Kaum ein Medikament in der Inneren Medizin dürfte klarer etabliert und akzeptiert sein als Nitroglycerin-Spray zur Erstbehandlung bei akuter und chronisch stabiler Angina pectoris. In der Notfallversorgung gilt eine rasche Linderung von Brustschmerzen nach Nitro-Spray zudem als wichtiger differenzialdiagnostischer Hinweis auf eine Koronare Herzerkrankung. Entsprechend hat die Nitrosensibilität auch als diagnostisches und prognostisches Kriterium Eingang gefunden in viele Protokolle und Algorithmen zur Differenzialdiagnose des Brustschmerzes. Bekannt ist jedoch auch, daß Nitroglycerin bei symptomatischer Behandlung nicht-kardialer Brustschmerzen, so z.B. bei Ösophagusspasmen wirksam ist. Erstaunlicherweise ist der diagnostische Wert der Nitrogabe in der Notfallsituation bisher nie prospektiv untersucht worden. Von großem klinischem Wert ist daher eine von C.A. Henrikson et al. von der Johns-Hopkins-Universität vorgelegte Studie zu dieser Frage (1). Für die Studie wurden fünf Monate lang sämtliche konsekutive Patienten mit der Aufnahmediagnose Brustschmerz oder Ausschluß Myokardinfarkt gesichtet. Eingeschlossen wurden 459 Patienten. Als nitrosensibel wurde eine mindestens 50%ige Schmerzlinderung innerhalb von fünf Minuten nach einmaliger Gabe von 0,4 mg Nitroglycerin als Spray oder Kapsel definiert. Der initialen Schmerzbewertung und Dokumentation folgte eine Stufendiagnostik. Die Diagnose Koronare Herzkrankheit wurde bei erhöhtem T-Troponin, der nachfolgenden Sicherung einer KHK in der Koronarangiographie oder bei positivem Belastungstest gestellt. Die Nachbeobachtung betrug vier Monate.
Die Ergebnisse waren überraschend: Nitroglycerin führte bei 39% aller Patienten (181 von 459) zu einer deutlichen Linderung des Schmerzes. Die Schmerzen der Patienten mit Koronarischämie waren bei 35% der Patienten (49 von 141) nitrosensibel, die Schmerzen der Patienten mit Ausschluß einer Koronarischämie bei 41% (113 von 275). Auch in der Subgruppe von KHK-Patienten, bei denen ein Myokardinfarkt oder eine hochgradige, fixierte Koronarstenose ausgeschlossen werden konnte, zeigte sich eine Wirksamkeit bei 40%. Entsprechend errechnete sich die geringe Sensitivität für den Nitro-Test von 35% und eine Spezifität von nur 56%. In der viermonatigen Nachbeobachtungsphase zeigte sich kein Unterschied zwischen nitrosensiblen oder -refraktären Subgruppen hinsichtlich Letalität und späteren Koronarinterventionen oder Myokardinfarkten; folglich hatte der Nitro-Test auch keine prognostische Aussagekraft.
In einem begleitenden Editorial fragt R.J. Gibbons von der Mayo-Klinik: „Nitroglycerin: should we still ask?” (2). Er erläutert die Schwierigkeiten der klaren Diagnosezuordnung und der Ausschlußkriterien in der Studie. So wurde z.B. die Verfahrensweise bei Patienten mit Myokardinfarkt in dieser Publikation nicht eindeutig beschrieben. Gibbons verweist außerdem auf klinische Situationen, in denen das Kriterium Nitrosensibilität nach wie vor seinen festen Platz haben sollte: so etwa bei der chronisch stabilen Angina pectoris oder bei refraktären Brustschmerzen trotz maximaler antiischämischer Therapie (mit i.v. Nitro) für die Entscheidung zu früher interventioneller Strategie. Er vertritt aber die Meinung, daß der Nitrotest in der Diagnostik der Angina pectoris in der Notaufnahme des Krankenhauses wahrscheinlich wenig hilfreich ist.
Fazit: Bei Patienten, die sich in der Notaufnahme mit unklaren Brustschmerzen vorstellen, ist nach dieser Studie die Linderung nach Gabe von Nitroglycerin diagnostisch nicht spezifisch für eine ursächliche Koronare Herzkrankheit.
Literatur
- Henrikson, C.A., et al.: Ann. Intern. Med. 2003, 139, 979.
- Gibbons, R.J.: Ann. Intern. Med. 2003, 139, 1036.