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Ketamin intranasal zur Kurzzeittherapie bei therapieresistenter Depression?

Im März 2019 wurde von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (S)-Ketamin als Nasenspray (Spravato®; Janssen Pharmaceuticals, Johnson & Johnson) zur Behandlung der schweren, therapieresistenten Depression zugelassen (1). Die Zulassung wurde als „Fast Track“ und „Breakthrough Therapy“ klassifiziert und unter strengen Auflagen erteilt („Risk Evaluation and Mitigation Strategy“ = REMS). Das Therapiekonzept wird von manchen Befürwortern als erstes neues pharmakologisches Wirkprinzip in der antidepressiven Pharmakotherapie seit Jahrzehnten und als mögliche Alternative zur Elektrokonvulsionstherapie geradezu gefeiert (2). Ein Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) liegt vor (3).

Ketamin ist ein in den 1960er Jahren entwickeltes Anästhetikum und Analgetikum, das vor allem in der Notfall- und Intensivmedizin angewendet wird. Bereits seit den 1970er Jahren wird Ketamin außerdem illegal als Freizeit- und Partydroge vermarktet („Special-K“). Ketamin wird über das Zytochrom-P-450-System in pharmakologisch deutlich weniger aktive Metaboliten umgewandelt. Wegen dieses ausgeprägten hepatischen First-Pass-Effekts wird es ganz überwiegend intravenös (alternativ: intramuskulär) verabreicht. Ende der 1990er Jahre wurde neben dem racemischen Ketamin das besser titrierbare und etwa doppelt so stark analgetisch und anästhetisch wirksame reine Enantiomer (S)-Ketamin entwickelt. In vielen europäischen Ländern (einschließlich Deutschland, Österreich, Schweiz) – nicht in den USA – ist (S)-Ketamin als intravenöses Anästhetikum zugelassen (4) und hat das racemische Ketamin mittlerweile weitgehend ersetzt.

Seit den 1990er Jahren werden Ketamin und (S)-Ketamin in niedrigen, subanästhetischen Dosierungen auch bei chronischen und akuten Schmerzuständen sowie bei depressiven Verstimmungen untersucht und off-label eingesetzt. Reviews haben gezeigt, dass mit Ausnahme des perioperativen Schmerzmanagements die diesbezügliche Evidenzlage aber auf kleine Fallserien mit sehr kurzen Nachbeobachtungszeiten beschränkt ist (5-7). Teilweise wurde für diese Anwendungsgebiete Ketamin nicht nur intravenös, sondern auch oral, rektal, sublingual und intranasal appliziert.

Im Hinblick auf eine Marktzulassung wurde intranasal applizierbares (S)-Ketamin in Sprayform in den vergangenen Jahren gezielt und erfolgreich zur Behandlung der therapieresistenten Depression in Studien evaluiert: Die nun im März 2019 erfolgte FDA-Zulassung ist die erste Marktzulassung für (S)-Ketamin in den USA. Vorangegangen waren vier Phase-III-Studien – drei kleine Kurzzeitstudien und eine Studie mit längerer Nachbeobachtung:

  • In der TRANSFORM-2-Studie (8) wurden 227 Patienten aus 39 Zentren eingeschlossen, die auf mindestens zwei Antidepressiva in ausreichender Dosis und Therapiedauer (nach regulatorischen Definitionen) nicht angesprochen hatten. Sie erhielten randomisiert zusätzlich zu einem gleichzeitig neu verabreichten Antidepressivum intranasales (S)-Ketamin. Nach 28 Tagen Nachbeobachtung wurde eine signifikant größere Verbesserung im primären Endpunkt (Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale = MADRS) unter (S)-Ketamin festgestellt als unter Plazebo (95%-Konfidenzintervall: -7,31 bis -0,64; p = 0,010). In der Verum-Gruppe kam es allerdings zu mehr nebenwirkungsbedingten Therapieabbrüchen (14% vs. 10%).

  • In die komplex angelegte Langzeit-Studie SUSTAIN-1 (9) wurden 297 Patienten eingeschlossen, die auf eine 16-wöchige Anbehandlung mit (S)-Ketamin angesprochen hatten und dann 1:1-randomisiert wurden für (S)-Ketamin-Nasenspray plus einem oralen Antidepressivum vs. Plazebo-Nasenspray plus einem oralen Antidepressivum. Unter (S)-Ketamin kam es im Gesamtkollektiv signifikant seltener und später zu Rückfällen als unter Plazebo, und Nebenwirkungen traten in den Verum-Gruppen deutlich häufiger auf als unter Plazebo. Kritisch wurde bei dieser Studie allerdings vermerkt, dass das Gesamtergebnis nur durch die Daten eines einzelnen Studienzentrums in Polen positiv wurde, während sich in allen anderen Zentren kein signifikanter Unterschied ergab (10).

  • Die TRANSFORM-1-Studie (11; 1:1:1-Randomisierung mit zwei fixen (S)-Ketamin-Dosierungen vs. Plazebo, sonst angelegt wie TRANSFORM-2; 342 Patienten) und TRANSFORM-3 (nicht publiziert; ältere Patienten ≥ 65 Jahre, sonst angelegt wie TRANSFORM-2; 137 Patienten) erreichten die vordefinierten Kriterien für eine statistisch signifikante Wirksamkeit nicht (10).

Nebenwirkungen waren in den Studien häufig; sie traten unmittelbar nach der transnasalen (S)-Ketamin-Anwendung auf und besserten sich meist innerhalb von 90 Minuten. Am häufigsten waren „dissoziative Symptome“ (40-50%; Depersonalisation-Derealisation mit Gefühl des Kontrollverlusts und Gefahr psychoseähnlicher Albträume), Schwindelgefühl, Übelkeit, Sedierung (je 20-30%), Hypo- und Parästhesien, Hypertonie (je 10-15%). Interstitielle oder ulzerative Zystitiden (wie unter Ketamin-Missbrauch häufig beschrieben) wurden nicht beobachtet. Sechs Todesfälle, die alle bei (S)-Ketamin-behandelten Patienten eintraten, konnten nicht eindeutig als arzneimittelassoziiert eingestuft werden (10), geben jedoch Anlass zu Bedenken (darunter 3 Suizide in SUSTAIN-1-Studie; außerdem ein Motorradunfall, ein plötzlicher Tod und ein Myokardinfarkt, jeweils innerhalb von 1-6 Tagen nach der letzten (S)-Ketamin-Anwendung).

Aufgrund der potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen wird das Präparat in den USA nur im Rahmen eines eingeschränkten Vertriebssystems verfügbar sein. Der Spray darf ausschließlich in Ambulanzen und Praxen dafür ausgebildeter Fachärzte unter Aufsicht appliziert werden, und die Patienten müssen danach über einen Zeitraum von mindestens zwei Stunden ärztlich überwacht werden. Das Risikominimierungssytem REMS verlangt, dass der verschreibende Arzt und der Patient ein Meldeformular unterschreiben, aus dem hervorgeht, dass der Patient über Sicherheitsvorkehrungen (am selben Tag kein Auto lenken, keine schweren Maschinen bedienen) und Nebenwirkungen informiert ist. Alle Patienten müssen in ein Register eingeschlossen werden (10). Die Produktinformation muss eine „Boxed Warning“ über das Risiko von Nebenwirkungen enthalten (Sedierung, Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Denken und Handeln, Substanzmissbrauch, Suizidimpulse). Ketamin ist möglicherweise teratogen und darf während Schwangerschaft und Stillzeit nicht angewendet werden.

Die sehr dünne Datenlage und die darauf basierende Zulassung werden von manchen Fachleuten kritisch gesehen: In einem Editorial (12) zur TRANSFORM-2-Studie schreibt der Autor, dass der Effekt von transnasalem (S)-Ketamin insgesamt nur als gering angesehen werden kann. Aufgrund des für sehr viele Patienten innerhalb von Minuten eindeutig wahrnehmbaren Unterschieds zwischen Verum und Plazebo (physiologische Kochsalzlösung) muss außerdem von einer wirksamen Entblindung ausgegangen werden, was bereits per se für den positiven Effekt verantwortlich sein könnte – ein auch von der FDA angeführter Kritikpunkt (10). Der beobachtete antidepressive Effekt tritt sehr rasch ein (Stunden), der weitere Kurvenverlauf in den Kurzzeitstudien über 4 Wochen war parallel. Möglicherweise würde auch eine Kurzzeitanwendung von (S)-Ketamin über ein bis zwei Wochen ausreichen, um Patienten rasch aus einer Krise zu helfen, und hätte dabei weniger Risiken als eine längerdauernde Anwendung. Optimale Dosierung und Therapiedauer sind daher völlig unklar (12). Dies sind wichtige Fragen in Anbetracht des bekannten Missbrauchs- und Suchtpotenzials sowie der nicht unbeträchtlichen Nebenwirkungen.

Fazit: Kürzlich wurde in den USA (S)-Ketamin als Nasenspray zur Behandlung schwerer, therapieresistenter Depressionen in einem beschleunigten Verfahren zugelassen; ein Zulassungsantrag für die Europäische Union läuft bereits. Möglicherweise könnte der Spray einen Stellenwert in der Akutbehandlung bei schweren, sonst therapieresistenten Formen der Depression bekommen. Aufgrund beträchtlicher unerwünschter psychotroper Wirkungen und des Suchtpotenzials wurde die Anwendung in den USA jedoch an strenge Auflagen gebunden. Der Zulassung liegen verhältnismäßig kleine, nur zum Teil positive Studien zugrunde, deren Methodik und Ergebnisse nicht unumstritten sind. Aufgrund zahlreicher offener Fragen zu Dosierung, Therapiedauer, Rückfallquote, Risiko-Nutzen-Relation (insbesondere im Langzeitverlauf mit potenzieller Entzugsproblematik und erhöhter Suizidalität) sowie des hohen administrativen und organisatorischen Aufwands der Verabreichung wird die Anwendung von Ketamin in dieser Indikation auch in Fachkreisen kritisch gesehen. Ketamin und (S)-Ketamin sollten außerhalb der Notfall- und Intensivmedizin äußerst zurückhaltend und nur im Rahmen seriöser klinischer Studien angewendet werden – unabhängig vom Applikationsweg.

Literatur

  1. https://www.fda.gov/news-events/press- announcements/fda-approves-new- nasal-spray-medication-treatment-resistant-depression -available-only-certified Link zur Quelle
  2. https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/ depressionen-usa-lassen-nasenspray- auf-ketamin-basis-zu-a-1256486.html Link zur Quelle
  3. https://www.janssen.com/janssen-submits-european -marketing-authorisation-application-esketamine- nasal-spray-treatment Link zur Quelle
  4. https://www.drugs.com/international/esketamine.html Link zur Quelle
  5. Niesters, M., et al.: Br. J. Clin. Pharmacol. 2014, 77, 357. Link zur Quelle
  6. Schoevers, R.A., et al.: Br. J. Psychiatry 2016, 208, 108. Link zur Quelle
  7. Ripamonti, C.I., et al.: Ann. Oncol. 2012, 23 (Suppl. 7), vii139. Link zur Quelle
  8. Popova, V., et al. (TRANSFORM-2 = A study to evaluate the efficacy, safety, and tolerability of fixed doses of intranasal esketamine plus an oral antidepressant in adult participants with treatment-resistant depression): Am. J. Psychiatry 2019, 176, 428. Link zur Quelle . Erratum: Am. J. Psychiatry 2019, 176, 669.
  9. Daly, E.J., et al. (SUSTAIN-1 = A study of intranasal esketamine plus an oral antidepressant for relapse prevention in adult participants with treatment-resistant depression): JAMA Psychiatry 2019 Jun 5. Epub ahead of print. Link zur Quelle
  10. Schatzberg, A.F.: Am. J. Psychiatry 2019, 176, 422. Link zur Quelle