Wir haben vor 10 Jahren ausführlich über Entzugssymptome beim Absetzen von Antidepressiva (AD) vom Typ Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) berichtet [1]. Kürzlich ist in der kanadischen Zeitschrift Therapeutics Letter (Mitglied der International Society of Drug Bulletins = ISDB) eine Aktualisierung zu diesem wichtigen Thema erschienen, die wir aufgreifen, um erneut auf diese Problematik hinzuweisen [2].
Seit Jahren steigen die Verordnungen von SSRI und SNRI, in Deutschland um > 25% in der letzten Dekade. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung wurden zuletzt 1,83 Mrd. definierte Tagesdosen (DDD) verordnet. Damit stehen SSRI und SNRI an Position 9 der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen und liegen etwa gleichauf mit Schilddrüsentherapeutika [3].
Diese große „Beliebtheit“ von AD ist nicht nur durch die Prävalenz depressiver Störungen zu erklären. Diese ist zwar in den letzten 15 Jahren von ca. 10% auf 14% angestiegen [4], doch es gibt viele weitere Gründe:
- die stetige Ausweitung der Indikation, z.B. Angststörungen, chronische Schmerzsyndrome, Schlafstörungen u.v.m.;
- eine Überschätzung des Nutzens und Unterbewertung der Risiken von AD;
- ein vergleichsweise niedrigschwelliges und günstiges Angebot;
- ein Mangel an bzw. fehlende Akzeptanz von anderen Therapieformen;
- eine Tendenz zur langfristigen Einnahme von AD. Nach verschiedenen Erhebungen nehmen rund die Hälfte der Personen AD länger als ein Jahr ein und ein Viertel länger als fünf Jahre [2].
Zu den wichtigen Nebenwirkungen von SSRI und SNRI zählen sexuelle Dysfunktion, Sedierung, emotionale Abstumpfung, Schlafstörungen, Suizidgedanken, Stürze, Frakturen, Gewichtszunahme, Stoffwechselstörungen (Blutfette, Blutzucker, Elektrolyte), Blutungsneigung und Herzrhythmusstörungen. Wir haben häufig hierüber berichtet [5], und die zahlreichen Nebenwirkungen sind auch in den jeweiligen Fachinformationen nachzulesen. Allerdings beziehen sich die Häufigkeitsangaben dort meist auf eine zeitlich begrenzte Anwendung im Rahmen von Studien. Zu Langzeitschäden von AD ist weniger bekannt, ebenso wie zu einem möglichen Wirkverlust (Toleranz) und zur Abhängigkeit.
Laut Fachinformationen einiger SSRI und SNRI soll es bei 25-30% der Patienten bei Reduktion der Dosis oder beim Absetzen zu einem sog. „Absetzsyndrom“ kommen. Zitat aus der Fachinformation eines sehr häufig verordneten SSRI: „Das Absetzen von SSRIs/SNRIs (insbesondere plötzliches Absetzen) führt im Allgemeinen zu Absetzsymptomen. Schwindelgefühl, sensorische Störungen (inklusive Parästhesien und stromschlag-ähnlicher Empfindungen), Schlafstörungen (einschließlich Schlaflosigkeit und intensiver Träume), Agitiertheit oder Angst, Übelkeit und/oder Erbrechen, Tremor, Verwirrtheit, Schwitzen, Kopfschmerz, Diarrhoe, Palpitationen, emotionale Instabilität, Reizbarkeit und Sehstörungen sind die am häufigsten berichteten Reaktionen. Im Allgemeinen sind diese Ereignisse leicht bis mittelschwer und vorübergehend, bei einigen Patienten können sie aber auch stark und/oder länger auftreten. Daher ist es ratsam, dass die Beendigung der Therapie ausschleichend erfolgt, wenn die Behandlung nicht mehr erforderlich ist“ [6].
Der Begriff „Absetzsyndrom“ wird im „Therapeutics Letter“ als Euphemismus bezeichnet, weil die vielfältigen und teils erheblichen klinischen Probleme damit bagatellisiert würden. Es wird dargestellt, wie dieser verharmlosende Begriff ab Mitte der 1990er Jahre durch pharmazeutische Unternehmer (v.a. Pfizer und Eli Lilly) und einigen mit ihnen verbundenen „Key Opinion Leaders“ geprägt wurde [2], [7]. Von einer AD-Sucht darf übrigens nicht gesprochen werden, da weitere Kriterien für eine Sucht fehlen, wie der Wunsch nach Steigerung der Dosis, der Konsumzwang und der Kontrollverlust.
Heute werden beim AD-Entzug unterschieden:
- ein Akutes Entzugssyndrom (rascher Eintritt, Dauer wenige Wochen, Häufigkeit in den Studien bei 20-60%);
- „Reboundphänomene“ (Wiederauftreten der ursprünglichen psychopathologischen Symptome, jedoch abrupter und intensiver, Häufigkeit unklar);
- Post-akute (persistente) Entzugssyndrome (= PAWS: verzögerter Eintritt, Dauer oft Monate bis Jahre, Häufigkeit ca. 15%; [8].
Die Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression macht keine Angaben zur Häufigkeit von AD-Entzugssyndromen, widmet dem Thema Absetzen aber ein eigenes Kapitel mit vier Seiten. Außerdem wird ein Patientenblatt zur Verfügung gestellt: „Antidepressiva – Was ist beim Absetzen zu beachten?“ [9]. Die kanadischen Leitlinien zur Behandlung von Depressionen gehen davon aus, dass bei jedem/r Zweiten nach Langzeitanwendung Absetzsymptome der AD auftreten, insbesondere nach abruptem Absetzen [2]. In einer Umfrage in Großbritannien gaben zwei Drittel der Personen, die mindestens drei Jahre lang AD eingenommen hatten, an, unter Entzugserscheinungen gelitten zu haben, und bei jeder/m Achten hielten diese länger als ein Jahr an [10].
Die Mechanismen des Entzugssyndroms sind, ebenso wie der Wirkmechanismus der AD, nicht gut geklärt. Die ursprüngliche Hypothese einer Imbalance verschiedener Neurotransmitter (Monoamine, Serotonin) gilt heute als obsolet [11]. Wie auch andere Psychopharmaka beeinflussen AD über komplexe Mechanismen die Neuroplastizität (Struktur und Funktion). Bei regelmäßiger Einnahme kommt es allmählich zu Veränderungen. Dies erklärt auch die oft mehrwöchige Latenz der Wirkung [3].
Wird die Einnahme von AD reduziert oder beendet, erfolgt die Rück- oder Neuanpassung im Organismus nicht sofort, sondern kann Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern [12]. Die Betroffenen können beim Aus- oder Weglassen des „Neuromodulators“ eine Vielzahl emotionaler und körperlicher Symptome entwickeln. In einem von Wyeth Pharmaceuticals 1997 organisierten Konsensus räumten die Expertinnen und Experten ein, dass Entzugssymptome bereits innerhalb von 12-24 Stunden nach einer ausgelassenen AD-Dosis zu beobachten sind. Sie empfahlen eine schrittweise Dosisreduktion („Tapering“) anstelle eines abrupten Absetzens. Sie plädierten auch dafür, dass „Ärzte ihre Patient(inn)en beruhigen sollten, dass dieses Syndrom gut beherrschbar ist“ [13].
Der Therapeutics Letter betont, dass es derzeit keinen Standard gibt, wie AD sicher und erfolgreich abgesetzt werden können [2]. Ein AD-Entzugssyndrom kann fälschlicherweise auch als Rückkehr der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung des Patienten („relapse“) oder als eine neue psychische oder physische Erkrankung fehlinterpretiert werden. Jedenfalls erfordert das Absetzen von AD eine Strategie und einige Erfahrung. Die im Jahr 2024 vorgeschlagene Discriminatory Antidepressant Withdrawal Symptom Scale („DAWSS“) basiert auf den Selbstauskünften der Betroffenen und soll dabei helfen, ein AD-Entzugssyndrom von einem „relapse“ zu unterscheiden [14]; s. Tab. 1).
Die Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression empfiehlt deshalb in Anbetracht dieser komplexen Problematik: „Bereits vor Beginn einer Antidepressiva-Medikation sollen die Patient(inn)en über die Möglichkeit von Absetzsymptomen und „Rebound“-Depressionen nach Beendigung einer solchen Medikation aufgeklärt werden“ [9].
Der Therapeutics Letter geht noch weiter und fordert eine schriftliche Aufklärung bzw. „informed consent“ vor der Erstverschreibung von AD. Die Patienten müssten wissen, worauf sie sich einlassen. Im Netz findet sich ein entsprechender Aufklärungsbogen zum Download [15]. Solch eine schriftliche Einwilligung könnte auch einen Paradigmenwechsel bewirken im Verständnis der Wirkungen von AD und des verantwortungsvollen Umgangs mit diesen Arzneistoffen [2].