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Therapie mit Anti-Interleukin-6-Rezeptor-Antikörpern bei Patienten mit schwerem Verlauf von COVID-19

Die meisten Infektionen mit SARS-CoV-2 verlaufen asymptomatisch oder milde (1). Aber eine kleine Gruppe von Patienten mit dieser Virusinfektion entwickelt einen sehr schweren Verlauf mit hoher Letalität, meist infolge einer hyperinflammatorischen Reaktion. Dabei bilden sich Infiltrate in der Lunge, die sich rasch ausbreiten, sodass die Patienten einen hohen Sauerstoffbedarf haben und schnell auf eine Intensivstation verlegt werden müssen (1). Es werden dringend Arzneimittel benötigt, die diesen Verlauf verhindern oder mildern. Bisher haben in dieser Phase von COVID-19 nur Glukokortikosteroide (z.B. Dexamethason) in klinischen Studien eine überzeugende Wirksamkeit gezeigt. Wir haben mehrfach über Metaanalysen dieser Therapie berichtet (2). Die meisten Patienten kamen aus klinischen Studien mit adaptivem Design (z.B. „Oxford-Studie“ der RECOVERY-Plattform). Insgesamt hat sich im Verlauf der Pandemie und Behandlung von COVID-19 gezeigt, dass die schweren klinischen Verläufe nicht durch die Virusreplikation, sondern durch lokale inflammatorische Prozesse – vor allem in der Lunge – infolge der Immunreaktion auf die virale Infektion bestimmt werden (18). Daraus resultieren auch Therapieversuche mit Plasma von COVID-19-Rekonvaleszenten sowie neutralisierenden bzw. monoklonalen Antikörpern. Sie haben bisher jedoch keinen überzeugenden Nutzen bei Patienten gezeigt, die bereits COVID-19-Symptome entwickelt hatten (5, 6). Zu der Annahme, dass im weiteren Verlauf des Krankheitsgeschehens Immunreaktionen eine entscheidende Rolle spielen, passt auch, dass Glukokortikosteroide wirksam sind. Allerdings wurde ihr Nutzen nur bei Patienten gezeigt, die schon intubiert waren (2, 19, 20). Derzeit werden Glukokortikosteroide – allerdings ohne gute Evidenz aus klinischen Studien – in der klinischen Praxis schon wesentlich früher bei COVID-19-Patienten mit zunehmendem Sauerstoffbedarf verabreicht. Für ihre Wirksamkeit spricht die Reduktion der Letalität bei schweren Verläufen (7). Dennoch sterben immer noch 30-40% der Patienten in dieser fortgeschrittenen Phase von COVID-19 (7). Daher wird intensiv nach weiteren medikamentösen immunmodulatorischen Therapien gesucht, die die Ausbreitung der Inflammation in der Lunge verhindern können (vgl. 18).

Schon früh während der Pandemie wurde entdeckt, dass bei Patienten mit schweren COVID-19-Verläufen die Werte von Interleukin-6 (IL-6) im Blut sehr hoch sind. Daher wurde die Wirksamkeit einer Therapie mit Tocilizumab (RoActemra®) untersucht, einem entzündungshemmenden, immunsupprimierenden, gegen den IL-6-Rezeptor gerichteten monoklonalen Antikörper, der bei Rheumatoider Arthritis und bei Riesenzellarteriitis eingesetzt wird. Mehrere klinische Studien fanden zwar eine Tendenz zur schnelleren Genesung der COVID-Patienten, jedoch keinen signifikanten Unterschied in der Letalität, verglichen mit Standardtherapie. Allerdings handelte es sich teilweise um Studien mit nur wenigen schwerkranken Patienten, in denen ein harter Endpunkt, wie Tod infolge von COVID-19, nicht verlässlich bewertet werden konnte und bei denen die Infusion des Anti-IL6-Rezeptor-Antikörpers auch erst relativ spät im Verlauf von COVID-19 erfolgte (8-13).

Nun wurden zwei größere klinische Studien mit schwerkranken COVID-19-Patienten und Anti-IL-6-Antikörper-Therapie publiziert – jeweils als internationale Plattformstudien mit adaptivem Design: REMAP-CAP = Randomized, Embedded, Multifactorial Adaptive Platform trial for Community-Acquired Pneumonia und RECOVERY = Randomised Evaluation of COVID-19 ThERapY (14, 15). Ihre Ergebnisse sollen im Folgenden dargestellt werden. In beiden Studien wurde die Wirksamkeit von Tocilizumab untersucht, in der REMAP-CAP-Studie auch Sarilumab. Sarilumab (Kevzara®) ist ein humaner monoklonaler Antikörper, der zugelassen ist für die Behandlung der aktiven Rheumatoiden Arthritis in Kombination mit Methotrexat und der die IL-6-vermittelte Signalweiterleitung hemmt.

REMAP-CAP-Studie (14): Design: In der REMAP-CAP-Studie wurden bis Mitte November 2020 insgesamt 353 Patienten im Alter ≥ 18 Jahre nach Randomisierung mit Tocilizumab und 48 Patienten mit Sarilumab behandelt. Diese Patienten wurden mit klinisch vermutetem oder mikrobiologisch bestätigtem COVID-19 nach Einstufung als schwere Erkrankung mit notwendiger respiratorischer oder kardiovaskulärer Organunterstützung auf eine Intensivstation übernommen. Als Kontrolle dienten 402 Patienten, die eine supportive Standardbehandlung erhielten. Die Patienten waren im Median 61 Jahre alt, ca. 70% waren Männer. Sehr alte Patienten (> 80 Jahre) waren nicht vertreten. Im Unterschied zu vorausgegangenen Studien wurde der Beginn der Anti-IL-6-Antikörper-Therapie klar definiert. Alle Patienten, die kritisch krank waren (d.h. respiratorisch insuffizient: entweder mechanische Beatmung oder „high-flow“ mit 40 Litern Sauerstoff) mussten innerhalb von 24 h nach Eintritt der respiratorischen Insuffizienz randomisiert werden und erhielten in der Verumgruppe als Infusion 8 mg pro kg Körpergewicht Tocilizumab i.v. oder 400 mg Sarilumab i.v. Die meisten (> 80%) dieser schwerkranken Patienten erhielten zusätzlich Glukokortikosteroide und etwa ein Drittel der Patienten auch Remdesivir. Die Kontrollgruppe wurde mit Ausnahme der zuvor genannten Arzneimittel gleich behandelt, und nur 2% der Patienten erhielten außerhalb des Protokolls immunmodulierende Wirkstoffe. Der primäre Endpunkt der REMAP-CAP-Studie war die Zahl der Tage bis zum Tag 21 nach Randomisierung, an denen die Patienten keine respiratorische oder kardiovaskuläre Unterstützung benötigten. Sekundärer Endpunkt war u.a. die Krankenhausletalität innerhalb von 90 Tagen.

Ergebnisse: Der primäre Endpunkt wurde in der Tocilizumab-Gruppe im Median nach 10 Tagen und in der Sarilumab-Gruppe im Median nach 11 Tagen erreicht, in der Kontrollgruppe jedoch bei keinem einzigen Patienten. Die mediane adjustierte Odds Ratio betrug 1,64 für ein besseres Ergebnis mit Tocilizumab und 1,76 für ein besseres Ergebnis mit Sarilumab. Die Vorteile waren mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 99,9% und 99,5% signifikant. Auch hinsichtlich der Letalität im Krankenhaus (Überleben nach 90 Tagen) schnitten die beiden monoklonalen Antikörper signifikant besser ab. In der Tocilizumab-Gruppe starben 28% und in der Sarilumab-Gruppe 22% der Patienten in den ersten 90 Tagen nach Beginn der Behandlung gegenüber 36% in der Kontrollgruppe. Dies ergab eine „Number Needed to Treat“ von 12 Patienten, die mit einem der beiden Anti-IL-6-Rezeptor-Antikörper behandelt werden müssen, um einem Patienten das Leben zu retten.

RECOVERY-Studie (15): Design: Zwischen April 2020 und Januar 2021 wurden 4.116 von insgesamt 21.550 erwachsenen Patienten, die in RECOVERY eingeschlossen wurden, hinsichtlich der Wirksamkeit von Tocilizumab bei Patienten mit COVID-19 und Behandlung im Krankenhaus untersucht. Glukokortikosteroide zusätzlich zu Tocilizumab erhielten 3.385 Patienten (= 82%). Voraussetzung für die Teilnahme an dieser klinischen Studie waren folgende Befunde bei den Patienten: Hypoxie (Sauerstoffsättigung < 92% bei Raumluft oder notwendige zusätzlich Gabe von Sauerstoff) sowie Nachweis einer systemischen Entzündung (CRP ≥ 75 mg/l; Median des CRP-Werts bei den eingeschlossenen Patienten: 143 mg/l). Nach Randomisierung im Verhältnis 1:1 erhielten die Patienten entweder die übliche Standardtherapie oder Tocilizumab (je nach Körpergewicht 400 mg-800 mg i.v. als einmalige Infusion über eine Stunde). Eine zweite Infusion von Tocilizumab war innerhalb von 24 Stunden erlaubt, falls sich der Zustand des Patienten nicht besserte. Primärer Endpunkt der Studie war die Letalität (unabhängig von der Ursache) innerhalb der ersten 28 Tage, die in der „intention-to-treat“-Population ermittelt wurde. Sekundäre Endpunkte waren die Zeit bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus und die Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung, sofern die Patienten bei Krankenhausaufnahme noch keine mechanische Beatmung benötigten. Die Patienten waren im Median 63,6 Jahre alt (11-12% > 80 Jahre); > 60% waren Männer. Die Patienten befanden sich seit durchschnittlich 2 Tagen wegen einer Verschlechterung der Symptome in einer der 131 teilnehmenden Kliniken.

Ergebnisse: Zum Zeitpunkt der Randomisierung benötigten 562 (14%) der eingeschlossenen Patienten eine invasive mechanische Beatmung, 1.686 (41%) eine nicht invasive Unterstützung der Atmung und 1.868 (45%) keine respiratorische Unterstützung. Eine Nachverfolgung der Patienten war möglich bei jeweils 98% der in den Tocilizumab-Arm bzw. der in die Kontrollgruppe randomisierten Patienten. Zumindest eine Dosis Tocilizumab (oder Sarilumab) erhielten 1.647 (84%) im Tocilizumab-Arm und 77 (4%) in der Kontrollgruppe. Mehr als eine Dosis erhielten 565 Patienten (29%) im Tocilizumab-Arm gegenüber 17 Patienten (1%) in der Kontrollgruppe. Andere Therapiestrategien bei COVID-19 unterschieden sich nicht zwischen diesen beiden Armen. Eine Nachverfolgung der primären und sekundären Endpunkte war möglich bei 99% der Studienteilnehmer. Insgesamt starben 621 (31%) von 2.022 Patienten im Tocilizumab-Arm und 729 (35%) von 2.094 Patienten in der Kontrollgruppe innerhalb von 28 Tagen (Relatives Risiko = RR: 0,85; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,76-0,94; p = 0,0028). Dieses Ergebnis war in allen untersuchten Subgruppen konsistent, auch in der Gruppe der Patienten, die Glukokortikosteroide erhalten hatten. Patienten im Tocilizumab-Arm wurden häufiger innerhalb der ersten 28 Tage aus dem Krankenhaus entlassen (57% vs. 50%; RR: 1,22; CI: 1,12-1,33; p < 0,0001). Unter den Patienten, die zum Zeitpunkt der Randomisierung noch keine invasive Beatmung benötigten, war die Wahrscheinlichkeit, noch mechanisch beatmet zu werden und zu sterben (zusammengesetzter Endpunkt aus Tod und mechanischer Beatmung) in der Tocilizumab-Gruppe geringer (35% vs. 42%; RR: 0,84; CI: 0,77-0,92; p < 0,0001). Aus den Ergebnissen der RECOVERY-Studie ergibt sich eine „Number Needed to Treat“ von 25, um ein Leben zu erhalten.

Diskussion und Bewertung: Neben den Glukokortikosteroiden gibt es jetzt mit humanen monoklonalen Antikörpern gegen den IL-6-Rezeptor auch Biologika, die eine klinische Wirksamkeit bei schwerkranken COVID-19-Patienten gezeigt haben. Der etwas geringere Effekt in der RECOVERY- im Vergleich zur REMAP-CAP-Studie könnte zum einen damit zusammenhängen, dass etwa 16% in der Tocilizumab-Gruppe den Antikörper tatsächlich nicht erhalten haben und damit der Effekt in der RECOVERY-Studie unterschätzt wurde. Zum anderen könnte die zum Teil etwas spätere Infusion als innerhalb von 24 h nach Beginn der klinischen Verschlechterung zum geringeren Effekt in der RECOVERY-Studie beigetragen haben.

Der Effekt von Anti-IL6-Rezeptor-Antikörpern in der Behandlung schwerkranker COVID-19-Patienten scheint also von einem bestimmten Zeitfenster im Verlauf der starken entzündlichen Reaktion (Hyperinflammation) abzuhängen. Darüber hinaus wirkt dieser therapeutische Ansatz offensichtlich synergistisch mit Glukokortikosteroiden. Diese Faktoren könnten auch erklären, warum in einigen früheren Studien kein Effekt hinsichtlich der Sterblichkeit gefunden wurde. Der Einsatz dieser medikamentösen Therapie sollte vermutlich eher am Anfang erfolgen, wahrscheinlich innerhalb der ersten 10 Tage nach Auftreten von Symptomen. In dieser Phase der Erkrankung sind bakterielle Superinfektionen bei Patienten mit COVID-19 selten (15). Nach Berechnungen aus England würden für diese Therapie ca. 50% der schwerkranken COVID-19 Patienten in Frage kommen (15).

Trotz dieser Verbesserung in der Therapie schwer kranker COVID-19-Patienten sterben bei optimaler Anwendung immer noch 22-28%. Möglicherweise kann durch Hinzunahme weiterer immunmodulatorischer Substanzen, wie z.B. Anti-IL-1- oder Januskinase-Inhibitoren, die Letalität noch weiter gesenkt werden. Gerade im Hinblick auf die Langzeit-Lungenschäden könnten diese Therapieansätze die Folgeschäden reduzieren. Immerhin haben ca. ein Drittel der Patienten nach überstandener schwerer COVID-19-Pneumonie ohne immunmodulatorische Therapie bleibende strukturelle Lungenschäden (Lungenfibrose; 17).

Fazit: Insgesamt können wir – auch im Einklang mit den Kommentaren im Lancet (16), im N. Engl. J. Med. (18) sowie den Guidelines der National Institutes of Health (NIH; 21) – folgende Rückschlüsse ziehen aus den Ergebnissen der beiden o.g. klinischen Studien zum therapeutischen Stellenwert von Anti-IL6-Rezeptor-Antikörpern bei schwerkranken Patienten mit COVID-19-Infektion:

  1. Anti-IL6-Rezeptor-Antikörper können in Kombination mit Glukokortikosteroiden bei Patienten mit Anzeichen einer Hyperinflammation (z.B. CRP > 75 mg) in den ersten 24 h, vielleicht auch noch in den ersten 48 h nach Verschlechterung der Beatmungssituation (Abfall der Sauerstoff-Sättigung bei Raumluft < 92% oder „High-Flow“ 40 Liter Sauerstoff bzw. mechanische Beatmung notwendig) die Letalität senken.

  2. Patienten mit Anzeichen einer zu Grunde liegenden chronischen oder aktiven bakteriellen Infektion (z.B. erhöhtes Procalcitonin) sollten ausgeschlossen werden.

  3. Bei Patienten > 80 Jahre reichen die Daten für eine Bewertung nicht aus.

  4. Bei Patienten, die bereits länger als 2 Tage mechanisch beatmet werden müssen, gibt es derzeit keine Evidenz für die Wirksamkeit von Anti-IL-6-Rezeptor-Antikörpern.

Literatur

  1. AMB 2020, 54, 09. Link zur Quelle
  2. AMB 2020, 54, 79. Link zur Quelle
  3. AMB 2020, 54, 72. Link zur Quelle
  4. AMB 2020, 54, 95. Link zur Quelle
  5. AMB 2020, 54, 50. Link zur Quelle
  6. AMB 2021, 55, 08a. Link zur Quelle
  7. Armstrong, R.A., et al.: Anaesthesia 2021, 76, 537. Link zur Quelle
  8. Veiga, V.C., et al. (TOCIBRAS = Safety and efficacy of tocilizumab in moderate to severe COVID-19 with inflammatory markers): BMJ 2021, 372, n84. Link zur Quelle
  9. Rosas, I.O., et al. (COVACTA = A study to evaluate the safety and efficacy of tocilizumab in patients with severe COVID-19 pneumonia): N. Engl. J. Med. 2021, 384, 1503. Link zur Quelle
  10. Hermine, O., et al.: JAMA Intern Med. 2021, 181, 32. Link zur Quelle . Erratum: JAMA Intern. Med. 2021, 181, 144.
  11. Salvarani, C., et al.: JAMA Intern. Med. 2021, 181, 24. Link zur Quelle
  12. Stone, J.H., et al.: N. Engl. J. Med. 2020, 383, 2333. Link zur Quelle
  13. Salama, C., et al.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 20. Link zur Quelle
  14. Gordon, A.C., et al. (REMAP-CAP = Randomized, Embedded, Multifactorial Adaptive Platform trial for Community-Acquired Pneumonia): N. Engl. J. Med. 2021, 384, 1491. Link zur Quelle
  15. RECOVERY = Randomised Evaluation of COVID-19 ThERapY: Lancet 2021, 397, 1637. Link zur Quelle
  16. Gupta, S., und Leaf, D.E.: Lancet 2021, 397, 1599. Link zur Quelle
  17. Han, X., et al. Radiology 2021, 299, E177. Link zur Quelle
  18. Rubin, E.J., et al.: N. Engl. J. Med 2021, 384, 1564. Link zur Quelle
  19. Lee, C.K., et al.: BMJ 2021, 373, n1147. Link zur Quelle
  20. Baraniuk, C.: BMJ 2021, 373, n1109. Link zur Quelle
  21. https://www.covid19treatmentguidelines.nih.gov/ immunomodulators/interleukin-6-inhibitors/ Link zur Quelle