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Anwendungsbeobachtungen beeinflussen das Verordnungsverhalten

Anwendungsbeobachtungen (AWB) sind eine Untergruppe der nicht-interventionellen Studien (NIS), die nach der Zulassung von Arzneimitteln mit regulärer Handelsware, in üblicher Dosierung und innerhalb der zugelassenen Indikation durchgeführt werden (vgl. 1). Pharmazeutische Unternehmer (pU) beschreiben AWB als „unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung“, in denen unter Alltagsbedingungen wichtige Informationen zu einem Arzneimittel gewonnen werden (2). Untersuchungen zeigen jedoch, dass von pU initiierte AWB nicht zu einem relevanten Erkenntnisgewinn führen und nur selten veröffentlicht werden (vgl. 1). Sie legen nahe, dass es bei AWB meist allein darum geht, die Verkaufszahlen des „untersuchten“ Arzneimittels zu steigern. Diese Vermutung wird nun durch eine Studie aus Deutschland gestärkt, die erstmals zeigt, dass AWB tatsächlich zu höheren Verordnungsvolumina der verwendeten Arzneimittel führen (3).

In der retrospektiven zweiarmigen Kohortenstudie verglichen die Autoren das Verordnungsverhalten von 2.354 Ärzten, die an mindestens einer von 24 AWB teilgenommen hatten, mit dem Verordnungsverhalten von 4.642 Ärzten als Kontrollen, die an keiner AWB teilgenommen hatten. Jedem Arzt, der an einer AWB teilgenommen hatte, wurden als Kontrollen zwei Ärzte zugeordnet, die an keiner AWB teilgenommen hatten, ihm jedoch ähnelten hinsichtlich des Gesamtvolumens ihrer Verordnungen und der Zahl der Verordnungen des in der AWB untersuchten Arzneimittels im Jahr vor der AWB. Wenn Ärzte an mehreren AWB teilgenommen hatten, wurden ihnen verschiedene, jeweils passende Ärzte zugeordnet. Daten zu den AWB und zum arztindividuellen Verordnungsverhalten wurden durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) zur Verfügung gestellt. Primärer Endpunkt war die relative Rate der Verordnungen des in der AWB untersuchten Arzneimittels durch die teilnehmenden Ärzte im Vergleich zu den Kontrollen während der AWB und im darauffolgenden Jahr. Zu den sekundären Endpunkten gehörte der Anteil der Verordnungen des untersuchten Arzneimittels im Vergleich zu anderen Arzneimitteln für dieselbe Indikation und der durch diese Verordnungen erzielte Umsatz. Die in den 24 AWB untersuchten Arzneimittel gehörten am häufigsten zur Gruppe der antineoplastischen und immunmodulierenden Wirkstoffe (7/24, 29%) sowie zu den Wirkstoffen für das Nervensystem (4/24, 17%).

Ärzte, die an einer AWB teilnahmen, verordneten während und im Jahr nach der AWB 6-8% mehr von dem untersuchten Arzneimittel als vergleichbare Ärzte, die an keiner AWB teilnahmen. Außerdem verordneten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit eines der untersuchten Arzneimittel anstatt anderer Arzneimittel für dieselbe Indikation (Odds Ratio: 1,04; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,03-1,05). Der erzielte Umsatz für pU war bei diesen Ärzten größer als bei den Kontrollen (durchschnittlich 227 € vs. 153 €). Der Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant (p = 0,18).

In einer aktuellen Stellungnahme rät die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Kolleginnen und Kollegen von der Teilnahme an AWB ab (4). Als Gründe führt sie an, dass AWB die relevanten Fragen nicht beantworten können, die nach der Zulassung eines Arzneimittels offenbleiben, beispielsweise zum Nutzen und Schaden im Vergleich mit verschiedenen anderen Arzneimitteln oder zur Arzneimittelsicherheit. In der Regel beantworteten AWB aber auch nicht die Fragen, die sie beantworten könnten, zum Beispiel zur Adhärenz der Patienten oder zur Durchführung notwendiger Kontrolluntersuchungen.

In einer Kleinen Anfrage zu Zuwendungen von pU an Ärztinnen und Ärzte fragt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag die Bundesregierung, welche Maßnahmen sie wegen der Beeinflussung des Verordnungsverhaltens durch AWB ergreifen will (5). Die Fraktion thematisiert in der Kleinen Anfrage auch die mangelnde Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen pU und Ärzteschaft, das Risiko einer verzerrten Informationsvermittlung durch industriegesponserte Fortbildungen und die fehlenden Regelungen zu Interessenkonflikten an Fakultäten. Auf die detaillierten Fragen zu den verschiedenen Themenkomplexen antwortet die Bundesregierung jeweils, dass sie dazu keine Kenntnisse habe, nicht zuständig sei oder keinen Änderungsbedarf sehe.

Fazit: Eine Untersuchung zeigt erstmals, dass Ärzte in Deutschland, die an einer Anwendungsbeobachtung (AWB) teilnehmen, das untersuchte Arzneimittel häufiger verordnen als vergleichbare Kollegen. Die Ergebnisse stellen den nicht-interventionellen Charakter von AWB in Frage, denn die Verordnungen werden beeinflusst. Da in AWB meist hochpreisige Arzneimittel untersucht werden, erhöhen sich die Arzneimittelausgaben. Im Unterschied zur Bundesregierung halten wir eine strengere Regulierung von nicht-interventionellen Studien, die von pharmazeutischen Unternehmern initiiert werden, für dringend erforderlich.

Literatur

  1. AMB 2019, 53, 88DB01 Link zur Quelle . AMB 2017, 51, 48DB01 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 17. Link zur Quelle
  2. https://www.vfa.de/print/de/patienten/ artikel-patienten/anwendungsbeobachtungen -nach-strengen-regeln.html Link zur Quelle
  3. Koch, C., et al.: PLOS Medicine 2020, 17, e1003151. Link zur Quelle
  4. https://www.aerzteblatt.de/ archiv/214662/Anwendungsbeobachtungen -Erkenntnisgewinn-ist-gering Link zur Quelle
  5. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/218/1921827.pdf Link zur Quelle