Am 15. September 2020 wurde der aktuelle Arzneiverordnungs-Report (AVR) 2020 veröffentlicht, der sowohl als „Softcover“-Buch als auch als eBook verfügbar ist (1). Wie in den 35 Jahren zuvor bietet der AVR 2020 auf insgesamt 936 Seiten unabhängige Informationen über die verschiedenen Bereiche der Arzneimittelverordnung und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Transparenz des Arzneimittelmarkts in Deutschland sowie im Rahmen der Besprechung der Indikationsgruppen zur evidenzbasierten Bewertung von Arzneimitteln: eine wichtige Voraussetzung für eine zweckmäßige, sichere und wirtschaftliche Arzneitherapie.
Der AVR 2020 enthält insgesamt 44 Kapitel, davon 5 im Abschnitt I. zur allgemeinen Verordnungs- und Marktentwicklung und 39 im Abschnitt II. zu den unterschiedlichen Indikationsgruppen. Grundlage des AVR sind die Analysen der Verordnungsdaten des Arzneimittelindex der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der in Trägerschaft des AOK-Bundesverbandes vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) erstellt wurde. Die Arzneimitteldaten über Verordnungen, Umsätze, Nettokosten und definierte Tagesdosen („defined daily dose“ = DDD) wurden nach den Vorgaben der Herausgeber des AVR und der 34 Autoren bezüglich Arzneimittelklassifikation, Patentstatus, Zeitumfang und Struktur in den Tabellen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zusammengestellt. Ein bisher im AVR enthaltenes Kapitel (Der GKV-Arzneimittelmarkt: Trend und Marktsegmente) ist 2020 ebenso wie der bisherige Anhang im AVR mit dem zugehörigen Kapitel (Ergänzende statistische Übersicht) erstmals als Teil einer eigenen Online-Publikation auf der Internetseite des WIdO erschienen (2, 3).
Das erste Kapitel des AVR 2020 verschafft einen umfassenden Überblick zu den Arzneiverordnungen im Jahr 2019 (4). Die Arzneimittelausgaben der GKV mit Zuzahlungen der Versicherten sind erneut gegenüber dem Vorjahr um 5,4% auf Nettokosten (Bruttoumsatz minus gesetzliche Hersteller- und Apothekenabschläge) in Höhe von 43,363 Mrd. € gestiegen und liegen damit bei 17,2% der Leistungsausgaben der GKV. Die Marktsegmente des GKV-Arzneimittelmarkts gliedern sich in die beiden Hauptsegmente der Patentarzneimittel mit einem Umsatz von 21,641 Mrd. € (46,3%) und den größeren Bereich der patentfreien Arzneimittel mit 23,968 Mrd. € (51,3%). Dabei ist zu beachten, dass die Patentarzneimittel nur einen Anteil von 6,4% am DDD-Gesamtvolumen haben und somit die Therapiekosten der Patentarzneimittel im Vergleich zu den patentfreien Arzneimitteln 7-fach höher liegen. Die Ausgaben für Biologika sind gegenüber 2019 um 5,5% gestiegen auf 9,303 Mrd. €. Wie in den Vorjahren sind die Onkologika mit Nettokosten von 8.206,43 Mio. € (Steigerung gegenüber 2018 um 13,7%) bei fast unveränderten Verordnungen die umsatzstärkste Arzneimittelgruppe, gefolgt von den Immunsuppressiva (5.623,61 Mio. €), Antithrombotika (2.638,05 Mio. €) sowie Antidiabetika (2.604,85 Mio. €). Unter den nach Nettokosten führenden 30 Arzneimitteln im Jahr 2019 befinden sich 11 Onkologika, von denen Pembrolizumab, Lenalidomid und Nivolumab die höchsten Umsätze erzielten. Lenalidomid gilt heute als eines der profitabelsten jemals zugelassenen Orphan-Arzneimittel mit weltweiten Umsätzen in Höhe von 55 Mrd. € (5).
Erfreulich ist der deutlich gewachsene Markt der Biosimilars (von Nettokosten in Höhe von 75 Mio. € in 2010 auf 1.722 Mio. € in 2017) und vor allem der inzwischen mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) erzielte Durchbruch in der Realisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven bei patentgeschützten Arzneimitteln. Im Jahr 2019 wurden 3.610 Mio. € durch Erstattungsbeträge eingespart und somit die ursprünglich bei Verabschiedung des Gesetzes anvisierten Einsparungen von etwa 2 Mrd. € deutlich übertroffen. Abschließend werden in diesem Kapitel 1 die methodischen Probleme internationaler Preisvergleiche und die Wirtschaftlichkeitsreserven von Arzneimitteln dargestellt (z.B. Festbetragsgruppen für Arzneimittel, kassenspezifische Arzneimittelrabattverträge).
In Kapitel 2 werden die neuen Arzneimittel 2019 vorgestellt (6). Die Zahl der 2019 in Deutschland neu auf den Markt gebrachten Arzneimittel (n = 31) hat gegenüber 2018 abgenommen (n = 37). Über einen neuartigen Wirkmechanismus verfügen 13 Wirkstoffe, darunter die zur Gruppe der Arzneimittel für neuartige Therapien („advanced therapeutic medicinal products = ATMP) gehörenden zwei gentherapeutischen Arzneimittel: Axicabtagen-Ciloleucel (Yescarta®) zur Behandlung des diffus großzelligen bzw. primär mediastinalen großzelligen B-Zell-Lymphoms und Voretigen Neparvovec (Luxturna®) zur Behandlung des Sehverlustes aufgrund einer erblichen Netzhautdystrophie. Es dominieren wie in den Jahren zuvor Arzneimittel zur Behandlung hämatologischer Neoplasien bzw. solider Tumoren (n = 13), deren Zusatznutzen im Rahmen der frühen Nutzenbewertung jedoch vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bei 7 Wirkstoffen als nicht belegt bzw. bei Axicabtagen-Ciloleucel als nicht quantifizierbar beurteilt wurde. Alle neuen Arzneimittel werden hinsichtlich Wirkmechanismus, Ergebnissen in den für die Zulassung relevanten klinischen Studien, Indikation(en), Nutzenbewertung, Dosierung und Kosten ausführlich besprochen. Ebenfalls in Kapitel 2 des AVR 2020 werden bekannte Wirkstoffe mit neuen Indikationen (n = 37) diskutiert, darunter 15 Arzneimittel zur Behandlung hämatologischer Neoplasien bzw. solider Tumore (6).
In Kapitel 3 werden u.a. die Definitionen der Biologika, die Anforderungen an die Zulassung von Biologika und Biosimilars sowie deren Verordnung in Deutschland ausführlich dargestellt (7). Biosimilars sind seit über 13 Jahren in Europa verfügbar und haben in dieser Zeit zunehmend an Bedeutung für die kostenbewusste Arzneimitteltherapie gewonnen als preisgünstige und hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit vergleichbare therapeutische Alternativen zu Originalpräparaten. Ihre Markteinführung trägt dazu bei, ein am Wettbewerb orientiertes Umfeld zu schaffen und dadurch das Preisniveau von Biologika zu senken. Durch die Verordnung von Biosimilars können wirtschaftliche Effizienzreserven erschlossen und Einsparungen realisiert werden. Dies verdeutlicht eindrucksvoll die Einführung von Biosimilars zu Adalimumab (Humira®), einem monoklonalen Antikörper, der in den letzten Jahren mit Abstand die höchsten Nettokosten aller Arzneimittel verursachte. Durch die Markteinführung von 5 Biosimilars zu Adalimumab im Jahr 2019 konnten die Nettokosten auf 696,6 Mio. € gegenüber 1.015,1 Mio. € im Jahre 2018 gesenkt werden. Humira® hat dadurch im Jahr 2019 seine Position des nach Nettokosten führenden Arzneimittels an 2 direkte orale Antikoagulanzien (Eliquis® und Xarelto®) abgegeben und liegt mit den zuvor genannten Nettokosten nur noch an Position 3 der führenden 30 Arzneimittel. Am Ende des Jahres 2019 waren in Deutschland bereits 44 Biosimilars und Anfang Juni 2020 insgesamt 45 Biosimilars zu 14 verschiedenen Biologika verfügbar, die erfreulicherweise deutlich häufiger verordnet wurden als im Vorjahr. Am Ende von Kapitel 3 werden Marktregulierungsinstrumente bei Biosimilars und Biologika vorgestellt und dabei auch auf die derzeit in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern noch nicht erlaubte automatische Substitution in Apotheken hingewiesen, die vermutlich ab Juli 2022 für biologische Arzneimittel in Deutschland gelten soll.
Experten auf dem Gebiet der Gesundheitsökonomie aus Deutschland und Österreich besprechen in Kapitel 5 ausführlich die derzeit verfügbaren Marktsteuerungsmechanismen und Einsparpotenziale von Biosimilars in Deutschland und im europäischen Vergleich (8). Sie weisen darauf hin, dass durch konsequente Anwendung von Marktsteuerungsinterventionen – unter Berücksichtigung der in anderen Ländern angewandten Maßnahmen – die Einsparpotenziale in Deutschland noch besser ausgeschöpft werden könnten. Anhand der Berechnungen für verschiedene Szenarien (z.B. Festbetragsbildung, Ausweitung der Verordnungsmindestquoten, automatische Substitution von Biologika) errechnen sie für 9 biologische Wirkstoffe (u.a. Adalimumab, Enoxaparin, Etanercept, Infliximab und Trastuzumab) Einsparungen für den GKV-Markt 2019 in Höhe von 2.612,42 Mio. €, von denen knapp ein Drittel auf Adalimumab entfiel. Im Fazit dieses Kapitels weisen die Autoren zu Recht auf die Bedeutung internationaler Vergleiche hin, die evidenzbasiert Ideen für die Umsetzung von Maßnahmen zur besseren Ausschöpfung von Einsparpotenzialen generieren, ohne dabei die Qualität der medikamentösen Versorgung zu beeinträchtigen.
Im Kapitel 4 wird aus Sicht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) knapp 10 Jahre nach Einführung des AMNOG ein Rück- und Ausblick geworfen auf die Erfahrungen im Rahmen der frühen Nutzenbewertung zur leistungsgerechten Preisfindung von neuen patentgeschützten Arzneimitteln oder bei Indikationsausweitungen der bereits in den Markt eingeführten Arzneimittel (9). Hierfür werden zunächst die aktuellen Entwicklungen im Arzneimittelmarkt seit Inkrafttreten des AMNOG sowie die derzeit existierenden Zulassungsverfahren in Europa dargestellt. Ausführlich eingegangen wird auf die in den letzten Jahren wiederholt geäußerten Kritikpunkte am AMNOG, vor allem von Verbänden der pharmazeutischen Industrie und medizinischen Fachgesellschaften. Die bis 2020 erfolgten Anpassungen und Änderungen im AMNOG-Verfahren werden dargestellt und Vorschläge für weitere, aus Sicht der AkdÄ notwendige Änderungen diskutiert (z.B. reguläre Nutzenbewertung der Orphan-Arzneimittel, stärkere Berücksichtigung von gesundheitsbezogener Lebensqualität bzw. den von Patienten berichteten Symptomen in klinischen Studien vor der Zulassung – insbesondere bei beschleunigten Zulassungsverfahren – und Befristung der G-BA Beschlüsse bei unzureichender Evidenz für die Beurteilung des Zusatznutzens zum Zeitpunkt der Markteinführung neuer Arzneimittel sowie verpflichtende Durchführung einer späten Nutzenbewertung).
Im Teil II des AVR 2020 werden die Verordnungen in den verschiedenen Indikationsgruppen ausführlich besprochen. Besonders interessant – aufgrund der aktuellen Verordnungsvolumina und der daraus resultierenden Nettokosten – sind die Kapitel zu Analgetika, Antibiotika und Antiinfektiva, Antithrombotika und Antihämorrhagika, Onkologika und Psychopharmaka. Am Anfang der jeweiligen Kapitel im Teil II werden meist unter der Überschrift „Auf einen Blick“ das Verordnungsprofil, der Trend in den Verordnungen sowie bei den umsatzstarken Arzneimitteln häufig auch die Kostenentwicklung (z.B. bei Antidiabetika, oralen Antikoagulanzien wie Thrombinantagonisten und Faktor-Xa-Antagonisten, Immunsuppressiva, Hepatitis-C-Therapeutika und Onkologika) beschrieben. In allen Kapiteln des Teils II finden sich informative Tabellen, die jeweils die zu dem Wirkstoff auf dem Markt befindlichen Präparate auflisten, ihre Bestandteile nennen und Angaben machen zu den verordneten Tagesdosen, den Änderungen gegenüber 2018 und den mittleren Kosten je DDD im Jahr 2019.
Die weiter steigenden GKV-Ausgaben für Arzneimittel und die Gründe hierfür werden, wie in den Jahren zuvor, von Seiten des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie mit den „gerade jetzt dringend benötigten Durchbrüchen in der Arzneimittelforschung“ begründet und eine Kostenexplosion angesichts der „seit Jahren bei rund einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegenden GKV-Ausgaben“ negiert (10). Dabei wird erneut „das Beispiel der modernen Mittel gegen Hepatitis C“ bemüht, „die Patienten heilen und damit auch Folgekosten, etwa für Transplantationen, entfallen“. Dies trifft auf die erfolgreiche medikamentöse Behandlung der Hepatitis C zu, die ganz wesentlich von den kürzlich mit dem Nobelpreis an 3 Forscher aus den USA ausgezeichneten wissenschaftlichen Erkenntnissen profitiert hat (11). Nicht zu rechtfertigen sind jedoch die häufig horrenden Preise für neue Wirkstoffe zur Behandlung von Tumorerkrankungen, die weder die Prognose von Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen im Vergleich zu den bereits verfügbaren Therapieoptionen deutlich verbessern, noch die Kosten für Forschung und Entwicklung adäquat widerspiegeln oder mit dem in klinischen Studien nachgewiesenen Nutzen korrelieren (12, 13).
Literatur
- https://www.springer.com/de/ueber- springer/medien/pressemitteilungen/ medizin/trotz-hoher-einsparungen- weiter-steigende-arzneimittelausgaben/ 18375610 Link zur Quelle
- https://www.wido.de/news-events/aktuelles/2020/patentarzneimittel/ Link zur Quelle
- https://www.wido.de/fileadmin/ Dateien/Dokumente/News/Pressemitteilungen/2020/ wido_arz_gkv_arzneimittelmarkt_klassifikation_ methodik_ergebnisse_2020.pdf Link zur Quelle
- Schwabe, U., und Ludwig W.-D.: Arzneiverordnungen 2019 im Überblick. In: Schwabe, U., und Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
- Marselis, D., und Hordijk, L.: BMJ 2020, 370, m2983. Link zur Quelle
- Fricke, U., Hein, L., Schwabe, U.: Neue Arzneimittel 2019. In: Schwabe, U., und Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
- Dicheva-Radev, S., und Ludwig, W.-D.: Biologika und Biosimilars. In: Schwabe, U., Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
- Vogler, S., Schneider, P., Panteli, D., Busse, R.: Biosimilars in Deutschland und im europäischen Vergleich – Marktsteuerungsmechanismen und Einsparpotenziale. In: Schwabe, U., Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
- Ludwig, W.-D.: Zehn Jahre AMNOG – Rückblick und Ausblick aus Sicht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. In: Schwabe, U., und Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin, 2020.
- https://www.bpi.de/de/nachrichten/detail/ es-gibt-keine-kostenexplosion-im- gkv-arzneimittelmarkt Link zur Quelle
- https://www.tagesschau.de/medizin-nobelpreis-hepatitis-c-101.html Link zur Quelle
- Hilal, T., et al.: JAMA Intern. Med. 2020, 180, 1108. Link zur Quelle
- Prasad, V.K.: MALIGNANT. How Bad Policy and Bad Evidence Harm People with Cancer. Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2020. ISBN 97811437637.