Frage von Dr. S. aus R.: >> Eine 45-jährige Patientin hat 15 Jahre lang verschiedene Antidepressiva eingenommen, zuletzt über drei Jahre Venlafaxin (einmal 75 mg ret./d). Die Indikation für diese Langzeitbehandlung ist mir nicht klar; ursprünglich wurde ein „Burn-out-Syndrom“ diagnostiziert, und die Antidepressiva-Verordnungen wurden durch meinen Vorgänger weitergeführt. Letztes Jahr habe ich die Behandlung der Patientin übernommen. Sie äußerte den Wunsch, die Therapie mit Venlafaxin zu beenden. Nach dreimonatiger Dosisreduktion haben wir dieses Arzneimittel vor fünf Monaten ganz abgesetzt. Etwa in diesem Zeitraum trat bei der Patientin ein nächtliches Restless-legs-Syndrom (RLS) auf. Sie wird angeblich stündlich wach und hat neuerdings auch einen erhöhten Blutdruck. Sind diese Phänomene als Folge der Behandlung mit Venlafaxin zu sehen, und wie kann dem Problem am besten entgegnet werden? <<
Antwort: >> Eine jahrelange Weiterverordnung von SSRI und SNRI bei fragwürdiger Indikation ist irrational und inakzeptabel. Ein Absetzversuch ist daher indiziert, zumal die Patientin diesen Wunsch äußert. Leider ist dieses Vorgehen aber oft nicht einfach. Über die vielfältigen Absetzphänomene nach Langzeittherapie mit SSRI oder SNRI haben wir 2015 ausführlich berichtet (1). Auch nach korrektem schrittweisen Absetzen von Venlafaxin kommt es laut Fachinformation „häufig“ zu Absetzphänomenen. Davon seien 31% der Patienten betroffen (2). Oft werden die Symptome nicht erkannt oder fehlinterpretiert. Schwindel, Dys- und Parästhesien, Schlafstörungen, Erregtheit oder Angst, Zittern und Kopfschmerzen werden in den Fachinformationen explizit genannt. Auch Restless legs (RLS), periodische Bewegungen der Extremitäten im Schlaf (PLMS) und Verhaltensstörung im REM-Schlaf (sog. REM behavior disorder = RBD) können durch Arzneimittel ausgelöst werden. Als diesbezüglich problematisch sind Bupropion, Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin und Venlafaxin anzusehen (3). In der europäischen UAW-Datenbank EUDRAVIGILANCE sind aktuell über 50 RLS-Fälle im Zusammenhang mit einer Venlafaxin-Behandlung gemeldet und überwiegend Frauen betroffen (4).
Wenn bei der geschilderten Patientin die Diagnose RLS sicher ist (diagnostische Kriterien bei 5) und keine anderen Gründe für das RLS vorliegen (z.B. Ferritin < 50 µg/l, Schwangerschaft, periphere Nervenläsionen oder Neuropathien, Urämie, exzessiver Kaffee- oder Alkoholkonsum etc.), dann ist ein Zusammenhang mit der Venlafaxin-Behandlung bzw. deren Beendigung durchaus wahrscheinlich und sollte von Ihnen als Verdachtsfall an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft oder die Bundesoberbehörden gemeldet werden. Laut Fachinformation sollten die Absetzsymptome bei Venlafaxin innerhalb von zwei Wochen abklingen; bei einigen Patienten können sie jedoch länger anhalten (2).
Zur praktischen Vorgehensweise, die Patientin von ihren Symptomen zu befreien, sind aus unserer Sicht drei Strategien denkbar:
- Abwarten mit rein symptomatischer RLS-Behandlung in der Hoffnung, dass die Symptome über die Zeit abklingen. Empfohlen werden moderater Sport, Verzicht auf Stimulanzien (wie z.B. Kaffee) und Alkohol, Verhaltenstherapie, abendliche Massagen, Dehnübungen, Kneippsche Anwendungen. Auch die vorübergehende Verordnung von spezifischen Arzneimitteln gegen RLS-Symptome (Dopaminagonisten) ist denkbar und würde bei Wirksamkeit die Verdachtsdiagnose RLS stützen (6).
- Wenn Strategie 1 nicht erfolgreich ist, kann eine erneute Behandlung mit einer niedrigen Venlafaxin-Dosis (z.B. 37,5 mg/d) begonnen werden, quasi als Reexpositionsversuch. Wenn sich die Beschwerden hierunter bessern, wäre eine Kausalität sehr wahrscheinlich. Ein neuerliches, noch langsameres Ausschleichen von Venlafaxin, z.B. über 4-6 Monate, wäre zu versuchen.
- Sollten die unter 1 und 2 genannten Vorgehensweisen nicht helfen, oder die Patientin möchte Venlafaxin nicht mehr einnehmen, könnte nach einem Expertenkonsens aus dem Jahre 2006 (7) auch eine Behandlung mit einem anderen Antidepressivum versucht werden, das weniger Absetzphänomene verursacht. Vorgeschlagen wird Fluoxetin 10-20 mg/d. Auch dieses wäre dann auszuschleichen. Derartige Versuche mit anderen Psychopharmaka sollten aber unbedingt von kritischen Psychiatern begleitet werden, um nicht eine psychische Störung zu übersehen. <<
Literatur
- AMB 2015, 49, 65. Link zur Quelle
- Fachinformation Venlafaxin (Trevilor® ret., Pfizer): Link zur Quelle
- Hoque, R., und Chesson, A.L.: J. Clin. Sleep Med. 2010, 6, 79. Link zur Quelle
- EMA-Eudravigilance Datenbank. Abfrage am 8.10.2017.
- Allen, R.P., et al.: Sleep Med. 2003, 4, 101. Link zur Quelle
- AMB 2014, 48, 73. Link zur Quelle
- Schatzberg, A.F., et al.: J. Clin. Psychiatry 2006, 67 Suppl. 4, 27. Link zur Quelle