Wir hatten bereits 2015 in einem Hauptartikel mit dem Titel „Vor leeren Regalen – Ursachen von Lieferengpässen von Arzneimitteln und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung“ auf häufige Ursachen für Lieferengpässe und die hiervon vorwiegend betroffenen Arzneimittel hingewiesen sowie Maßnahmen besprochen, die Lieferengpässe künftig vermeiden sollten [1]. Die Zahl der Lieferengpässe bei Arzneimitteln in den letzten Jahren ist jedoch trotz verschiedener gesetzlicher Maßnahmen weiter angestiegen. So konnten beispielsweise die im Rahmen des „Faire-Kassenwettbewerb-Gesetzes“ 2020 beschlossenen Neuregelungen einen weiteren Anstieg der Lieferengpässe, mitunter auch bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln, nicht verhindern. In diesem Gesetz wurde u.a. beschlossen, dass Apotheker bei aufgrund eines Lieferengpasses nicht verfügbaren Rabattarzneimitteln auch nicht-rabattierte Arzneimittel abgeben dürfen, und für pharmazeutische Unternehmer sowie Großhändler wurden verschiedene Meldepflichten gegenüber dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingeführt [2]. Außerdem wurde den Bundesoberbehörden die Möglichkeit eingeräumt, für versorgungskritische Arzneimittel Vorgaben zur Lagerhaltung zu erteilen, sowie ein mit Experten besetzter Beirat beim BfArM etabliert, der die Versorgungslage mit Arzneimitteln künftig beobachten und bewerten sollte.
Diese Maßnahmen haben aber nicht verhindern können, dass im Januar 2023 in der Datenbank des BfArM bereits 391 und aktuell sogar 434 Lieferengpässe angegeben werden. Etwa ein Drittel dieser Lieferengpässe resultiert aus Problemen in der Herstellung (Produktion), wobei derzeit besonders patentfreie (generische) Arzneimittel betroffen sind [3]. Aus Sicht der Krankenhausapotheker in Deutschland bedeuten diese Arzneimittelengpässe verständlicherweise inzwischen einen „untragbaren Zustand“ [4].
Ursachen sowie Lösungsansätze wurden bereits 2020 in einem Buch unter dem Titel „Nicht lieferbar! Ausverkauf des Deutschen Arzneimittelmarktes“ ausführlich diskutiert und anhand konkreter Beispiele vorausgesagt, dass die bereits 2020 bekannten Gründe und Entwicklungen „den Rückschluss zulassen, dass sich die Situation zunehmend verschärfen wird“ [5]. Als Gründe für Lieferengpässe wurden in diesem Buch und verschiedenen anderen Publikationen vor allem genannt: Verteilungsprobleme, das von multinational agierenden Großkonzernen zum Zwecke der Ertragsoptimierung verfolgte strikte Preismanagement, die Störung empfindlicher Lieferketten sowie ein erhöhter Bedarf an Generika bzw. die mangelnde Flexibilität generischer Produktionsbetriebe. Hingewiesen wurde auch auf die Konsequenzen des Klimawandels am Beispiel einer Drosselung der Produktion am Hauptstandort von BASF in Ludwigshafen während des Jahrhundertsommers 2018 sowie der steigende Bedarf an Arzneimitteln in einer schnell alternden Bevölkerung [5].
Im Dezember 2021 ist dann im Auftrag der Europäischen Kommission von der „Technopolis Group“ unter dem Titel „Future-proofing pharmaceutical legislation – study on medicine shortages“ eine Studie erschienen, die ebenfalls auf den Mangel an Arzneimitteln als wachsendes Problem für viele Länder der Europäischen Union (EU) bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) hingewiesen hat und betonte, dass diese Engpässe die Qualität der Behandlung von Patienten gefährden und die Angehörigen der Gesundheitsberufe belasten würden, da sie regelmäßig alternative Behandlungen ermitteln und anbieten müssen. Basierend auf einer gründlichen Analyse der Ist-Situation wurden von Technopolis insgesamt 16 Empfehlungen zur Lösung dieses Problems benannt – von der EU-weiten und harmonisierten Definition des Begriffes „medicine shortages“ über eine einheitliche Gesetzgebung, die finanzielle Sanktionen bei nicht erfüllten Meldepflichten und/oder Bevorratungspflichten vorsieht bis hin zu Informationen hinsichtlich alternativ verfügbarer Arzneimittel in Registern zu Lieferengpässen [6].
Im Februar 2023 hat sich auch das Deutsche Ärzteblatt in seinem politischen Teil erneut mit diesem Thema unter dem Titel „Pharmastandort Deutschland – Zu teuer und zu billig“ beschäftigt und ein Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für ein Gesetz gegen Lieferengpässe vorgestellt [7].
Den Ursachen für Lieferengpässe widmet sich auch ein kürzlich publizierter “Lieferklima-Report“ [8] der Techniker Krankenkasse (TK). In diesem Report werden u.a. erwähnt: instabile, global verteilte und komplexe Lieferketten, fehlende ökonomische Anreize für robuste Lieferketten, geografische Konzentration von „Vorleistungen“ (s.u.) und unattraktive Bedingungen für Markteintritte von Herstellern. Der Report verweist auch auf die seit 2016 insgesamt fünfmal angepassten rechtlichen Rahmenbedingungen für die Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): vom Pharmadialog 2016 bis hin zum aktuellen sog. Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) in 2023 [9].
Ausführlich wird in Kapitel 2 des Lieferklima-Reports der TK auf die zunehmend störanfälligen Lieferketten bei Arzneimitteln im patentfreien Markt und die zunehmend störanfälligen Lieferketten hingewiesen, die Generikaherstellern mit einer risikobereiten Strategie Umsatzrendite von durchschnittlich 13%, aber auch Margen von > 30% gewährten. Als sinnvolle Maßnahmen für robustere Lieferketten werden mehr Transparenz über Pharmalieferketten gefordert, aber auch verschärfte Meldepflichten für Pharmahersteller, die Weiterentwicklung von Rabattverträgen sowie die Entwicklung eines Frühwarnsystems für Lieferengpässe (das u.a. von der TK mit der Universität Hamburg derzeit entwickelt wird) sowie der Aufbau von Lagerbeständen und die Förderung der EU-Produktionsstandorte bzw. internationaler Kooperationen. Inwieweit derartige nationale Rahmenbedingungen relevante Auswirkungen auf einen global vernetzten Pharmamarkt haben, bleibt aus Sicht der Autoren allerdings offen. Darüber hinaus wird in diesem Report ein Konzept zur Weiterentwicklung von Lieferverträgen vorgestellt [8].
Die weiterhin zunehmende Zahl der Lieferengpässe und die Tatsache, dass inzwischen auch häufiger versorgungsrelevante Arzneimttel betroffen sind (z.B. solche zur Fiebersenkung bei Kindern: Paracetamol, Ibuprufen; Antibiotika und Arzneimittel zur Behandlung onkologischer Erkrankungen wie Tamoxifen und Calciumfolinat), hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) veranlasst, den in der Überschrift dieses Artikels genannten Referentenentwurf am 14.2.2023 vorzulegen [9]. In diesem Referentenentwurf werden vor dem Hintergrund der zunehmenden Problematik bei patentfreien Arzneimitteln und der globalen Krisen, wie der COVID-19-Pandemie und der Gefährdung einer bedarfsgerechten Versorgung der gesetzlich Versicherten in Deutschland mit lebensnotwendigen Arzneimitteln (z.B. Onkologika, Antibiotika), 7 Lösungsvorschläge genannt. Diese beinhalten:
- Die Pflicht zur mehrmonatigen Lagerhaltung als Kompensation kurzzeitiger Störungen in der Lieferkette oder kurzzeitig gesteigerter Mehrbedarfe bei rabattierten Arzneimitteln;
- Erhöhte Bevorratungspflichten (u.a. auch für Antibiotika) in krankenhausversorgenden Apotheken und Krankenhausapotheken bei Arzneimitteln zur parenteralen Anwendung in der Intensivmedizin;
- Eine Diversifizierung der Lieferketten, um die Versorgung der Bevölkerung vor allem mit Antibiotika und Arzneimitteln zur Behandlung onkologischer Erkrankungen sicherzustellen;
- Die Etablierung eines Frühwarnsystems beim BfArM zur Erkennung drohender versorgungsrelevanter Lieferengpässe bei Arzneimitteln;
- Eine Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln;
- Für anerkannte Reserveantibiotika mit neuen Wirkstoffen die Möglichkeit für pharmazeutische Unternehmen, den bei Markteinführung gewählten Abgabepreis auch über den Zeitraum von 6 Monaten beizubehalten [9].
Von den Krankenhausapothekern wurden die im Referentenentwurf genannten Handlungsfelder, z.B. Aufhebung von Billigstrabattverträgen, Standortstärkung zur Produktion von Arzneistoffen in Europa, vor allem bei Onkologika und Antibiotika, rechtzeitige Erkennung von Versorgungsengpässen und Stärkung des BfArM ausdrücklich begrüßt [4]. Die im Referentenentwurf vorgesehenen Lösungsansätze wurden inzwischen auch von der Bundesärztekammer (BÄK) in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) kommentiert und die geplanten Neuregelungen grundsätzlich als sinnvoll bewertet (10). Nachdrücklich hinterfragt wurde jedoch, dass die infolge der Verlagerung der Arzneimittelproduktion in Drittstaaten erzielte Steigerung der Gewinnmargen pharmazeutischer Unternehmen künftig von dreistelligen Millionenbeträgen zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gestützt werden soll. Kritisiert wurde auch, dass die Frage, inwieweit das BfArM für die Errichtung eines „Frühwarnsystems“ von Lieferengpässen ausreichend qualifiziert ist, nicht hinreichend geprüft wurde, ebenso wenig wie der Plan zur Diversifizierung von Lieferketten. Darüber hinaus sollte aus Sicht der BÄK und AkdÄ verstärkt Augenmerk gelegt werden auf die Sicherstellung der Versorgung mit Antibiotika, und zwar durch Rückverlagerung der Arzneistoffproduktion nach Europa [10].
Vom Spitzenverband der GKV wurde das kurz vor Weihnachten bekanntgewordene Eckpunktepapier zur Vermeidung von Lieferengpässen kritisiert, und zwar unter der Überschrift: „Medikamentengipfel statt Weihnachtsgeschenke für die Pharmaindustrie“ und gefordert, „dass sich rasch alle wichtigen Akteure von der Politik über die Institutionen der Apothekerschaft bis hin zur Pharmaindustrie und den Krankenkassen an einen Tisch setzen sollten“ [11].
Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hält in ihrer Stellungnahme zum Referentenentwurf hinsichtlich der Vermeidung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln weitere Änderungen für notwendig ([12], [13]). Diese beziehen sich vor allem auf die Mehrausgaben für die GKV und den Anstieg der Verordnungskosten der Ärzte aufgrund verschiedener Maßnahmen zur Vorbeugung von Liefer- und Versorgungsengpässen, die erweiterten Austauschmöglichkeiten in Apotheken bei ärztlich verordneten Arzneimitteln und die Diversifizierung der Lieferketten sowie überwiegende Produktion in der EU als zu berücksichtigende Sachverhalte bei der Vereinbarung von Rabattverträgen. Ähnlich wie bei der automatischen Substitution von Biosimilars sei es wichtig, dass eine Rückinformation der verordnenden Ärztinnen und Ärzte bei Austausch von nicht verfügbaren Arzneimitteln durch die Apotheke erfolgt, um Risiken der Arzneimitteltherapiesicherheit zu minimieren.
Die im Referentenentwurf des BMG erwähnten Lösungsansätze wurden inzwischen sowohl vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) als auch dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) in Pressemitteilungen unter der Überschrift „Maßnahmen zur Vermeidung neuer Lieferkettenprobleme erforderlich“ (vfa) bzw. „Hoher Aufwand, wenig Verbesserungen zu erwarten“ (BPI) bewertet und teilweise deutlich kritisiert ([14], [15], [16]).
Der vfa stellt am Anfang seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf zunächst 3 Kernforderungen: Verminderung des Kostendrucks bei Arzneimitteln und Verbesserung der Standortbedingungen, Verbesserung des Lieferengpass-Managements sowie Verbesserung der Erstattungsbedingungen für Reserveantibiotika im stationären Sektor [14]. In der Einleitung zu seiner Stellungnahme begrüßt der vfa zwar, dass mit dem vorliegenden Referentenentwurf unter anderem das Ziel verfolgt wird, durch eine Verbesserung der Erstattungsbedingungen für Generika eine Diversifizierung der Lieferketten zu erreichen und die europäische Produktion zu stärken. Im Folgenden wird dann jedoch kritisiert ein angeblich „zu rigides Sparregime“ bei der Generikaproduktion mit der Konsequenz, dass „pharmazeutische Unternehmen aus dem Markt ausscheiden oder ihre Aktivitäten verlagern müssen“. Aus Sicht des vfa dürfen diese Fehler im Sinne einer „Discounter-Politik nun nicht bei innovativen Arzneimitteln wiederholt werden“. Verschiedene Regelungen des Referentenentwurfs werden kommentiert (z.B. Frühwarnsystem und Informationspflichten; Erstattungspreis von Reserveantibiotika; modifizierte Erstattungsregelung für versorgungskritische Arzneimittel). Bereits im Januar 2023 hatte der vfa in einer Pressemitteilung auf die Störungen in den globalen Lieferketten sowie auf knappe Rohstoffe hingewiesen [15]. Dabei sei Deutschland von den ausbleibenden „Vorleistungslieferungen“ weitaus stärker betroffen gewesen als viele andere Industrieländer, was dazu geführt hätte, dass 85% der Industrieunternehmen in Deutschland von Lieferengpässen betroffen waren gegenüber nur 50% europaweit. Diese Aussage wird allerdings in einem Artikel vom Institut der deutschen Wirtschaft [16] unter dem Titel: „Vorleistungsverflechtungen der deutschen Pharmaindustrie im internationalen Vergleich“ relativiert. Der Artikel weist darauf hin, dass die deutsche Pharmaindustrie ihre pharmazeutischen und chemischen Vorleistungen überwiegend aus dem Inland und aus dem europäischen Ausland bezieht und Vorleistungsbezüge aus China und Indien eine untergeordnete Rolle spielen. Aus Sicht der Autoren kann „somit keine dominierende Abhängigkeit der deutschen Pharmaproduktion von diesen beiden asiatischen Ländern attestiert werden“. Aufgrund der Preise für generische Arzneistoffe und Arzneimittel im Vergleich zu sog. innovativen Produkten wird jedoch trotz des geringen Anteils von China an den Vorleistungsbezügen eine Abhängigkeit bei einzelnen generischen Produkten eingeräumt (16).
Auch der BPI kritisiert in seiner Pressemitteilung den Referentenentwurf als „einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung“ und erwartet keine nennenswerten Verbesserungen der aktuellen Situation, da sich „die geplanten Maßnahmen nur auf sehr kleine Teilbereiche beziehen und Rabattverträge fortbestehen und in der Apotheke Vorfahrt bei der Abgabe haben“ [17]. Der BPI betont in seiner Stellungnahme insbesondere die (niedrigen) durchschnittlichen Erstattungspreise für Generika sowie die abschreckenden Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland und hält zusätzliche Bevorratungs- und Meldepflichten für kontraproduktiv.