Statine, Betablocker, Analgetika, Anti-Parkinson-Mittel und viele weitere Arzneimittel verursachen häufig Nebenwirkungen, die pharmakologisch nicht zu erklären sind. Solche unspezifischen unerwünschten Ereignisse (UAE) können zufällig oder als Nocebo-Effekt auftreten. Als Ursachen der Nocebo-Effekte werden Ängste vor einer möglichen Nebenwirkung (Erwartung) sowie negative Erfahrungen mit Arzneimitteln in der Vergangenheit (Konditionierung) genannt (vgl. [1]).
Nach einer Sekundäranalyse von 231 plazebokontrollierten Arzneimittelstudien waren 38-100% der dort berichteten UAE unspezifisch und zumindest teilweise als Nocebo-Reaktion zu bewerten ([2]). Bei Statinen wird beispielsweise davon ausgegangen, dass 90% der im Alltag berichteten Muskelbeschwerden auf Nocebo-Effekte zurückzuführen sind ([1]). In Anbetracht dieser Zahlen und der Beobachtung, dass die Medikamente in Folge oft unnötigerweise abgesetzt werden, ist es erstaunlich, dass nur wenig zu den Ursachen und zur Überwindung von Nocebo-Effekten geforscht wird. Bei „Clinical Trials gov.“ sind unter dem Suchbegriff „Nocebo“ gerade einmal 26 Studien registriert, wovon nur 11 abgeschlossen sind ([3]).
Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin kam jüngst ein lesenswerter Beitrag zu dem Thema ([4]). Die beiden Autoren aus Witten/Herdecke und Göttingen weisen darauf hin, dass bestimmte Patientencharakteristika bzw. Persönlichkeitstypen das Auftreten einer Nocebo-Reaktion begünstigen. Dazu zählen: fehlender Optimismus, eine hohe Eigenschafts- und/oder Zustandsangst sowie die vermehrte Empfänglichkeit für suggestiv übermittelte Informationen. Weitere Merkmale wie Resilienz, Altruismus, Geradlinigkeit und Feindseligkeit beeinflussen zwar nachweislich das Auftreten von Plazebo-Effekten; ob dies auch für den Nocebo-Effekt gilt, sei nicht ausreichend untersucht.
Lösungsansätze: Wenn der Nocebo-Effekt durch Erwartung und Konditionierung ausgelöst wird, sollte hier auch der Schlüssel liegen, ihn zu vermeiden bzw. ihn zu überwinden.
Als wichtigster Ansatz, eine Nocebo-Reaktion zu vermeiden, gilt eine antizipative Kommunikation. Mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung müssen im Rahmen der Aufklärungspflicht selbstverständlich benannt werden. Dabei sollte jedoch eine neutrale oder positive Formulierung gewählt werden. Statt der Information: „Es kann Übelkeit auftreten“, sollte besser formuliert werden: „Jede 10. Person empfindet Übelkeit“ oder „9 von 10 Personen empfinden keine Übelkeit“. Der Grundsatz eines solchen „positiven Framings“ sollte auch in den schriftlichen Aufklärungsdokumenten berücksichtigt werden, wie beispielsweise in den Packungsbeilagen von Medikamenten.
Experten raten auch, die Patienten darüber aufzuklären, dass es den Nocebo-Effekt gibt und welche Mechanismen ihm zugrunde liegen. Dieses Wissen könne dabei helfen ihn zu verhindern ([5]). Studien zu diesem Ansatz haben wir nicht gefunden; sie wären aber sicher einfach in ein Studienprotokoll mit aufzunehmen. Auch sollten Patienten vor übertriebenen Risikodarstellungen aus den (sozialen) Medien und anderen Quellen gewarnt werden, wie beispielsweise wohlmeinende, aber möglicherweise nicht kompetente Bekannte. Liegen entsprechende Verunsicherungen vor, sollten diese mit ihren behandelnden Ärzten besprochen werden. Hierzu bedarf es einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung mit entsprechender Empathie vonseiten des Arztes und ausreichend Zeit für die Arzt-Patienten-Kommunikation. Dazu gehört, die vorgebrachten Bedenken und Beschwerden ernst zu nehmen sowie darauf angemessen und fürsorglich im Sinne des Behandlungsziels zu reagieren. Reaktionen könnten eine zeitweise Reduktion der Dosis oder auch eine Pause des Medikaments sein, ggf. mit nachfolgender Reexposition, um den Verdacht der Nebenwirkung zu entkräften oder zu bestätigen.
Dass auch eine Gegenkonditionierung hilfreich sein kann, wurde jüngst in einer kleinen randomisierten kontrollierten Studie mit 110 gesunden Freiwilligen an der Universität Leiden untersucht ([6]). Bei diesen wurde ein Gerät angewendet, welches auf die Daumennägel einen definierten Druck ausübt. Im ersten Teil des Experiments wurden nach einem 3:1-Schlüssel 2 Gruppen gebildet: Gruppe 1 erhielt eine sog. „Nocebo-Konditionierung“. Sie erhielten die Information: „Wenn an dem Gerät ein Licht angeht, werden sie einen stärkeren Druck spüren“. Gruppe 2 (Kontrollgruppe) erhielt eine sog. „Schein-Konditionierung“. Sie erhielten die Information: „Es werden verschiedene Stimuli mit unterschiedlicher Intensität abgegeben. Der Druck hängt aber nicht davon ab, ob an dem Gerät ein Licht angeht oder nicht“. Die nachfolgend ausgeübten Drucksequenzen mit und ohne Licht unterschieden sich in beiden Gruppen nicht. Das Schmerzempfinden war jedoch unterschiedlich: Die Probanden in Gruppe 1 empfanden den Druck im Mittel als stärker als die in Gruppe 2, besonders wenn das Licht angeschaltet war.
Im zweiten Teil wurde das Experiment wiederholt. Jetzt wurden 4 Gruppen gebildet: aus Gruppe 1 die Subgruppe „Gegenkonditionierung“, der nun gesagt wurde: „Wenn das Licht am Gerät angeht, wird weniger Druck ausgeübt als wenn es ausgeschaltet ist“; die Gruppe „Löschung“, der gesagt wurde: „Der Druck wird nun nicht mehr höher sein, wenn das Licht am Gerät leuchtet“; und die Gruppe „Nocebo-Konditionierung“, der gesagt wurde: „Erneut werden sie mehr Druck verspüren, wenn an dem Gerät das Licht an ist“. Die Kontrollgruppe wurde als „Plazebo-Konditionierung“ weitergeführt. Ihr wurde gesagt: „Wenn das Licht am Gerät angeht, werden Sie nun weniger Druck spüren als wenn es aus ist“.
Das Ergebnis dieser zweiten Phase des Experimentes zeigte, dass durch die „Gegenkonditionierung“ der vorbestehende Nocebo-Effekt deutlicher verringert wurde als durch die „Löschung“. Die Druckwahrnehmung nach Gegenkonditionierung lag nun im Bereich der Kontrollgruppe.
Die Autoren schlussfolgern, dass – zumindest in der Schmerzwahrnehmung – durch Gegenkonditionierung ein Nocebo-Effekt moduliert werden kann.