Im September 2012 hatten wir ausführlich über das beispiellose Vorgehen des pharmazeutischen Unternehmers (pU) Sanofi-Aventis/Genzyme berichtet, sein Präparat MabCampath® (Wirkstoff Alemtuzumab), das zur Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) zugelassen und wirksam war, aus rein ökonomischen Gründen vom Markt zu nehmen (1). Dies geschah nicht etwa, weil MabCampath® nicht profitabel gewesen wäre – immerhin kostete ein 12-wöchiger Therapiezyklus bei B-CLL (insgesamt 1100 mg) ca. 23.000,00 € – sondern es winkte ein noch größerer Profit in einer anderen Indikation mit mehr Patienten, nämlich der Multiplen Sklerose (MS). Genzyme begründete diese Marktrücknahme – wie wir es sehen zynisch – damit, dass man sich zu diesem Handeln entschlossen habe, weil sich „das Unternehmen auf die Entwicklung von Alemtuzumab in der Behandlung der MS fokussieren wird“. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hatte der „freiwilligen Rücknahme“, wie dieser offenbar legale, aber patientenfeindliche Schachzug euphemistisch heißt, auch zugestimmt. Wir sehen darin das rücksichtslose kommerzielle Ausnutzen einer Gesetzeslücke mit inakzeptablen ethischen Folgen.
Im Juni beantragte Genzyme bei der EMA die Indikationsausweitung von Alemtuzumab zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig-remittierender MS und aktiver Erkrankung – definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung. Alemtuzumab wurde unter dem neuen Handelsnamen Lemtrada® im September 2013 zugelassen. Damit war der zweite Schritt in einem Plan getan, den die pU Fokussierung auf die Entwicklung von Alemtuzumab in der Behandlung der MS nennen. Wie von vielen kritischen Kennern des Arzneimittelmarkts vorausgesagt und befürchtet, zeigt sich diese Fokussierung zunächst in einer Änderung der Verpackung (Konzentrat enthält 12 mg zur Herstellung einer Infusionslösung) und einer geradezu astronomischen Preiserhöhung für den monoklonalen Antikörper Alemtuzumab. Dieses Vorgehen erinnert sehr an die Kündigung von Wohnungsmietern mit der Begründung des Eigenbedarfs (sic!), wobei der Eigentümer die auf diese Weise frei gewordene Wohnung später mit drastisch erhöhtem Mietzins auf den Markt wirft. Hier handelt es sich aber um Arzneimittel, um medizinische Versorgungssysteme und nicht zuletzt um Kranke. Tab. 1 vergleicht die Preise: Lemtrada® ist um den Faktor 40 teurer als MabCampath®. Patienten mit MS benötigen im ersten Behandlungsjahr 12 mg/d an fünf Tagen und im zweiten Behandlungsjahr 12 mg/d an drei Tagen, also insgesamt 96 mg. Daraus errechnen sich Arzneimittelkosten von ca. 85.000 € in zwei Jahren. Offenbar will Genzyme insgesamt ein höheres Preisniveau in der Behandlung der MS erreichen, was auch Rückwirkungen auf andere europäische Länder haben könnte, die sich an den Arzneimittelpreisen in Referenzländern orientieren (vgl. 2). Der gesamte Markt in Europa wäre dann im Sektor Therapie der MS finanziell noch attraktiver. Dies liegt sicherlich auch im Interesse der pU weiterer, kürzlich zugelassener neuer Wirkstoffe zur Behandlung der schubförmig-remittierenden MS wie Teriflunomid (Aubagio®) oder Dimethylfumarat (Tecfidera®).
Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts (AMNOG), das u.a. die Intention hat, in Deutschland die willkürliche Festsetzung der Arzneimittelpreise durch die pU zu beschränken, steht vor einer Bewährungsprobe (3). Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) wird sie zu bewältigen haben. Darüber hinaus sollte die Politik rasch darüber nachdenken, wie ökonomisch motivierte freiwillige Marktrücknahmen verhindert und unseriöses Profitstreben der pU Einhalt geboten wird.
Literatur
- AMB 2012, 46,67. Link zur Quelle
- AMB 2008, 42,25 Link zur Quelle und AMB 2008, 42, 65. Link zur Quelle
- AMB 2010, 44,89. Link zur Quelle