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Tranexamsäure bei Schwerverletzten [CME]

Tranexamsäure ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Antifibrinolytika, der durch Komplexbildung mit Plasminogen die Auflösung der Gerinnsel (Fibrinolyse) hemmt ([1], vgl. [2]). Tranexamsäure (Cyklokapron®) ist zur Injektion zugelassen zur Prophylaxe und Behandlung von Blutungen aufgrund einer lokalen oder generalisierten Hyperfibrinolyse, beispielsweise bei gynäkologischen Blutungen, bei Operationen am Thorax und im Bauchraum sowie bei Hals-, Nasen- und Ohrenoperationen. Trotz der breiten Zulassung ist Tranexamsäure kein Allheilmittel für Blutungen aller Art; so ergab beispielsweise die HALT-IT-Studie bei Patienten mit gastrointestinalen Blutungen keinen Nutzen durch Tranexamsäure, jedoch eine Zunahme venöser Thromboembolien im Vergleich zu Plazebo (vgl. [2]).

Bei Schwerverletzten können Blutungen durch eine traumainduzierte Koagulopathie verschlimmert werden. Pathophysiologisch scheint sie besonders verursacht zu sein durch einen Mangel an Gerinnungsfaktoren infolge des Verbrauchs und Verdünnung durch Volumentherapie sowie außerdem durch eine gleichzeitig bestehende Hyperfibrinolyse infolge der durch die Gewebeschädigung ausgelösten Aktivierung von Plasminogen [3]. Einige Studien haben bei schwerverletzten Patienten eine verminderte Sterblichkeit unter Tranexamsäure im Vergleich zu Plazebo gezeigt. So ergab die CRASH-2-Studie eine verminderte 28-Tage-Sterblichkeit bei Patienten, die innerhalb von 3 Stunden nach der Verletzung Tranexamsäure erhielten. In der CRASH-3-Studie bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) zeigte sich eine verminderte Sterblichkeit in der Subgruppe der Patienten mit leichtem bis mittelschwerem SHT, nicht aber bei Patienten mit schwerem SHT (vgl. [4]). Die Ergebnisse insbesondere der CRASH-2-Studie sind Grundlage für die Empfehlung der deutschen S3-Leitlinie für eine möglichst frühzeitige/prähospitale Anwendung von Tranexamsäure bei schwerverletzten Patienten mit lebensbedrohlichen Blutungen und/oder im Schock sowie bei nachgewiesener Hyperfibrinolyse [5]. Ausdrücklich wird in der Leitlinie auch darauf hingewiesen, dass Tranexamsäure bei Fehlen einer Hyperfibrinolyse schädlich ist und nicht automatisch bei jedem Verletzten angewendet werden sollte.

Die CRASH-Studien wurden in vielen Ländern mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen durchgeführt, deren Ressourcen teils begrenzt sind, sodass die Generalisierbarkeit der Ergebnisse in Frage gestellt wird. Außerdem fehlten Daten zu langfristigen Ergebnissen über die ersten 4 Wochen hinaus und zu funktionellen Ergebnissen. Die Studie PATCH-Trauma adressiert diese Fragen; ihre Ergebnisse wurden aktuell im N. Engl. J. Med. veröffentlicht [6]. Untersucht wurde, ob die prähospitale Anwendung von Tranexamsäure bei schwerverletzten Patientinnen und Patienten die Wahrscheinlichkeit für ein Überleben mit einem günstigen funktionellen Ergebnis erhöht. Sie wurde in Ländern mit einer hochentwickelten Notfallversorgung durchgeführt (Australien, Neuseeland, Deutschland) und aus staatlichen Mitteln der drei Länder gemeinsam finanziert.

Insgesamt 1.310 Schwerverletzte mit einem Risiko für eine Koagulopathie wurden von 15 notfallmedizinischen Einrichtungen rekrutiert und randomisiert mit Tranexamsäure (1 g i.v. als Bolus prähospital, gefolgt von 1 g i.v. als Infusion über 8 Stunden nach Ankunft im Krankenhaus; n = 661) oder Plazebo (n = 646) innerhalb von 3 Stunden nach dem Trauma behandelt. Das Risiko für eine Koagulopathie wurde mit dem „Coagulopathy Of Severe Trauma“ (= COAST)-Score beurteilt, der von 0 bis 7 reicht. Mit je einem Punkt werden bewertet: Einklemmung in einem Fahrzeug, systolischer Blutdruck < 100 mm Hg, Köpertemperatur < 35°C, V.a. Pneumothorax, V.a. auf Bauch-/Beckenverletzung; zusätzliche Punkte werden für systolischen Blutdruck < 90 mm Hg und Körpertemperatur < 32°C vergeben. Bei einem Punktwert ≥ 3 wird ein hohes Risiko für eine Koagulopathie angenommen. Primärer Endpunkt der Studie war das Überleben mit einem günstigen funktionellen Ergebnis nach 6 Monaten. Das funktionelle Ergebnis wurde mit dem „Glasgow Outcome Scale-Extended“ (= GOS-E) bewertet, der von 1 Punkt (Tod) bis 8 Punkten (gute Erholung; keine verletzungsbedingte Beeinträchtigung) reicht. Als günstiges Ergebnis wurde ein GOS-E-Wert von 5 Punkten (geringe moderate Beeinträchtigung) oder besser gewertet.

Die Patienten waren im Durchschnitt 44 Jahre alt, und ca. 70% waren Männer. Bei ca. 24% ergaben sich im Labor Hinweise für eine Koagulopathie. Die Teilnehmer waren sehr schwer verletzt (hoher „Median Injury Severity Score“), bei ca. 92% durch ein stumpfes Trauma. Bei ungefähr einem Drittel der Teilnehmer war der GCS < 9.

Nach 28 Tagen zeigte sich, ähnlich wie in der CRASH-2-Studie, eine niedrigere Sterblichkeit unter Tranexamsäure im Vergleich zu Plazebo (17,3% vs. 21,8%; Hazard Ratio = HR: 0,79; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,63-0,99). Nach 6 Monaten war dieser Vorteil jedoch nicht mehr nachweisbar (19,0% vs. 22,9%; HR: 0,83; CI 0,67-1,03). Zum primären Endpunkt, dem Überleben mit einem günstigen funktionellen Ergebnis nach 6 Monaten, lagen Daten von 1.131 Patientinnen und Patienten vor. Tranexamsäure- und Plazebo-Gruppe unterschieden sich auch bei diesem Endpunkt nicht (53,7% vs. 53,5%; HR: 1,00; CI: 0,90-1,12; p = 0,95). Der größte Unterschied zwischen den Gruppen nach 6 Monaten bestand darin, dass es in der Tranexamsäure-Gruppe weniger Todesfälle (GOS-E 1) als in der Plazebo-Gruppe gab, dafür mehr Patienten mit einem schlechten funktionellen Ergebnis (insbesondere GOS-E 3 = sehr schwere Beeinträchtigung; ist bei der Pflege auf andere angewiesen). In der Studie waren bei jeweils 100 Patienten, die Tranexamsäure statt Plazebo erhalten hatten, nach 6 Monaten ungefähr 4 zusätzlich am Leben, aber ungefähr 4 waren auch zusätzlich schwer beeinträchtigt. Eine Blutung als Todesursache wurde unter Tranexamsäure bei 36/123 (29,3%) Patientinnen und Patienten angegeben und bei 52/144 (36,1%) unter Plazebo (HR: 0,66; CI: 0,43-1,01). Hinsichtlich schwerwiegender unerwünschter Ereignisse unterschieden sich die Gruppen nicht, einschließlich thromboembolischer Ereignisse.

Zu den Schwächen der Studie gehört, dass mit 13% relativ viele Patientinnen und Patienten in der Nachbeobachtung verloren gingen („loss to follow up“). Die für die Studie verantwortlichen Ärzte versuchten dies zu kompensierten, indem sie die geplante Studienpopulation von 1.184 auf 1.316 Personen vergrößerten. Außerdem kam es bei ungefähr einem Drittel der Studienteilnehmer zu Protokollabweichungen, so erhielten 17% der Patienten statt Plazebo Tranexamsäure und 21% keine zweite Dosis. Die „Per-protocol“- und „Intention-to-treat“-Analysen ergaben aber ähnliche Ergebnisse.

Ein Kommentar zur Studie weist daraufhin, dass nach einem schweren Trauma Verbesserungen im funktionellen Status auch über einen Zeitraum von 6 Monaten hinaus noch möglich sind [7]. Außerdem werden Studienergebnisse dargelegt, nach denen Patientinnen und Patienten trotz schwerer funktioneller Beeinträchtigung nach einem Trauma über eine normale gesundheitsbezogene Lebensqualität berichtet haben.

Fazit

Eine randomisierte Studie in Ländern mit einer hochwertigen Notfallversorgung zeigt, dass die prähospitale Anwendung von Tranexamsäure bei Schwerverletzten mit einem Risiko für eine Koagulopathie mit einer verringerten Sterblichkeit in den ersten Wochen assoziiert ist. Nach 6 Monaten war durch Tranexamsäure jedoch kein Vorteil im Überleben mit guten funktionellen Ergebnissen mehr nachweisbar.

Literatur

  1. Fachinformation Cyklokapron®-Injektionslösung, Stand Mai 2023. (Link zur Quelle)
  2. HALT-IT Trial Collaborators (Haemorrhage ALleviation with Tranexamic acid-Intestinal sysTem): Lancet 2020, 395, 1927. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7306161/. Vgl. AMB 2020, 54, 90a. (Link zur Quelle)
  3. Maegele, M.: Dtsch. Arztebl. Int. 2019, 116, 799. (Link zur Quelle)
  4. CRASH-3 Collaborators (Clinical Randomisation of an Antifibrinolytic in Significant Haemorrhage-3): Lancet 2019, 394, 1713. https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(19)32233-0/fulltext. Vgl. AMB 2019, 53, 94b. (Link zur Quelle)
  5. https://register.awmf.org/assets/guidelines/187-023l_S3_Polytrauma-Schwerverletzten-Behandlung_2023-06.pdf (Link zur Quelle)
  6. Gruen, R., et al. (PATCH Trauma = Pre-hospital Anti-fibrinolytics for Traumatic Coagulopathy and Haemorrhage): N. Engl. J. Med. 2023, 389, 127. (Link zur Quelle)
  7. Shakur-Still, H., und Roberts, I.: N. Engl. J. Med. 2023, 389, 181. (Link zur Quelle)