Jede orale Antikoagulation (OAK) bei älteren, gebrechlichen Patienten bedarf einer sorgfältigen Abwägung von Nutzen und Risiko, besonders wenn ein erhöhtes Sturzrisiko besteht. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie empfiehlt beispielsweise für die Sicherheit einer Therapie mit OAK, bei „extremer Gebrechlichkeit ± übermäßigem Sturzrisiko“ eine Überprüfung und Modifikation von Wohnverhältnissen und Lebensumständen vorzunehmen ([1]). Zum Blutungsrisiko unter OAK gibt es bei älteren und gebrechlichen Personen jedoch kaum Daten, denn sie werden in randomisierten kontrollierten Studien (RCT) meist ausgeschlossen.
Im Alter nimmt die Inzidenz von Vorhofflimmern (Vofli; [2], [3]) und das Risiko für Schlaganfälle zu, aber auch für Blutungen unter OAK. Besonders gefürchtet sind intrazerebrale Blutungen (IZB). Faktoren, die das Risiko für IZB beeinflussen sind Alter, eine Vorgeschichte mit Schlaganfall oder Blutung, arterielle Hypertonie, Niereninsuffizienz, Diabetes mellitus und Demenz ([2], [4]). Ob die Gebrechlichkeit per se das Blutungsrisiko steigert und welche Faktoren (z.B. Medikamente) dieses beeinflussen, ist unklar. Jedenfalls sind Demenz, Gebrechlichkeit und Diabetes nicht im HAS-BLED-Score erfasst.
In einer aktuellen, industrieunabhängigen Register-Studie ([5]) sollte evaluiert werden, wie oft gebrechliche alte Menschen mit Sturzneigung eine Blutungskomplikation erleiden und ob es hierfür Risikofaktoren gibt, z.B. eine gerinnungshemmende Therapie.
Studiendesign: Es wurden alle Daten des Sturz- und Synkopen-Registers der neurochirurgisch spezialisierten Noordwest Ziekenhuisgroep Klinik in Alkmaar, Niederlande, ausgewertet. Dies beinhaltet Informationen zu Patienten mit rezidivierenden Stürzen aus ungeklärten Ursachen, die systematisch medizinisch, neurologisch, psychiatrisch und kognitiv abgeklärt wurden.
Für die Studie wurden aus dem Register die Daten von Patienten ≥ 65 Jahre zwischen 2011-2020 extrahiert und hinsichtlich Inzidenz von IZB oder extrakraniellen Blutungen, Letalität sowie einer Therapie mit einem Gerinnungshemmer (Vitamin-K-Antagonisten = VKA oder Direkte orale Antikoagulanzien = DOAK oder Thrombozytenaggregationshemmern = TAH) ausgewertet. Es musste außerdem ein aussagekräftiges MRT des Gehirns vorliegen zur Differenzierung von Mikroblutungen, lakunären Infarkten, kortikaler und Hippocampus-Atrophie sowie Hyperintensitäten in der weißen Hirnsubstanz (Fazekas-Skala; [6]). Die Gebrechlichkeit wurde anhand des „Frailty Index“ ([7]) eingestuft, in dem 22 somatische, 8 funktionelle und 4 kognitive Kriterien bewertet werden. Der „Frailty Index“ umfasst 0-1 Punkte; eine Gebrechlichkeit besteht bei ≥ 0,18 und eine schwere Gebrechlichkeit bei ≥ 0,24.
Zu den Studienendpunkten (Indexereignissen) zählten:
- Ein „Major bleeding“(MB)-Ereignis, definiert als intrazerebrale, intraspinale, intraokulare, perikardiale, intraartikuläre, retroperitoneale oder intramuskuläre Blutung mit Kompartment-Syndrom, sowie Blutungen mit einem Abfall des Hämoglobins um mindestens 2 g/dl (1,24 mmol/l) oder eine Blutung mit Todesfolge;
- Eine IZB, definiert als alle subduralen, epiduralen, subarachnoidalen und Blutungen in die Hirnsubstanz;
- Tod.
Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 7 Jahre (Spanne: 1 Monat bis 8,5 Jahre).
Ergebnisse: Insgesamt erfüllten 479 Patienten die Einschlusskriterien, von denen 91% mehrfach gestürzt waren. Sie waren im Median 80 Jahre alt, und 68% waren Frauen. Als gebrechlich wurden 77% der Patienten eingestuft (mittlerer „Frailty Index“: 0,22) und etwa die Hälfte als schwer gebrechlich. Die Zahl der Komorbiditäten war im Median 9. Die häufigsten Erkrankungen waren arterielle Hypertonie (65%), Gangstörungen (52%), postprandiale und orthostatische Hypotonie (29% bzw. 33%), Diabetes mellitus (22%) und Vofli (21%). Bei Patienten mit Vofli betrug der mediane CHA2DS2-VASc-Score (zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos; vgl. [8]) 4 ± 1,4 und der mediane HAS-BLED-Score (zur Abschätzung des Blutungsrisikos) 3 ± 1,1, was einer jährlichen Blutungswahrscheinlichkeit von 1,9-3,7% entspricht.
Insgesamt 248 Patienten nahmen zum Zeitpunkt des Indexereignisses Gerinnungshemmer ein: 166 (34%) TAH und 81 (17%) OAK. Die mittlere Behandlungszeit mit OAK betrug 7 Jahre (7 Monate bis 21 Jahre), entsprechend 603 Behandlungsjahren. Nahezu alle Patienten mit OAK waren auf einen VKA eingestellt.
Im Zeitraum der Nachbeobachtung waren 138 Patienten (29%) gestorben. Für diese Todesfälle waren nicht Blutungskomplikationen verantwortlich, sondern, dem hohen Alter entsprechend, Infektionen, maligne Erkrankungen, Herzinsuffizienz (Odds Ratio = OR: 3,0) und kardiovaskuläre Erkrankungen, besonders bei höherem Grad der Gebrechlichkeit (OR: 4,0).
Es gab 33 MB, davon 16 IZB, 3 traumatische und 14 gastrointestinale Blutungen. Gebrechliche und sehr gebrechliche Patienten hatten nicht häufiger ein Major-Blutungsereignis oder eine IZB als Nichtgebrechliche. Keine einzige IZB wurde auf einen Sturz zurückgeführt. Es gab auch keinen Unterschied bzgl. intrazerebraler Mikroblutungen, lakunärer Infarkte oder dem Fazekas-Score.
Von allen MB trat fast die Hälfte unter TAH auf und ein Viertel unter OAK. Für OAK entspricht das einer Ereignisrate von 1,32 MB und 0,33 IZB pro 100 Behandlungsjahre. Die adjustierten „Odds Ratios“ bestätigen jedoch nur ein signifikant höheres Risiko für extrakranielle Blutungen durch beide Gerinnungshemmer: aOR für TAH: 6,9 (CI: 1,2-38,3) und für OAK: 9,8 (CI: 1,7-56,1), nicht jedoch für IZB: aOR: 0,93 (CI: 0,26-3,34) bzw. 0,63 (CI: 0,12-3,26).
Als statistisch signifikanter Risikofaktor für eine IZB erwies sich nur eine Dichtezunahme in der weißen Substanz im MRT: aOR: 3,75 (CI: 1,03-13,67). Weder eine zuvor bekannte Demenz, noch nachweisbare kognitive Defizite im „Mini Mental State Examination“-Test = MMSE ([9]) oder im komplexeren MoCA-Test ([10]), noch ein höherer „Frailty Index“ war mit vermehrten Blutungskomplikationen assoziiert.
Diskussion: Blutungsereignisse waren in dieser Analyse insgesamt seltener (1,32/100 Patientenjahre für MB und 0,33 für IZB) als nach dem HAS-BLED-Score zu erwarten war und auch seltener als in einigen kontrollierten Studien mit Gerinnungshemmern: AMADEUS-Studie: 2,6/100 Patientenjahre (VKA; [11]); RE-LY-Studie: 3,4 ([12]), ARISTOTLE-Studie: 3,1 ([13]), ENGAGE-AF-TIMI-Studie, 3,4 ([14]) und ROCKET-AF-Studie: 3,4 ([15]). Das ist erwähnenswert, da der HAS-BLED-Score mit 2,8 in all diesen Studien etwa gleich war, die Patienten älter waren und die Nachbeobachtung mit durchschnittlich 7 (maximal fast 9) Jahren wesentlich länger war (7 vs. 1-2,8 Jahre).
Bei Patienten mit einer Langzeit-OAK > 10 Jahre (ca. 30%) waren sogar keine Blutungen aufgetreten. Offenbar findet über die Zeit also eine Selektion statt: Patienten mit primär höherem Blutungsrisiko erleiden diese Komplikation eher in der frühen Behandlungsphase. Andererseits starb auch knapp ein Drittel der Kohorte während der Nachbeobachtungszeit, was auch zu der unerwartet geringeren Blutungsrate beigetragen haben könnte.
Eine Entscheidung über den Beginn oder die Beendigung einer Therapie mit OAK sollte bei gebrechlichen, älteren Patienten mit Sturzneigung interdisziplinär und unter Berücksichtigung ihrer kognitiven Fähigkeiten erfolgen. Die Autoren geben zu bedenken, dass viele dieser Patienten mit Risiko für einen ischämischen Schlaganfall doch insgesamt von einer OAK profitieren könnten ([2], [4]).
Als Einschränkungen ihrer Studie nennen die Autoren das retrospektive Design, fehlende Reevaluierungen der Gebrechlichkeit und der funktionellen Defizite während oder am Ende der Nachbeobachtungszeit und die fehlenden Informationen zur Therapieadhärenz.