So haben US-Ärzte, die Geld von den pU von Opioiden annahmen (meist Rednerhonorare) signifikant häufiger Opioide an Patienten verschrieben, die weder krebskrank waren noch sich in einer Hospizbetreuung befanden, im Vergleich zu Ärzten, die keine finanziellen Verbindungen mit den pU hatten. Außerdem verordneten sie häufig höhere als die vorgeschriebenen Dosierungen [9]. Gastroenterologen, die Gelder von pU von bestimmten Antikörpern annahmen, verordneten diese Medikamente bei entzündlichen Darmerkrankungen deutlich häufiger als ihre Kollegen, die keine Gelder nahmen. Für jeden US$, den diese Ärzte annahmen, konnte bei ihnen ein Anstieg der Therapiekosten um 3,16 US$ berechnet werden [10]. Besonders eng ist die Beziehung von Kardiologen mit den MGH. Von 4.435 Kardiologen, die kardiale Defibrillatoren oder Resynchronisationssysteme implantieren, nahmen über einen Zeitraum von 3 Jahren 4.152 (94%) Geld oder geldwerte Leistungen von den 4 großen Geräteherstellern an, im Mittel 4.915 US$ (Maximum 323.559 US$). Dabei implantierten sie ihren Patienten signifikant häufiger die Geräte des Herstellers, von dem sie die höchsten Zuwendungen erhalten hatten [11].
Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Zusammenhänge inakzeptabel sind und das Vertrauen in die Medizin untergraben. Ärztinnen und Ärzte sind ihren Patienten verpflichtet und sollten jedwede Verpflichtungen gegenüber MGH und pU vermeiden. Früher oder später geraten sie durch diese Verbindungen in einen vermeidbaren Konflikt.
Um die engen Verflechtungen zwischen Medizin und Industrie (sog. „medizinisch-industrieller Komplex“) zu lösen, ist eine verpflichtende Transparenz auch in der Europäischen Union aber nur ein erster Schritt. Als weiterer Schritt sollte Korruption im Gesundheitswesen konsequent verfolgt und sanktioniert werden. Als Vorbild hierfür kann das sog. „Anti-Kickback Statute“ in den USA gelten. Dieses Gesetz stellt das vorsätzliche Anbieten und Bezahlen sowie die wissentliche Annahme von Vergütungen zum Zweck, bestimmte Produkte zu verwenden oder Dienstleistungen zu erbringen, unter Strafe, wenn diese Leistung von einem öffentlichen Gesundheitsprogramm erstattet wird. Aufgrund dieses Gesetzes mussten bereits viele MGH und pU in den USA hohe Strafzahlungen leisten.
Laut Sidney Wolfe wurde dieses Instrument aber erst richtig effektiv, als 1987 ein Gesetz aus dem amerikanischen Bürgerkrieg reaktiviert wurde, der sog. „False Claims Act“. In dem sog. „Whistleblower amendment“ werden die Bürger ermutigt, Betrügereien mit öffentlichen Geldern dem Finanzministerium zu melden. Dies hat zwar den unangenehmen Beigeschmack von Denunziantentum, scheint aber eines der wenigen effektiven Instrumente gegen Korruption zu sein. Durch das Kickback-Statut konnte die US-Regierung zwischen 1987 und 2020 bereits 43,3 Mrd. US$ aus Betrügereien im Gesundheitsbereich zurückfordern. Davon gingen 35,4 Mrd. US$ auf Whistleblower-Klagen zurück.
Auch in der europäischen Union ist ein Whistleblower-Gesetz in Planung: EU „Whistleblower Protection Directive“ aus dem Jahre 2019. Doch der Etablierungsprozess verzögert sich [12].