Der aus dem Englischen übernommene Begriff Gender umfasst nicht nur das biologische Geschlecht (= Sex) einer Person. Er schließt auch die sozialen Aspekte sowie psychische Eigenschaften und Verhaltensweisen mit ein, wie z.B. das Rollenbild in der Gesellschaft oder die Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit und der persönliche Umgang damit. „Gender medicine“ ist die internationale Fachbezeichnung für Humanmedizin unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten mit dem Ziel, die medizinische Versorgung von Frauen und Männern zu verbessern (1).
Wir sind bereits mehrfach darauf eingegangen, dass es bei Frauen und Männern hinsichtlich erwünschter und unerwünschter Wirkungen mancher Arzneimittel erhebliche Unterschiede gibt. Dies betrifft sowohl die Häufigkeit wie auch die Ausprägung. Hier spielen pharmakokinetische und pharmakodynamische Besonderheiten eine wichtige Rolle. Neuerdings werden diese auch auf molekularer Basis untersucht. Sie haben zu einem relativ neuen Forschungsgebiet geführt: Pharmakogenetik und Pharmakogenomik (vgl. 2-4). Da in diesem Bereich sehr persönliche Informationen gewonnen werden, hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), ebenso wie die FDA in den USA und die entsprechende Agentur in Japan, bereits Richtlinien für die dabei verwendeten Methoden und für den Umgang mit den gewonnenen individuellen Daten veröffentlicht (5).
Über Unterschiede von Arzneimittelwirkungen bei kardialen Krankheiten, aber auch in der therapeutischen Versorgung von Patientinnen, haben wir ausführlicher berichtet (6, 7). Beim Myokardinfarkt gibt es daneben deutliche epidemiologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Das generelle Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist bei Frauen niedriger als bei Männern (= geringere Mortalität), aber bei Frauen sind die Infarkte gefährlicher und führen häufiger zum Tode (= höhere Letalität; 7-9). Dies liegt wahrscheinlich nicht nur daran, dass Frauen, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden, zu diesem Zeitpunkt etwa zehn Jahre älter sind, sondern auch daran, dass akute infarktbedingte Symptome von den Frauen und von Ärzten häufig nicht als solche gedeutet werden. Dadurch verzögert sich nicht selten der Beginn der Versorgung. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass Frauen weniger intensiv behandelt werden (7-9). Bei Patientinnen mit Diabetes ist die Letalität beim Herzinfarkt besonders hoch, deutlich höher als bei gleichaltrigen Männern.
Aus psychosozialen und somatischen Gründen werden für Frauen vor allem Mittel gegen Migräne und Schilddrüsenerkrankungen, Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Hypnotika häufiger verordnet, Männern dagegen häufiger Herz-Kreislaufmittel (vgl. Tab. 1).
Bei der Verordnung von Schilddrüsenmedikamenten erklärt sich der Geschlechterunterschied dadurch, dass besonders autoimmune Schilddrüsenerkrankungen (Hashimoto-Thyreoiditis mit Hypothyreosefolge, Morbus Basedow) bei Frauen viel häufiger sind als bei Männern.
Wegen psychischer Störungen bekommen Frauen deutlich häufiger Arzneimittel als Männer. Nach Daten der deutschen Krankenkasse Barmer GEK aus dem Jahr 2010 erhielten Frauen mit durchschnittlich 33,4 Tagesdosen (= DDD) insgesamt 56% mehr psychotrope Medikamente als Männer (durchschnittlich 21,0 DDD; 9). Frauen können sich offenbar psychische Störungen eher eingestehen, darüber sprechen, und sie gehen auch öfter zum Arzt. Der Arzt sieht – wahrscheinlich nicht gerechtfertigt – in der Verordnung von Arzneimitteln oft die wichtigste Therapie. Auch neigen Frauen dazu, bei Stress, Ärger und Sorgen Arzneimittel einzunehmen. Frauen leiden häufiger unter Schlafstörungen, Schuldgefühlen und Somatisierungsstörungen sowie gleichzeitigen Angststörungen, bei Männern ist dagegen Alkoholabusus bzw. Drogengebrauch häufiger (11).
In den USA sind die Unterschiede in der Verordnung psychotroper Arzneimittel ähnlich. Eine aktuelle Untersuchung bei Veteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung ergab bei einer Beobachtungszeit von zehn Jahren, dass Frauen viel häufiger psychotrope Arzneimittel rezeptiert bekommen, darunter Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI), atypische Neuroleptika und Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika, wie Zolpidem (12). Dabei nahmen die Verschreibungszahlen, trotz gegenteiliger Empfehlungen, bei Frauen stetig zu (von 33,4% im Jahr 1999 auf 38,3% im Jahr 2009), dagegen bei Männern im selben Zeitraum ab (von 36,7% auf 29,8%). In Deutschland und Österreich werden Benzodiazepine für ältere Patienten wegen des erhöhten Sturzrisikos nicht empfohlen und sind daher auf der PRISCUS-Liste zu finden (13). Frauen bekommen 5-7% häufiger als Männer Medikamente, die auf der PRISCUS-Liste stehen, und zwar häufiger von Ärzten als von Ärztinnen (14), offenbar ein genderspezifisches Risiko.
Die Diagnose Depression wird laut Daten der deutschen Krankenkasse Barmer GEK wesentlich häufiger bei Frauen als bei Männern gestellt, und Antidepressiva werden häufiger und länger verschrieben, z.B SSRI. Im Jahre 2010 erhielten 53% der weiblichen Versicherten mit dieser Diagnose und 21% der männlichen einen SSRI (10). Auch in dieser Auswertung ergab sich, dass Benzodiazepine, Zolpidem und Zopiclon Frauen wesentlich häufiger verordnet werden.
Eine amerikanische Studie an 3310 Frauen und 2382 Männern mit Depression (15) ergab, dass sich Depressionen bei Männern und Frauen unterschiedlich äußern. Untersuchte man aber Männer – zusätzlich zu den traditionellen Depressionssymptomen – mithilfe eines speziell entwickelten Evaluationsbogens auf „männertypische Depressionssymptome“ (Aggression, Ärger, Hyperaktivität, erhöhte Risikobereitschaft etc.), unterschieden sich Männer und Frauen nicht mehr in der Häufigkeit der Diagnose (30,6% Männer vs. 33,3% Frauen; p = 0,57).
Auch bei der genauen diagnostischen Abklärung von Kopfschmerzen finden sich genderspezifische Unterschiede. Eine aktuelle amerikanische Studie (16) zeigt solche Unterschiede am Beispiel von 775 Patient(inn)en mit migräneartigen Kopfschmerzen (Migraine Disability Assessment = MIDAS-Grad II oder höher). Danach ist es viel wahrscheinlicher, als Frau die Diagnose Migräne im Rahmen einer Konsultation zu erhalten (OR = 2,84; 95%-Konfidenzintervall: 1,34-6,0). Die Autoren vermuten, Ärztinnen und Ärzte könnten durch das Wissen voreingenommen sein, dass Migräne bei Frauen häufiger vorkommt als bei Männern. Außerdem könnte ein „Genderbias“ bestehen, d.h., dass Frauen bei Migräne-artigen Symptomen eher bzw. häufiger zum Arzt gehen und die Beschwerden auch besser beschreiben als Männer („Women-are-expressive“-Hypothese).
Fazit: Epidemiologische, diagnostische, pharmakogenomische und therapeutische Besonderheiten bei Männern bzw. Frauen müssen in klinischen Studien, Leitlinien und in der Praxis der Medizin beachtet werden, damit die Arzneimitteltherapie rationaler und sicherer wird. Auch sollten sich Ärztinnen und Ärzte prüfen, ob ihre Therapieentscheidungen auch gelegentlich von einem eigenen geschlechtsbedingten Bias beeinflusst werden.
Literatur
- http://de.wikipedia.org/wiki/Gender_Medicine Link zur Quelle
- Wilkinson,G.R.: N. Engl. J.Med. 2005, 352, 2211. Link zur Quelle
- Haack, S.,et al.: Pharmacogenomics 2009, 10, 1511. Link zur Quelle
- Franconi,F., und Campesi, I.: Br. J. Pharmacol. 2013. doi: 10.1111/bph.12362. Epub ahead ofprint.
- Maliepaard,M., et al.: Nat. Rev. Drug Discov. 2013, 12, 103. Link zur Quelle
- AMB 2009, 43, 41. Link zur Quelle
- AMB 2010, 44, 73. Link zur Quelle
- http://www.herzinfarktregister.de/fakten/index2011_.htm Link zur Quelle
- http://www.gbe-bund.de/… Link zur Quelle
- Glaeske, G., et al. in Regitz-Zagrosek,Vera (Hrsg.): Handbook of Experimental Pharmacology. Sex and Gender Differencesin Pharmacology. Springer, Heidelberg, New York, Dordrecht, London 2012. S.149ff. Link zur Quelle
- Kornstein, S.G., et al.: Psychopharmacol. Bull. 2002 Autumn, 36,99. Link zur Quelle
- Bernardy, N.C., et al.: J. Gen. Intern. Med. 2013, 28 Suppl. 2,S542. Link zur Quelle
- http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf.Link zur Quelle Vgl.auch AMB 2012, 47, 25. Link zur Quelle
- WldO -Wissenschaftliches Institut der AOK (2012): Link zur Quelle
- Martin, L.A., et al.: JAMA Psychiatry2013, 70, 1100. Link zur Quelle
- Lipton, R.B., et al.:Headache 2013, 53, 81. Link zur Quelle