Vor drei Jahren haben wir in einem Hauptartikel ausführlich und kritisch Stellung bezogen zum zunehmend inadäquaten Einsatz von Opioiden bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen (1). Opioide werden dabei mitunter zu hoch dosiert und häufig zu lange ohne vorhandene Evidenz für ihren Nutzen verordnet. Die Assoziation von akzidenteller Überdosierung von Opioiden mit Letalität und Morbidität ist durch mehrere Studien klar belegt (2).
In einem kürzlich publizierten Positionspapier hat die American Association of Neurology als erste große Fachgesellschaft diese Therapiestrategie sehr kritisch kommentiert (3). Als Folge der Empfehlungen zu einem effizienten Schmerzmanagement hätten die Verschreibungen von Opioiden in den USA in den vergangenen Jahrzehnten „epidemisch“ zugenommen. Diese Empfehlungen zur Schmerztherapie seien zu Beginn – mit Recht – auf Patienten mit Tumorerkrankungen oder terminal Kranke beschränkt gewesen, inzwischen aber unter tatkräftiger Beteiligung pharmazeutischer Unternehmer (pU) auch für Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen propagiert worden, wie beispielsweise Lumbalgie, Kopfschmerz, Fibromyalgie und Schmerzen infolge seelischer oder funktioneller Störungen. Für diese Indikationen gebe es aber wenig bis gar keine Evidenz. Die meisten (pharmagesponserten) Studien hätten im Mittel eine Nachbeobachtung von nur einem Monat. Ob eine Langzeitanwendung oder eine Steigerung der Dosis im Verlauf den Patienten tatsächlich nützt und ihr Befinden bessert, ist nicht nachgewiesen. Der Autor, Gary Franklin von der University of Washington, Seattle, betont, dass in den USA seit Anfang der 90er Jahre mehr als 100.000 Personen an einer akzidentellen Überdosierung von verschriebenen Opioiden gestorben sind – mit zunehmender Tendenz: seit 2005 sterben in den USA jährlich mehr Personen in der Altersgruppe der 35- bis 54-Jährigen durch Opioide als durch Feuerwaffen oder durch Verkehrsunfälle. Die Häufigkeit von Dauerverschreibungen deutet auf ein hohes Suchtpotenzial hin. Der Autor plädiert deshalb dafür, bei Behandlung chronischer Schmerzen beim Lebensstil der Patienten zu beginnen, statt sofort zum Rezeptblock zu greifen. Eine strukturierte Bewegungstherapie, rehabilitative Maßnahmen oder eine kognitive Verhaltenstherapie können bei Behandlung von Schmerzzuständen des Bewegungsapparates effizienter sein als Arzneimittel. Diese sollten nicht als erstes, sondern als letztes Mittel angesehen und adäquat dosiert werden. Wichtig sei ein integratives, multimodales Management („collaborative care“).
Die Stellungnahme (3) empfiehlt folgende Vorsichtsmaßnahmen bei der Verschreibung von Opioid-Analgetika an Nicht-Tumor-Patienten:
- Strenge Indikation bei gegenwärtigem oder zurückliegendem Substanzmissbrauch (Alkohol, illegale Drogen, exzessiver Nikotinabusus).
- Strenge Indikation bei Depression.
- Nicht zusätzlich Sedativa oder Hypnotika verschreiben!
- Schmerz und funktionellen Status im Verlauf beobachten, um Therapieeffekt und -verträglichkeit zu erfassen!
- Tagesdosis im Verlauf beobachten!
- Bei einer Tagesdosis von 80-120 mg Morphin-Äquivalent ohne ausreichende Schmerzlinderung einen Schmerzspezialisten hinzuziehen!
Zu ähnlichen eher restriktiven Empfehlungen und Kontraindikationen kommt die am 30.9.2014 publizierte, aktualisierte S3-Leitlinie der Deutschen Schmerzgesellschaft zur „Langzeitanwendung von Opioiden zur Behandlung bei nicht tumorbedingten Schmerzen“ (LONTS; 4). Sie basiert auf einer systematischen Literaturrecherche, Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien (≥ 4 Wochen) und anschließendem Konsensverfahren unter Beteiligung zahlreicher Fachgesellschaften sowie zwei Patientenselbsthilfeorganisationen. Für die Aktualisierung wurden insgesamt 119 Publikationen und sechs systematische Übersichtsarbeiten in einem Gruppenprozess mit Hilfe des Delphi-Verfahrens (5) bewertet. Analysen der AOK Hessen und KV Hessen belegen, dass auch in Deutschland der Anteil der Versicherten mit mindestens einer Opioidverordnung von 2000 bis 2010 von 3,31% auf 4,53% (+ 37%) gestiegen ist. Dabei wurden die Opiode überwiegend zur Behandlung von nicht tumorbedingten Schmerzen eingesetzt (2010: ca. 77% der Opioide einnehmenden Patienten), und der Anteil an Langzeitbehandlungen (≥ 3 Monate) nahm seit 2000 deutlich zu (6). Eine Zusammenfassung der S3-Leitlinie LONTS mit Schlüsselempfehlungen zu Maßnahmen vor Einleitung sowie zur Durchführung einer Therapie mit Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen ist kürzlich im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht worden (7). Die Autoren dieser Zusammenfassung sehen eine Option für eine kurzfristige (4-12 Wochen) Opioid-Therapie bei chronischen Arthrose-Schmerzen, diabetischer Polyneuropathie, Postzosterneuralgie und chronischen Rückenschmerzen. Von einer Langzeittherapie profitieren bei dieser Indikation jedoch nur ca. 25% der Patienten. Bei anderen Erkrankungen werten die Autoren eine kurz- oder langfristige Therapie mit Opioiden als individuellen Therapieversuch. Kontraindikationen sind primäre Kopfschmerzen sowie funktionelle und psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz. In der Publikation im Deutschen Ärzteblatt (7) deklarieren vier der sechs Autoren Interessenkonflikte mit pU, die opioidhaltige Analgetika vermarkten.
Fazit: Nachdem Experten, nicht selten in einer Allianz mit pharmazeutischen Unternehmern, in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine effiziente Schmerztherapie stark propagiert haben, werden nun warnende Stimmen laut. Als erste Fachgesellschaft warnt die American Association of Neurology in einem Positionspapier dringend vor einer zu großzügigen Anwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen. In den USA haben „Arzneimittelunfälle“ deutlich zugenommen. Der Empfehlung für eine zurückhaltende Indikation und Dosierung von Opioiden im Rahmen eines interdisziplinären Therapieansatzes schließen wir uns voll an. Hilfreich für eine rationale Verordnung und Minimierung möglicher Risken von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen ist auch die aktualisierte deutsche S3-Leitlinie LONTS, die Kontraindikationen benennt und für eine regelmäßige Überprüfung von Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen plädiert.
Literatur
- AMB 2011, 45,65. Link zur Quelle
- Solomon,D.H., et al.: Arch. Intern. Med. 2010, 170, 1979. Link zur Quelle
- Franklin,G.M.: Neurology 2014, 83, 1277. Link zur Quelle
- http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-003.htmlLink zur Quelle
- Häder, M.(Hrsg.): Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch. VS Verlag fürSozialwissenschaften 2002.
- Schubert,I., et al.: Link zur Quelle
- Häuser,W., et al.: Link zur Quelle