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Vom Leid mit den Leitlinien

Kommt ein neues Arzneimittel auf den Markt, bemühen sich die Hersteller, es möglichst rasch in die Leitlinien hineinzubekommen. Ein Arzneimittel, das in einer Leitlinie empfohlen wird, ist so etwas wie ein Joker. Wenn der „Kunde” noch zögert, weil ihm vielleicht eine einzelne randomisierte kontrollierte Studie (RCT) noch nicht genügt oder ihm die Langzeit-Sicherheit des Wirkstoffs noch nicht klar ist, dann kommt dieser Joker ins Spiel: „Wollen Sie wirklich von den Leitlinien Ihrer Fachgesellschaft abweichen?” Auf vielen wissenschaftlichen Tagungen werden heute nur noch die Leitlinien heruntergebetet, um die Ärzte auf diese Empfehlungen einzuschwören. Das ist zurzeit sehr häufig bei den neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) zu beobachten. Die unabhängigen Empfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zum Einsatz von Dabigatran und Rivaroxaban bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern wurden dagegen kritisiert – in einer gemeinsamen Pressemitteilung von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft, die vielfältige Interessenkonflikte angeben (1).

DER ARZEIMITTELBRIEF sieht die zunehmende Propagierung von neuen Arzneimitteln in Leitlinien kritisch, denn schließlich können sich deren Verfasser auch irren. Vor wenigen Jahren z.B. wurde Dronedaron in den Vorhofflimmern-Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) 2010 mit dem höchsten Grad (I, A) und als First-line-Behandlung zur Rhythmuskontrolle bei paroxysmalem oder persistierendem Vorhofflimmern empfohlen (2). Wie bekannt sind in der Folgezeit erhebliche Sicherheitsbedenken zu dieser Substanz aufgekommen (Hepatotoxizität), so dass die ESC 2012 in einem Update dieser Leitlinien (die sich nun ausführlich den Vorzügen der NOAK widmen) Dronedaron nur noch als „moderat effektiv” bezeichnet und den bemerkenswerten Satz hinzufügt: „the choice of an antiarrhythmic drug should be driven by the perceived safety of the drug. This is more important than perceived efficacy” (3).

Leitlinien werden von Experten erstellt. Auch Experten können sich irren oder z.B. durch Publikations-Bias getäuscht werden (4). Sie können auch dem Zeitgeist unterliegen oder von außen beeinflusst sein. Deshalb ist es wichtig, dass von anderen auf die formalen Kriterien von Leitlinien geachtet wird. Das Deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiQ) hat vor zwei Jahren die seinerzeit gültigen Leitlinien zum Management des Typ-2-Diabetes in den westlichen Industrienationen untersucht (5). Es fanden sich 35 Publikationen, die die Einschlusskriterien erfüllten. Von diesen Leitlinien stammten 6 aus Deutschland, 3 aus anderen europäischen Ländern, 24 aus Übersee und 2 von internationalen Institutionen. Die formale Bewertung dieser Leitlinien erfolgte mithilfe des „Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation” (AGREE)-Instruments (6). Hierin werden Leitlinien in sechs Domänen bewertet. Diese Domänen und die Bewertungsergebnisse durch das IQWiQ sind in Abb. 1 wiedergegeben. Man sieht, wie unterschiedlich die formale Qualität ist. Die beiden Domänen, bei denen die größten Defizite bestanden, waren Domäne 2 (Beteiligung von Interessengruppen wie Patienten, Hausärzte u.a.) und Domäne 1 (klar definierter Geltungsbereich sowie Zweck der Leitlinie).

Wir haben einmal die aktuellen Leitlinien „Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2” der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG, 5) unter die Lupe genommen. Dabei fiel auf, dass alle 16 Autoren Internisten sind, die an Institutionen wie z.B. Krankenhäusern arbeiten. Allgemeinmediziner, niedergelassene Ärzte, Patientenorganisationen oder die Sozialversicherung wurden bei der Erarbeitung der Leitlinien nicht beteiligt (Domäne 2). Interessenkonflikte gaben 15 der 16 Autoren an, vor allem „Forschungsunterstützungen und/oder Honorare” mit „Unternehmen, die teils auch fördernde Mitglieder der ÖDG sind”. Die Autoren geben im Mittel Verbindungen zu 11 Firmen an, einer sogar zu 20. Eine detaillierte Aufzählung dieser Verbindungen fehlt – eine Grundlage der Überprüfbarkeit und Transparenz. Somit ist auch die redaktionelle Unabhängigkeit (Domäne 6) der ÖDG-Leitlinie niedrig zu bewerten. Zu Gültigkeit und Zweck der Leitlinie liest man nur sehr allgemein, dass sie eine „fundierte Anleitung zur Verbesserung der Diabetesbetreuungsqualität auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse ermöglichen soll” und zur Methodik, dass „man versucht habe, alle brauchbare und verfügbare Evidenz aktueller Studien einfließen zu lassen”. Somit wären auch die Domänen 1 und 3 niedrig zu bewerten.

Alles in allem erscheint uns diese sicher sehr engagierte Leitlinie der ÖDG nur eine weitere, nach altem Muster erstellte Fleißarbeit industrienaher Experten: Eminenzbasierte Empfehlungen im Deckmantel der Evidenz-basierten Medizin. Nach den AGREE-Kriterien ist diese Leitlinie aus formalen Gründen kritisch zu sehen, wenn nicht sogar aus formalen Gründen abzulehnen.

Auch bei der Erstellung US-amerikanischer Leitlinien arbeiten noch immer viele Experten mit Interessenkonflikten mit. Nach einer aktuellen Erhebung gaben mehr als zwei Drittel der Vorsitzenden von Leitliniengruppen und mehr als 90% der stellvertretenden Vorsitzenden Interessenkonflikte an, wobei in weniger als der Hälfte der Leitlinien überhaupt Angaben zu Interessenkonflikten gemacht wurde (7). Dies ist besonders beunruhigend, weil Empfehlungen in Leitlinien häufig nicht auf einer guten Datenlage aus klinischen Studien beruhen, wie auch eine Untersuchung von 16 kardiologischen Leitlinien zeigte. Im Median basierten fast die Hälfte der Empfehlungen auf Expertenmeinungen, Fallstudien oder „Standards auf care” (vgl. 16).

Generell besteht offenbar bei vielen Ärzten das Missverständnis, Leitlinien besäßen eine Rechtsverbindlichkeit. Das ist nicht der Fall. Bindend sind allein Gesetze und institutionelle Richtlinien (z.B. von der Bundesärztekammer). Diese nicht zu beachten, kann tatsächlich eine Sanktionierung nach sich ziehen. Haftungsrechtlich relevant sind auch Verstöße gegen einen allgemein gültigen medizinischen Standard. Leitlinien – verstanden als Regeln guten ärztlichen Handelns – werden von ärztlichen Fachvertretern bzw. Fachgesellschaften systematisch entwickelt. Diese Leitlinien sollen beachtet werden, wobei die Verbindlichkeit einer Leitlinie umso größer ist, je höher die Qualität ist (8). Medizinische Standards und Leitlinien dürfen aber keinesfalls miteinander verwechselt werden. Leitlinien sind definitionsgemäß nur Entscheidungshilfen in speziellen Situationen. Sie sind „für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung” (9).

DER ARZNEIMITTELBRIEF ist für die Verwendung von Leitlinien, denn sie beruhen im Idealfall auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und berücksichtigen auch ökonomische Aspekte (10). Gute Leitlinien sind ein sehr wichtiges Hilfsmittel zur rationalen Therapie und Diagnostik. Wir sind jedoch gegen das blinde Umsetzen von Leitlinien, zumal diese ebenso kritisch beleuchtet werden müssen wie jede andere Publikation. Im Grunde genommen kann ja jeder eine Leitlinie verfassen, der sich hierzu berufen fühlt. Es wäre z.B. denkbar, dass – in einem fernen Land – ein pharmazeutisches Unternehmen (pU) eine Fachgesellschaft, eine Konsensus- oder Expertengruppe initiiert und finanziert, deren Aufgabe exklusiv darin besteht, eine Leitlinie zu entwickeln, die das Arzneimittel des pU bevorzugt (11). Es sei an dieser Stelle an die äußerst positive Bewertung von Dronedaron der sog. „Austrian Atrial Fibrillation Expert Group” aus dem Jahre 2010 erinnert (12). Diese Experten vertraten seinerzeit die Meinung, dass Dronedaron „auf Grund der Datenlage ein sehr breites Indikationsspektrum” besitzt, dass es „kardioprotektiv” wirkt und dass es ein „günstiges Nebenwirkungsprofil” hat (13).

Leitlinien müssen besonderen Qualitätsstandards genügen. Das AGREE-Instrument erscheint uns durchaus geeignet zu sein, die Qualität einer Leitlinie abzuschätzen. Aber auch andere Arbeitsgruppen wie das „Guidelines International Network” (GIN) bemühen sich, entsprechenden Qualitätsstandards zu erstellen (14).

Aus Sicht des ARZNEIMTTELBRIEFES hat die multidisziplinäre Zusammensetzung der Leitlinienkommission zentrale Bedeutung. Neben Klinikern gehören auch Methodiker und Hausärzte in solche Leitlinienkomitees. Zum Umgang mit Interessenkonflikten bei der Leitlinienerstellung hat das Institute of Medicine (IOM) der National Academies in den USA Empfehlungen herausgegeben (15). Generell wird empfohlen, Personen mit Interessenkonflikten aus Leitliniengruppen auszuschließen. Für Ausnahmesituationen, in denen die Beteiligung von Fachleuten mit Interessenkonflikten unumgänglich ist, wurden detaillierte Handlungsempfehlungen gegeben. So sollte z.B. als Vorsitzender der Leitliniengruppe ein Experte ohne Interessenkonflikte benannt und die Anzahl der Personen mit Interessenkonflikten auf eine Minderheit der Gruppe begrenzt werden. Außerdem sollten Experten mit Interessenkonflikten von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden.

Literatur

  1. http://www.akdae.de/Service/Newsletter/Archiv/News/Archiv/2013-07.html Link zur Quelle
  2. Camm, A.J., etal.: Eur. Heart J. 2010, 31, 2369. Link zur QuelleErratum: Eur. Heart J. 2011, 32, 1172.
  3. Camm, A.J., etal.: Eur. Heart J. 2012, 33, 2719. Link zur Quelle
  4. McGauran, N., etal.: Trials 2010, 11, 37. Link zur Quelle
  5. https://www.iqwig.de/… Abschlussbericht_Leitlinienrecherche_und-bewertung_fuer_das_DMP_Diabetes_mellitus_Typ_2.pdf Link zur Quelle
  6. http://www.agreetrust.org/ Link zur Quelle
  7. Kung, J., etal.: Arch. Intern.Med.2012, doi:10.1001/2013.jamainternmed.56.. Link zur Quelle
  8. Buchner, B.: GesR 2010, 9, 169.
  9. Clodi, M., et al.: Wien.Klin.Wochenschr. 2012, 124 (Suppl. 2), 10. Link zur Quelle
  10. www.awmf.org/leitlinien.html Link zur Quelle
  11. Eichacker, P.Q.: N.Engl. J. Med. 2006, 355, 1640. Link zur Quelle
  12. AMB 2010, 44, Österreich-Beiblatt Juni. Link zur Quelle
  13. Gwechenberger, M., etal.: J. Kardiol. 2010, 17, 242. Link zur Quelle
  14. Qaseem, A., et al.: Ann.Intern.Med. 2012, 156, 525. Link zur Quelle
  15. Lo, B., und Field, M.J.(Hrsg.): Conflict of interest in medical research, education, and practice. The National AcademiesPress, Washington, 2009.
  16. AMB 2011, 45, 34. Link zur Quelle

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