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Entwicklung eines Manuals zum „Deprescribing“ bei älteren gebrechlichen („frail“) Patienten und erste Ergebnisse der COFRAIL Forschungsgruppe zum „Deprescribing“ bei älteren Patienten

DER ARZNEIMITTELBRIEF hat sich wiederholt mit den Themen Multimedikation und „Deprescribing“ beschäftigt, vor allem angesichts der demografischen Entwicklung und der in den letzten Jahren zunehmenden Zahl an Übersichtsartikeln bzw. Berichten über negative Auswirkungen einer Multimedikation bei älteren Patienten und dereen mitunter fragwürdigen Wirksamkeit sowie Sicherheit [1],[2],[3],[4],[5],[6],[7]. Etwa die Hälfte der älteren Menschen (≥ 65 Jahre) erhält heute eine Multimedikation, meist definiert als eine dauerhafte Einnahme von ≥ 5 unterschiedlichen Arzneimitteln [8], [9]. Daraus resultieren ein erhöhtes Risiko für Medikationsfehler und gefährliche Arzneimittelinteraktionen, für Verschreibungskaskaden sowie die Einnahme potenziell ungeeigneter Arzneistoffe. Zudem führt dies häufig zu vermehrten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und u.a. zu gesteigerter Sturzneigung, Krankenhauseinweisungen und möglicherweise sogar zu erhöhter Sterblichkeit [8].

Im Jahr 2021 wurden sowohl eine „Hausärztliche Leitlinie“ mit Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten [9][10] als auch ein „Deprescribing“-Leitfaden der COFRAIL-Forschungsgruppe publiziert. Sie sollen eine Orientierung geben für das Absetzen („Deprescribing“) von Medikamenten bei geriatrischen Patienten mit Multimedikation und geriatrischem „Frailty“-Syndrom (Gebrechlichkeit), das vor allem, aber nicht ausschließlich bei älteren Patienten auftritt. Der für die ärztliche Praxis sehr informative Leitfaden weist ausdrücklich darauf hin, dass das Wissen zur Wirksamkeit und Sicherheit neuer Arzneimittel bei älteren Patienten oft begrenzt ist, weil sie von klinischen Studien meist ausgeschlossen werden. Andererseits sind ältere Patienten im Alltag aber häufig von UAW betroffen und empfinden die Einnahme einer größeren Zahl von Arzneimitteln oft als Belastung [10].

Hinsichtlich des praktischen Vorgehens bei Multimedikation wird im „Deprescribing“-Leitfaden empfohlen, zunächst die Medikation bei Patienten mit „Frailty“-Syndrom dahingehend zu überprüfen, welche Arzneimittel potenziell für das Absetzen in Frage kommen und hierfür gezielte Hinweise im Leitfaden zu nutzen [10]. Gemeinsam mit dem Patienten und ihren Angehörigen sollte dann ein Medikations-Check durchgeführt werden, um den Medikationsplan zu aktualisieren und mögliche Probleme aufzudecken bei Anwendung der Medikamente (z.B. Besorgen, Sortieren, Einnehmen) und dem hierfür meist notwendigen Unterstützungsbedarf. Darüber hinaus sollten die Verträglichkeit bzw. mögliche Nebenwirkungen der eingenommenen Medikamente abgefragt, denkbare Interaktionen evaluiert und die Therapieziele der medikamentösen Behandlung (z.B. Linderung von Symptomen vs. Prävention) gemeinsam festgelegt werden. Im Anhang des Leitfadens finden die Leser u.a. Algorithmen für das Absetzen der Medikation bei verschiedenen Indikationen (u.a. Diabetes mellitus, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Osteoporose, Schlafstörungen), Hinweise zur Verbesserung der Adhärenz beim Einnehmen der verschriebenen Arzneimittel, einen Link zur Priscus-Liste [11] sowie zur Liste mit anticholinergen und sedativen Wirkstoffen für die Berechnung des „Drug-Burden“-Index in Deutschland [12] und eine Zusammenfassung von Leitlinien ausgewählter Indikationen.

Das aus öffentlichen Geldern des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (GB-A) finanzierte und 2021 abgeschlossene Versorgungsforschungsprojekt COFRAIL widmete sich vor allem den Bedürfnissen älterer, in eigener Wohnung lebender Patienten, die gebrechlich und zunehmend schwächer geworden sind.

Aktuell wird in der Zeitschrift „Therapeutic Advances in Drug Safety“ ein strukturiertes Manual vorgestellt, welches – basierend auf den komplexen Interventionen des COFRAIL-Leitfadens – künftig insbesondere Hausärzte und Allgemeinmediziner unterstützen soll bei der Auswahl der Medikation für ihre älteren, häufig gebrechlichen Patienten [12].

In der Publikation werden zunächst die verwendeten Methoden sowie die berücksichtigte Population dargestellt: Patienten im Alter > 70 Jahre mit erhöhter Gebrechlichkeit, die noch zu Hause leben und mindestens 5 unterschiedliche Arzneimittel täglich einnehmen.

Weiterhin wurde die bisher vorliegende Evidenz für das “Deprescribing“ für 13, bei älteren Patienten besonders relevante Indikationen anhand einer systematischen Literaturrecherche bewertet und schließlich für 11 Indikationen (s. Tab. 1 in [12]) nach sog. Familienkonferenzen („pilot family conferences“; [13]) die finale Version des Manuals erstellt. Wichtiges Ziel der Familienkonferenzen ist es, dass Hausärzte gemeinsam mit Patienten und ihren Angehörigen besprechen, welche Behandlungsziele mit welchen Mitteln verfolgt werden sollen, um abschließend einen gemeinsamen Beschluss darüber zu fassen, welche medikamentösen Therapien weitergeführt oder evtl. nicht weitergeführt werden sollen. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Priorisierung der Arzneimitteltherapie gelegt. Beabsichtigt ist jetzt, die Verwendbarkeit und die Effekte dieses Manuals zusammen mit den Familienkonferenzen bei gebrechlichen älteren Patienten (> 70 Jahre) weiter zu analysieren, um mögliche Arzneimittel für ein „Deprescribing“ im Rahmen des COFRAIL-Versorgungsforschungsprojekts zu identifizieren. Im Rahmen der bisherigen Untersuchungen wurden vergleichbare Arzneimittel bzw. Wirkstoffklassen wie in einer Publikation von Farrell et al. [14] identifiziert, bei denen ein „Deprescribing“ hohe Priorität besitzt.

Für ein bei dem Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) aktuell eingereichtes Projekt mit dem Titel „COFRAIL – Familienkonferenzen bei Frailty: Erhöhung der Patientensicherheit durch gemeinsame Priorisierung“ wurde kürzlich keine Empfehlung ausgesprochen [15]. Als Gründe hierfür wurden u.a. angegeben, dass die Analysen in einer Cluster-randomisierten, kontrollierten Studie im hausärztlichen Setting keine Reduktion der Hospitalisierungsrate in der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe ergeben hatten. Außerdem wurde anhand der pharmakologischen Analyse in der Interventionsgruppe zwar nach 6 Monaten eine Reduktion der eingenommenen und potenziell inadäquaten Medikamente nachgewiesen, doch war nach 12 Monaten dieser Effekt statistisch nicht mehr signifikant ([15], vgl. [16]). Darüber hinaus fanden sich bei sekundären Endpunkten des geriatrischen Assessments (u.a. Gewichtsverlauf, Sturzhäufigkeit, körperliche Schwäche) sowie für die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die Inanspruchnahme medizinischer Notfallbehandlungen keine signifikanten Interventionseffekte. Solche Nachweise gelten jedoch generell als extrem schwierig, v.a. weil die Interventionen komplex und selten nachhaltig sind [17].

Unabhängig von diesem negativen Bescheid des G-BA ist das oben vorgestellte „Deprescribing“-Manual zweifellos ein wichtiges Hilfsmittel, um künftig komplexe Medikationspläne (vor allem bei älteren Patienten) zu überprüfen, die Kommunikation zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen in dieser Situation zu verbessern und speziell in dieser Altersgruppe wenig oder nicht geeignete Arzneimittel nicht mehr zu verordnen bzw. frühzeitig abzusetzen. Die im o.g. Manual ausgesprochenen Empfehlungen der COFRAIL-Arbeitsgruppe hinsichtlich eines strukturierten Prozesses zum „Deprescribing“ können zu einer deutlichen Reduktion der Multimedikation bei gebrechlichen älteren Patienten (≥ 70 Jahre) führen [12]. Ergebnisse des o.g. Versorgungsforschungsprojekts wurden Ende 2021 auf dem 28. „Annual Meeting of the German Drug Utilisation Group (GAA)“ präsentiert [18].

Literatur

  1. AMB 2018, 52, 23. (Link zur Quelle)
  2. AMB 2018, 52, 77. (Link zur Quelle)
  3. AMB 2018, 52, 88DB01. (Link zur Quelle)
  4. AMB 2020, 54, 57. (Link zur Quelle)
  5. AMB 2020, 54, 68DB01. (Link zur Quelle)
  6. AMB 2020, 54, 91. (Link zur Quelle)
  7. AMB 2021, 55, 69. (Link zur Quelle)
  8. Holt S., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2010, 107, 543. (Link zur Quelle)
  9. Hausärztliche (S3-)Leitlinie: Multimedikation: (Link zur Quelle)
  10. https://www.cofrail.com/_files/ugd/a075b0_fa7babd6780b4e8a8c4307c565716e6c.pdf (Link zur Quelle)
  11. https://www.aok.de/gp/fileadmin/user_upload/Arzt_Praxis/Wirtschaftliche Verordnung/priscusliste_gpp.pdf (Link zur Quelle)
  12. Mann, N.-K., et al. (COFRAIL = Family COnferences and shared prioritisation to improve patient safety in the FRAIL elderly): Ther. Adv. Drug Saf. 2022, 13, 1. (Link zur Quelle)
  13. https://www.uni-wh.de/detailseiten/news/mehr-mitbestimmung-beim-absetzen-von-medikamenten-bei-aelteren-familienkonferenzen-koennen-der-weg-s/ (Link zur Quelle)
  14. Farrell, B., und Mangin, D.: Am. Fam. Physician 2019, 99, 7. (Link zur Quelle)
  15. https://innovationsfonds.g-ba.de/projekte/versorgungsforschung/cofrail-familienkonferenzen-bei-frailty-erhoehung-der-patientensicherheit-durch-gemeinsame-priorisierung.170 (Link zur Quelle)
  16. Rudolf, H., et al. (RIME = Reduction of potentially Inappropriate Medication in the Elderly): Dtsch. Arztebl. Int. 2021, 118, 875. (Link zur Quelle)
  17. Johansson, T., et al.: Br. J. Clin. Pharmacol. 2016, 82, 532 (Link zur Quelle)
  18. https://www.egms.de/static/en/meetings/gaa2021/21gaa01.shtml (Link zur Quelle)