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Kein Zusatznutzen für Onasemnogen-Abeparvovec bei spinaler Muskelatrophie − anwendungsbegleitende Datenerhebung geplant

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine neurodegenerative Erkrankung mit monogener Ursache, die zu einem irreversiblen Verlust von Motoneuronen führt ([1], vgl. [2]). Sie ist mit einer Inzidenz von ca. 1:10.000 die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Säuglingen. Bei der SMA führen Mutationen im „Survival-Motor-Neuron-  1-Gen“ (SMN1) zu einem Mangel an SMN-Protein, das für die Motoneurone und die Bildung neuromuskulärer Verbindungen essenziell ist. Durch den Mangel an SMN-Protein kommt es zu einer irreversiblen Degeneration der Motoneurone in Hirnstamm und Rückenmark sowie zu einer Muskelatrophie. Ein zweites Gen, SMN2, ist für die Bildung einer geringen Menge von SMN-Protein verantwortlich. Menschen haben zwischen einer und sechs Kopien dieses Gens, und je mehr Kopien im individuellen Genom vorliegen, desto besser kann SMN2 den Ausfall von SMN1 kompensieren, sodass die Betroffenen später und weniger schwer erkranken. Je nach klinischem Verlauf werden vier Typen der SMA unterschieden. Bei der schwersten Form, der SMA Typ I, beginnen die Beschwerden bereits in den ersten Lebenswochen. Die Säuglinge lernen auch nicht allein zu sitzen oder zu krabbeln und müssen später oft beatmet werden. Unbehandelt sterben diese Kinder im Alter von ein bis zwei Jahren. Andere Formen der SMA beginnen nach dem 6. Lebensmonat. Je später die SMA zu Beschwerden führt, umso höher ist die Lebenserwartung [3].

Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) ist ein Gentherapeutikum, das funktionstüchtige Kopien des SMN1-Gens in die Motoneurone bringen soll, um so die SMA ursächlich zu behandeln ([1], vgl. [4]). Mithilfe eines biotechnologisch modifizierten und nicht replizierenden viralen Vektors wird das funktionsfähige humane SMN-Gen in die Zellkerne der Patienten eingeschleust, damit ausreichend funktionsfähiges SMN-Protein gebildet werden kann. Onasemnogen-Abeparvovec ist bedingt zugelassen zur Behandlung bestimmter Formen der SMA bei Kindern unter zwei Jahren. Es wird einmalig intravenös injiziert. Die Kosten für die Anwendung liegen bei 2,3 Mill. € [5]. Onasemnogen-Abeparvovec ist ein Arzneimittel zur Behandlung seltener Krankheiten (Orphan drug), dessen Umsatz in Deutschland nach nur 6 Monaten die festgesetzte Schwelle von 50 Mill. € überschritten hat, so dass nun eine reguläre Nutzenbewertung durchgeführt wurde.

Als zweckmäßige Vergleichstherapie von Onasemnogen-Abeparvovec legte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Nusinersen (Spinraza®) fest. Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid, das ein alternatives Spleißen des SMN2-Gens so beeinflusst, dass es funktionell wie das SMN1-Gen wirkt und ein funktionstüchtiges Protein bilden kann. Nusinersen wird intrathekal mittels Lumbalpunktion verabreicht. Es werden vier Dosen zur Aufsättigung in den ersten beiden Monaten benötigt, anschließend wird eine Erhaltungsdosis alle vier Monate angewendet. Die Jahrestherapiekosten für Nusinersen liegen bei 570.000 € im ersten Jahr und bei 260.000 € in den Folgejahren [5]. Weil der pharmazeutische Unternehmer für den Vergleich von Onasemnogen-Abeparvovec mit Nusinersen keine verwertbaren Daten eingereicht hat, hat der G-BA keinen Zusatznutzen für Onasemnogen-Abeparvovec festgestellt.

Der Vorsitzende des G-BA, Prof. Josef Hecken, weist daraufhin, dass der Beschluss zu Onasemnogen-Abeparvovec mit großer Wahrscheinlichkeit nur vorläufig ist und der G-BA voraussichtlich spätestens ab Sommer 2027 erneut über Onasemnogen-Abeparvovec beraten wird [6]. Erwartet werden bis dahin Ergebnisse aus einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung. Anwendungsbegleitende Datenerhebungen wurden vom Gesetzgeber neu eingeführt. Es handelt sich um Untersuchungen, die der G-BA zum Zweck der Nutzenbewertung vom pharmazeutischen Unternehmer fordern kann, und zwar bei Arzneimitteln mit einer bedingten Zulassung, mit einer Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen und bei Arzneimitteln, die zur Behandlung eines seltenen Leidens zugelassen sind [7]. Onasemnogen-Abeparvovec ist das erste Arzneimittel, für das eine anwendungsbegleitende Datenerhebung festgelegt wurde. Es ist geplant, mit Hilfe von Indikationsregistern möglichst 500 Kinder mit präsymptomatischer spinaler Muskelatrophie und mit spinaler Muskelatrophie Typ 1 und 2 in die Datenerhebung einzuschließen. Die Therapie mit Onasemnogen-Abeparvovec soll dabei mit der Behandlung mit Nusinersen verglichen werden. Bei der Auswertung soll ein Schwerpunkt auf Todesfälle, Krankheitsverläufe einschließlich Komplikationen sowie Nebenwirkungen gelegt werden. Die Registerstudie startete im Februar 2022.

Eine anwendungsbegleitende Datenerhebung ist nicht mit einer Anwendungsbeobachtung (AWB) gleichzusetzen [7]. Bei einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung wird vergleichende Evidenz für die Nutzenbewertung erhoben, um eine valide Quantifizierung des Zusatznutzens zu erreichen. Festgelegt werden auch gegebenenfalls notwendige anwendungsbegleitende Interventionen, wie beispielsweise bestimmte diagnostische Maßnahmen. Bei einer AWB sollen dagegen Daten nur durch Beobachtung der Anwendung erhoben werden. Die Behandlung folgt nicht einem Prüfplan, sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis. Hinter AWB verbergen sich oft Marketingmaßnahmen mit geringem wissenschaftlichem Anspruch ([8], vgl. [9]). Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) rät Ärztinnen und Ärzten deshalb, nicht an AWB teilzunehmen. Die Einführung anwendungsbegleitender Datenerhebungen ist dagegen eine sinnvolle Entwicklung; eine Teilnahme wird von der AkdÄ ausdrücklich empfohlen.

Literatur

  1. Kirschner, J., et. al.: Eur. J. Paediatr. Neurol. 2020, 28, 38. (Link zur Quelle)
  2. AMB 2022, 56, 15. (Link zur Quelle)
  3. https://www.gesundheitsinformation.de/onasemnogen-abeparvovec-zolgensma-bei-spinaler-muskelatrophie.html (Link zur Quelle)
  4. AMB 2019, 53, 46. (Link zur Quelle)
  5. https://www.g-ba.de/downloads/39-261-5111/2021-11-04_AM-RL-XII_Onasemnogen-Abeparvovec_D-679.pdf (Link zur Quelle)
  6. https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/995/ (Link zur Quelle)
  7. https://www.aerzteblatt.de/archiv/219443/Arzneimittel-Sinnvolle-Studien-nach-der-Zulassung (Link zur Quelle)
  8. https://www.aerzteblatt.de/archiv/214662/Anwendungsbeobachtungen-Erkenntnisgewinn-ist-gering (Link zur Quelle)
  9. AMB 2020, 54, 83. AMB 2017, 51, 48DB01. AMB 2016, 50, 17. (Link zur Quelle)